Unser blinder Fleck

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Hitze und Dürre des Sommers liegen hinter uns – ein Vorgeschmack auf den Klimawandel, den wir rund um den Globus verursachen. Für Dominic Roser wirft das schwerwiegende und ungewohnte Gerechtigkeitsfragen auf.

Wir Christen und der Klimawandel

Wurde Ihnen schon einmal Unrecht angetan, ohne dass der Täter sein Fehlverhalten bemerkte? Mancher hat einen blinden Fleck, so dass ihm ein begangenes Unrecht gar nicht auffällt. Einen solchen blinden Fleck deckte der Prophet Nathan bei König David auf. Er erzählte ihm von einem armen Mann, der ein einziges Lamm besass. Der Mann liebte das Lamm so sehr, dass es nachts sogar in seinen Armen schlafen durfte. Als ein reicher Mann für einen Besuch kochen musste, reute es ihn, ein Tier seiner eigenen grossen Herde zu schlachten. Deshalb stahl er das Lamm des Armen.

David fuhr bei der Geschichte empört auf. Nathan sagte ihm trocken, dass er selbst jener Mann sei. Damit erinnerte er David an das Unrecht, das dieser selbst begangen hatte, als er mit Bathseba fremd ging und ihren Mann auf dem Schlachtfeld umkommen liess (2. Samuel 11,2-12,15). Der Vergleich öffnete dem König die Augen.

Warum das Gespür für Unrecht im Umweltbereich fehlt

So wie David haben auch wir einen blinden Fleck gegenüber einer grossen Ungerechtigkeit: die Umweltschäden, die wir mitverantworten. Selbst wohlhabend, stehlen wir durch umweltschädigendes Verhalten armen Bauern ihr Lamm – doch die Ungerechtigkeit bleibt verborgen. Es fühlt sich im täglichen Leben nicht so an, als würden beispielsweise Abgase einer Autofahrt jemanden bestehlen!

Der blinde Fleck muss uns nicht wundern. Denn dieses Unrecht ist anders als jede herkömmliche Ungerechtigkeit. Wo liegen die Unterschiede? Vergleichen wir Nathans reichen Mann mit uns selbst. Es gibt nämlich «gute» Gründe, weshalb uns der reiche Mann mehr empört als unsere Autofahrt:

  • Wenn wir Auto fahren, dann stossen wir Treibhausgase aus und heizen damit den Klimawandel an. Deswegen kommt später eine Dürre über Indien und die Ziege des Bauern stirbt. Unsere Autofahrten rauben dem Bauern, was er zum Leben braucht. Doch dies geschieht sehr indirekt, via komplexe chemische Prozesse in der Erdatmosphäre, die sich unserem Vorstellungsvermögen entziehen.
  • Wenn wir Auto fahren, kommen die schädlichen Klimawirkungen erst Jahrzehnte später voll zum Vorschein – und meist im fernen Ausland. Wir sehen es nicht mit eigenen Augen vor uns und das berührt unser Herz viel weniger.
  • Nathans reicher Mann hat böswillig gehandelt. Wir hingegen fahren nicht mit schlechter Absicht Auto. Das tote Tier ist ein unerwünschter Nebeneffekt davon.
  • In Nathans Geschichte gab es einen Täter. Man kann klar mit dem Finger auf jemand zeigen. Beim Klimawandel hingegen sind es Millionen Täter, die gemeinsam die Lebensgrundlagen von Millionen Opfern zerstören.

Drei Ebenen der Umweltgerechtigkeit

Das Fazit: Auf so etwas wie Umweltschäden ist unser Gerechtigkeitsempfinden nicht ausgerichtet. Unser Gespür ist derart weitreichende Folgen alltäglichen Handelns nicht gewohnt. Aber: Bedeuten denn die Umweltschäden aufgrund unseres Lebensstils wirklich so viel Ungerechtigkeit? Die Antwort ist leider ja.

Umweltgerechtigkeit hat drei Ebenen: gegenüber künftigen Generationen, gegenüber unseren Mitmenschen im Süden und gegenüber den Tieren.

  • Gegenwart-Zukunft: Gott hat diesen wunderbaren Planeten nicht geschaffen, damit wir eine Party feiern und das Aufräumen unseren Nachkommen überlassen. Wie Wanderer in einer Berghütte übernachten und sie am Morgen für die nächsten Besucher sauber herrichten, wollen wir die Erde als Lebensgrundlage an kommende Generationen weiterreichen.
  • Nord-Süd: Die Industrialisierung hat uns in den letzten zwei Jahrhunderten den Weg aus der Armut ermöglicht. Nun sollte der Süden einen Weg aus der Armut finden, der nicht noch mehr Umweltschäden hervorbringt. Wenn die Länder des Südens sich auf dieselbe Weise entwickeln wie wir in Europa, droht ein globaler Umweltkollaps. Wenn sie aber im Gegensatz zu uns einen saubereren Entwicklungspfad wählen sollen, dann sind wir für die Finanzierung dieses Pfads gefordert. Konkret: Wir müssen ihnen ermöglichen, mit erneuerbarer Energie der Armut zu entkommen. In meinen Augen ist das der wichtigste und am meisten unterschätzte Aspekt der Umweltgerechtigkeit.
    Weshalb ist es ausgerechnet unsere Aufgabe, dem Süden einen sauberen Weg aus der Armut zu ermöglichen? Ein erster Grund ist, dass wir die finanziellen Ressourcen dazu haben. Gemäss Paulus soll der Überfluss der einen dem Mangel der anderen abhelfen (2. Korinther 8). Ein zweiter Grund ist, dass die Armut im Weltsüden teilweise auf unser Konto geht. Natürlich hat die Armut auch hausgemachte Wurzeln wie Korruption oder Clan-Denken. Aber andere wichtige Wurzeln liegen bei uns: So hat zum Beispiel unsere Industrialisierung schlimme Umweltschäden im Süden zur Folge – sogar mehr als bei uns selbst.
  • Mensch-Tier: Manchen Christen fällt ein Zacken aus der Krone, wenn man sie darauf hinweist, dass wir Gottes Liebe nicht für uns alleine haben, sondern sie mit den Tieren teilen. Dabei ist das doch wunderschön! Gott kümmert sich um den kleinsten Spatz. Wenn unser Schöpfer die Tiere liebt, dürfen wir sie mit unserem Lebensstil nicht einfach überfahren.

Was kann ich tun?

Machen wir uns bewusst: Wollten alle Menschen so leben wie wir Schweizer, dann bräuchte es die Ressourcen mehrerer Erden. Dies ist nicht recht. Und das muss nicht sein! Es gibt einen anderen Weg – wenn wir Ja dazu sagen.

Dieser Weg sieht grob umrissen so aus: Wir können beginnen, an einem bescheideneren Lebensstil Freude zu haben. Das nützt nicht nur der Umwelt, sondern hilft auch unserem eigenen Wohlbefinden. Wir dürfen und sollen für Menschen und Tiere beten, die unter den Folgen unseres Lebensstils leiden, und den Schöpfer um die volle Genesung dieses Planeten bitten. Schliesslich liegt es an uns, in diesen Wochen Politikerinnen und Politiker zu wählen, die die Umweltpolitik deutlich stärken.

Die Politik wird im komplexen Feld der Umweltgerechtigkeit die Hauptrolle spielen müssen. Es sind dabei nicht einmal die Umweltschutzmassnahmen im eigenen Land, die am vordringlichsten sind. Noch wichtiger ist, dass wir saubere Technologien fördern und sie mit dem Weltsüden teilen. Nur so kann das ebenso ambitionierte wie unumgängliche Ziel erreicht werden: dass unsere Geschwister rund um den Globus der Armut entfliehen können, ohne dass dabei die Umwelt zerstört wird.


Dominic Roser forscht zum Thema Umweltgerechtigkeit an der Universität Oxford. In der Schweiz engagiert er sich bei ChristNet für eine Politik der Nächstenliebe.

Zuerst erschienen in: Wort+Wärch, Oktober 2015. egw.ch/wortwaerch

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