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Flüchtlinge – Fakten statt Vorurteile

Unwissenheit bildet fruchtbaren Nährboden für Vorurteile. Diese Broschüre will vorgefassten Meinungen zum Schweizer Asylwesen mit Fakten entgegentreten. Wir möchten Sie alle dazu anregen, gegenüber den zuweilen lückenhaften Informationen zur Flüchtlingssituation kritisch zu bleiben. Geben Sie Intoleranz, die auf Stereotypen gründet, keine Chance.
Die Broschüre kann hier bestellt werden (Online-Formular).

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Am 9. Juni 2013 stimmen wir über die sogenannt dringlichen Änderungen des Asylgesetzes ab, die seit Ende 2012 in Kraft sind. Die Befürworter dieser Änderungen betonen, es handle sich dabei um Verbesserungen, die zur Beschleunigung der Asylverfahren führten, und keineswegs um Verschärfungen.1 Wirklich? Bei einer genaueren Betrachtung stellen sich so einige Fragen.

Kein Schutz bei Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung und Desertion

«Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden», 2  sind vom Asyl ausgeschlossen.

Anti-Eritreer-Bestimmung

Diese Bestimmung richtet sich in erster Linie gegen Asylsuchende aus Eritrea, die bisher relativ oft Asyl erhalten haben. Dazu ist es vielleicht nützlich zu wissen, dass in Eritrea eine brutale Diktatur herrscht, die das Land völlig militarisiert hat. Unter dem Vorwand des Kriegszustands mit seinen Nachbarn müssen – mit wenigen Ausnahmen – alle Bürger zwischen 18 und 50 Jahren entweder Militärdienst oder militärisch organisierten Arbeitsdienst leisten, dessen Dauer ungewiss und fast unbeschränkt ist (es wird wiederholt mobilisiert, aber nur vereinzelt demobilisiert). Wer sich dem entziehen will, gilt als Staatsfeind und muss mit extrem brutaler Haft rechnen: Folter, Hunger, unmenschliche Haftbedingungen; das Ganze natürlich ohne Gerichtsverfahren. Viele Häftlinge überleben das nicht.3

Es ändert sich nichts?

Es wird von Seiten der Befürworter argumentiert, in der Praxis ändere sich für eritreische Dienstverweigerer nicht viel: Wer unverhältnismässigen Strafen ausgesetzt sei, erhalte weiterhin Asyl.4 Was das genau heisst, ist allerdings unklar. Wenn Dienstverweigerung beispielsweise nur noch zu vorläufigen Aufnahmen5 führt, haben die Schutzsuchenden gegenüber gesetzlich anerkannten Flüchtlingen schlechtere Perspektiven und vor allem eine grosse Ungewissheit, was in Zukunft sein wird.6 Wenn sich hingegen so gut wie nichts ändert, ist fraglich, warum denn das Gesetz geändert werden musste.

Besonders gravierend erscheint an dieser Bestimmung, dass erstmals nicht «nur» die Verfahrensschraube angezogen wird. Hier geht es ganz konkret darum, die Asylgründe einzuschränken. Die Parlamentsmehrheit will also nicht einfach «Profiteuren» aussortieren, um die «echten» Flüchtlinge besser zu schützen. Gerade Menschen, die ganz konkret denselben Schutz in Anspruch nehmen wollen, den auch wir geniessen7 , werden hier vom Asyl ausgeschlossen.

Das Ende der Botschaftsgesuche

Botschaftsgesuche8 waren bis anhin gerade für Menschen, die nicht über die Mittel oder die körperliche Verfassung verfügten, sich illegal auf die gefahrvolle Reise nach Europa zu machen – also gerade für Frauen und Kinder – eine Möglichkeit, trotz allem Schutz zu erhalten. Zwar heisst es vonseiten der Befürworter, akut an Leib und Leben bedrohte Personen könnten ein humanitäres Visum beantragen, was vom EDA in Rücksprache mit dem Bundesamt für Migration geprüft werde.9 Doch wie will man beurteilen, ob jemand darauf Anspruch hat, ohne die Fluchtgründe zu prüfen? Läuft das de facto nicht auf ein ähnlich aufwändiges Verfahren hinaus, wie es die eigentliche Behandlung der Gesuche wäre? Oder soll dieses «humanitäre Visum» so restriktiv gehandhabt werden, dass auch tatsächlich Verfolgte keine Chance haben?

Neunzig Prozent Aufnahmen

Übrigens: Seit 1980 erhielten über 90% aller Personen, die im Rahmen des Botschaftsasyls in die Schweiz einreisten und deren Verfahren abgeschlossen ist, ein Aufenthaltsrecht (Asyl oder vorläufige Aufnahme).10 Auch hier bleibt der Eindruck, dass es bei dieser Gesetzesrevision nicht um eine Verfahrensbeschleunigung, sondern um einen Asylabbau geht.

Auch das Argument, kein anderes Land habe ein Botschaftsverfahren, zieht nicht. Nicht was die anderen tun, soll unser Handeln bestimmen, sondern was richtig ist. Dazu sagt Jesus: «Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan…» (Matth. 25)

Asylverfahren im Rahmen von Testphasen

Bei dieser Bestimmung mag es zwar verständlich sein, dass das zuständige Amt neue Verfahrensabläufe zuerst testen will.11 Doch ist unklar, was diese Vollmacht umfasst, die das Parlament dem Bundesrat ausstellt: Immerhin wird dieser ausdrücklich ermächtigt, in der zweijährigen Testphase, wenn nötig, vom geltenden Asyl- und Ausländergesetz abzuweichen.12 Ist dieses Sonderrecht ein Blankoscheck für «wilde» Experimente? Ist wenigstens vorgesehen, dass eine unabhängige Stelle Einblick hat oder weiss man zwei Jahre lang nicht, was läuft? Die Befürchtung ist naheliegend, dass die so geschaffenen juristischen Sachverhalte kaum rückgängig zu machen sind.13

Verkürzte Beschwerdefristen

Einen schweren Eingriff in die Rechte der Asylsuchenden bedeutet zudem die Verkürzung der Beschwerdefrist um zwei Drittel von 30 auf 10 Tage. In keinem anderen Rechtsbereich gibt es für so wichtige behördliche Verfügungen so kurze Rekurszeiten. Was für den Normalschweizer offenbar als unzumutbar erachtet wird, setzt die oft unter Stress und traumatisiert ankommenden Asylbewerber unter zusätzlichen Druck. An der Dauer der Asylverfahren ändert es nicht viel. Diese Regelung findet in der Testphase zwar nur in ordentlichen Verfahren Anwendung, bei denen keine weiteren Abklärungen notwendig sind. Doch es zu befürchten, dass bürgerliche Politiker diese verkürzte Frist später auch auf weitere Verfahren ausdehnen wollen.

Fazit

Dass einzelne der vorgeschlagenen Bestimmungen dazu beitragen, die Verfahren zu verkürzen, mag sein. Der Gesetzes- bzw. Abstimmungstext lässt allerdings viele Fragen offen. Man wird den Eindruck nicht los, dass da einige handfeste Verschärfungen durchgedrückt wurden, um der wahrgenommenen «Stimmung» in der Bevölkerung zu entsprechen.

In einem so sensiblen Bereich, wo über menschliche Schicksale entschieden wird, geht das nicht. Seit dem Inkrafttreten des Asylgesetzes 1981 werden in rascher Folge Verschärfungen beschlossen, die die Rechte der Schwächsten in der Gesellschaft einschränken und ihre Chancen auf ein menschenwürdiges Leben schmälern. Und weitere Änderungen (Verschärfungen) sind bereits geplant!

Der Kontrast zum Gott der Bibel, der Fremde liebt und ihre Rechte und Würde wiederholt im Gesetz für Israel festschreiben liess, könnte kaum grösser sein.14 Niemand behauptet, im Asylbereich stehe alles zum Besten, aber gerade wir Christen sollten für andere mögliche Lösungen aufstehen. Deshalb: Nein am 9. Juni 2013.

 


1. Argumentarium Pro (Zusammenstellung der Parlamentsdienste); http://www.parlament.ch/d/dokumentation/dossiers/asylgesetz/Seiten/asylgesetz-referendum.aspx

2. Art. 3, Abs. 3 Asylgesetz (neu).

3. Human Rights Watch: Service for Life. New York 2009. http://www.hrw.org/reports/2009/04/16/service-life-0

4. Argumentarium Pro, s. oben

5. Eine vorläufige Aufnahme bedeutet, dass der Asylentscheid zwar negativ ist, die Wegweisung aber zur Zeit nicht zulässig, nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Die vorläufige Aufnahme kann aufgehoben werden, wenn sich die Lage im Herkunftsland wesentlich ändert. http://www.bfm.admin.ch/content/bfm/de/home/themen/asyl/asylverfahren/drei_bespiele/entscheid.html , „Fall B“

7. Wir wollen nicht vergessen, dass bis 1996 auch in der Schweiz kein Zivildienst bestand, und jährlich mehrere Hundert Dienstverweigerer zu mehreren Monaten Gefängnis verknurrt wurden. Vgl. bernerzeitung.ch/schweiz/standard/Verweigerer-bleiben-Geaechtete/story/19652243

8. Art. 19, Abs. 2 Asylgesetz (aufgehoben).

9. Argumentarium Pro, s. oben;  Abstimmungsbüchlein S.19

11. Art 112b Asylgesetz (neu): Asylverfahren im Rahmen von Testphasen

12. Art 112b Abs 2 AsylG

14. Z.B. 5. Mose 5,18; 5. Mose 23,16. Weitere Gedanken zum biblischen Umgang mit den Ausländern unter folgendem Link: www.christnet.ch/de/content/der-unbequeme-n%C3%A4chste

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Asylgesetz seit 30 Jahren auf Verschärfungskurs

Seit der Einführung des (damals fortschrittlichen) Asylgesetzes 1981 wurde es 10-mal revidiert (Teil- oder Totalrevision). Bei keinem anderen Bundesgesetz zeigt sich das Parlament so veränderungsfreudig. Tendenz: Verschärfung. Hier ein kurzer Abriss.1

1981 Inkrafttreten des Asylgesetzes von 1979.
1983 Abschaffung der 2. Rekursinstanz.
  Ausschaffungsentscheid bei abgewiesenem Asylgesuch.
1986 Registrierung landesweit zentralisiert in Halbhaft.
  Zuweisung an Kanton ohne Rücksicht auf soziales Umfeld.
  Sozialhilfe tiefer als sonst übliches Existenzminimum.
1990 Erste Bestimmungen zu Nichteintretensentscheiden.
  Arbeitsverbot während 3-6 Monaten.
1993 Bis zu 9 Monaten administrative Ausschaffungshaft (Gesetz über Zwangsmassnahmen)
1995 Kürzung der Sozialhilfe (Verordnung des Bundesrats, kantonale Reglemente)
1998 Dringlicher Bundesbeschluss mit zusätzlichen Gründen für Nichteintretensentscheide.
1998 Totalrevision Asylgesetz, u.a.:
  – Aussetzung gewisser Asylanträge bei Grossandrang.
  – Verschärfung der Verfahrensregeln (Fristen, Sprache usw.)
2003 Für Abgewiesene nur noch Nothilfe (CHF 8.00 bis 10.00 pro Tag; Sparmassnahmen)
2006 Fristverkürzung auf 5 Tage für gewisse Fälle
  Inhaftierung von bis zu 2 Jahren möglich.
2012 Militärdienstverweigerer und Deserteure von Asyl ausgeschlossen.
  Botschaftsverfahren abgeschafft.
  Quasi-Inhaftierung für «renitente» Asylbewerber.
… plus in Zukunft viele andere mehr…


1. Quelle: «Stop Exclusion» Genf, 2013, aus dem Französischen übersetzt: stopexclusion.ch/IMG/pdf/halte_aux_durcissements_sans_fin.pdf

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Wie ist die Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalität zu erklären?

Dieser Artikel ist am 28 September in „Vivre Ensemble“ erschienen (André Kuhn | Comment s’explique la surreprésentation des étrangers dans la criminalité, VE 139/septembre 2012). Deutsche Übersetzung von Nadine Buchmann 

Im vorliegenden Artikel soll versucht werden, auf einfache Weise aufzuzeigen, wie sehr die Verwendung von bivariaten Statistiken irreführend sein kann. So können diese sogar den Eindruck erwecken, dass die Farbe des Passes einen Einfluss auf die Straffälligkeit haben könnte, auch wenn dem keineswegs so ist.

I. Einführung: In Sachen Kriminalität ist es bei der Staatsangehörigkeit wie bei der Körpergrösse

Wie Leser dieses Beitrags wahrscheinlich schon gehört haben, begehen Erwachsene, die grösser sind als 1,75m mehr Straftaten als diejenigen, die weniger als 1,75m messen… Dies ist eine kriminologische Erkenntnis, deren Grund ganz einfach darin liegt, dass die erwachsene Bevölkerung mit einer Körpergrösse von mehr als 1,75m hauptsächlich von Männern gebildet wird, während unter Erwachsenen, die weniger als 1,75m messen, Frauen stark überrepräsentiert sind. Wenn man dazu noch weiss, dass Männer öfter als Frauen Straftaten begehen, ist es logisch, dass die grösseren Erwachsenen den Löwenanteil der Straftaten begehen. Dennoch wird jeder leicht verstehen, dass diese Überrepräsentation von grossen Leuten in den Kriminalstatistiken ganz offensichtlich nichts mit ihrer  Grösse, sondern mit ihrem Geschlecht zu tun hat. Niemand würde folglich einen Einfluss auf dieWachstumshormone oder das Abschneiden der Beine zur Prävention der Kriminalität befürworten…

Aber wenn diese Argumentation doch so schlüssig ist, warum sind so viele Menschen nicht imstande ihr entsprechend zu folgen, wenn es um die Beteiligung der Ausländer an der Kriminalität geht?

Genauso wie für Erwachsene, die mehr als 1,75m messen, ist es sehr einfach aufzuzeigen, dass Ausländer in der Kriminalität überrepräsentiert sind. Ausländer stellen etwa 20% der Bevölkerung der Schweiz, aber rund 50% der durch ein Schweizer Gericht verurteilten Personen dar1 . Gleich wie für die Erwachsenen von mehr als 1,75m ist es jedoch relativ leicht, aufzuzeigen, dass andere Elemente als die Staatsangehörigkeit die Straffälligkeit beeinflussen. 

II. Die wichtigsten Faktoren, die die Kriminalität beeinflussen

Wenn man weiss, dass die Überrepräsentation von Einwanderern in den Kriminalitätsstatistiken ein universelles Phänomen ist – das daher in allen Staaten zu beobachten ist – wird klar, dass sich die Problematik nicht auf die Farbe des Passes reduzieren lässt! Welches sind jedoch die bestimmenden Faktoren? Wie in der Einleitung erwähnt, ist das Geschlecht eine der wichtigsten erklärenden Variablen. Tatsächlich stehen einer ausgeglichenen Vertretung von Männern und Frauen in der Bevölkerung rund 85% Männer in der Strafurteilsstatistik der Schweiz und nur 15% Frauen gegenüber.

Eine andere wichtige Variable zur Erklärung der Kriminalität ist das Alter. Bei einem Anteil von etwa 30% an der Bevölkerung stellen Menschen unter 30 Jahren in der Schweiz ca. 50% der Strafurteilsstatistik dar.

Damit hängen die innerhalb eines Staates begangenen Straftaten auch stark von der demographischen Zusammensetzung der Bevölkerung ab. Tatsächlich zeigt sich, dass ein höherer Anteil an Menschen, deren Geschlecht und Alter kriminogener ist (d.h. Männer und junge Leute), mehr Kriminalität zur Folge hat.

Dazu kommt noch der sozioökonomische Status, da aus den neuesten Untersuchungen hervorgeht, dass etwa 60% der Straftaten auf das Konto der ca. 37% der Einwohner in der Schweizgehen, die der Unterschicht oder unteren Mittelschicht angehören. Die gemäss Umfragen 63% der Bevölkerung aus der oberen Mittelschicht und Oberschicht hingegen begehen ihrerseits etwa 40% der Straftaten2 .

Gleiches gilt für den Ausbildungsstand. So verfügt die Hälfte unserer Bevölkerung über einen « niedrigen » Ausbildungsstand (Primar- oder Sekundarniveau, Berufsfachschule, Lehre), während diese Leute rund 68% der inhaftierten Personen ausmachen3 .

III. Multivariates Modell

Was wir in den letzten beiden Abschnitten hergeleitet haben, zeigt, dass die Straffälligkeit bivariat mit mehreren Faktoren verknüpft ist. Aber dies bringt uns nicht viel weiter, da Straftaten anscheinend vor allem von grossen Leuten, von Ausländern, von jungen Menschen, von Männern, von Armen und/oder von weniger gut Ausgebildeten begangen werden. Von da ausgehend wird jeder seine Schlüsse ziehen, und zwar nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, sehr wohl aber auf der Grundlage seiner politischen Ausrichtung. Mit anderen Worten sagen uns diese bivariaten Korrelationen nicht viel – um nicht zu sagen gar nichts – über die Straffälligkeit. Wir werden im Folgenden daher versuchen, die Analyse zu verfeinern, um das Argument ein wenig wissenschaftlicher zu gestalten.

Wie wir bereits gesehen haben, hat die Grösse als solche keinen Einfluss auf die Straffälligkeit, sondern ist vollständig in die Variable des Geschlechtes eingebunden. Wir müssen nun noch die Gewichtung jeder der fünf verbleibenden Variablen in Bezug auf die Straffälligkeit bestimmen. Hierzu ist es notwendig, die oben ausgeführten erklärenden Variablen der Straffälligkeit im gleichen (nun nicht mehr bivariaten sondern multivariaten) Modell aufzuführen, das uns ermöglicht zu bestimmen, welche dieser Variablen am ausschlaggebendsten für die Straffälligkeit ist, um dann den zusätzlichen erklärenden Wert aller anderen Variablen in das Modell einzuführen.

Dabei kann beobachtet werden, dass die Variable Nummer eins zur Erklärung der Kriminalität das Geschlecht ist. Bei einem Mann ist es im Vergleich zu einer Frau daher ungleich wahrscheinlicher, dass er eine Straftat begeht4 . An zweiter Stelle folgt das Alter. Ein junger Mann zu sein ist somit kriminogener als irgend einer anderen Kategorie anzugehören. Als drittes kommt dann der sozioökonomische Status und letztlich der Ausbildungsstand.

Mit anderen Worten ist das Standardprofil eines Kriminellen ein Mann, jung, mit sozioökonomisch bescheidenerem Hintergrund und mit einem eher geringen Ausbildungsstand.

Wo findet sich darin die Staatsangehörigkeit? In der Regel erklärt sie keinen zusätzlichen Teil der Varianz der Kriminalität. Die zugewanderte Bevölkerung setzt sich zu einem Grossteil aus wirtschaftlich benachteiligten jungen Männern zusammen. Daraus geht hervor, dass die Variable « Staatsangehörigkeit » in den anderen enthalten ist und im Vergleich zu den anderen Variablen keineswegs eine zusätzliche Erklärung für Kriminalität bietet. Dies entspricht im einleitenden Beispiel der Körpergrösse, die im Geschlecht enthalten ist, da Männer im Schnitt grösser sind als Frauen.

Was wir soeben erläutert haben, erlaubt uns auch zu verstehen, warum die Feststellung, dass Ausländer öfter als Staatsangehörige straffällig werden, ein universelles Phänomen ist. Tatsächlich betrifft Migration im Allgemeinen vor allem junge und weniger oft ältere Menschen, und Männer eher als Frauen. Wenn man weiss, dass gerade junge Männer den kriminogeneren Teil der Bevölkerung repräsentieren, so macht es auch Sinn, dass Migranten kriminogener sind, als Leute, die sich nicht vom Ort ihrer Geburt entfernen.

Daher ist es völlig falsch, Ausländer mit Staatsangehörigen zu vergleichen, da sich die eine Bevölkerungsgruppe hauptsächlich aus jungen Männern zusammensetzt und die andere eine älter werdende Bevölkerung darstellt, in der beide Geschlechter zu etwa gleichen Anteilen vertreten sind. Wenn man die Kriminalitätsrate von Ausländern nämlich mit derjenigen der einheimischen Bevölkerung desselben Geschlechtes und sozioökonomischen Status, derselben Altersgruppe sowie desselben Ausbildungsstandes vergleicht, fallen die Unterschiede zwischen Einheimischen und Ausländern weg.

Die Staatsangehörigkeit kann dennoch einen kleinen Teil der Kriminalität erklären. Dies im Sonderfall von Zuwanderern aus einem Land, das sich im Krieg befindet. So kann das gewalttätige Beispiel von einem Staat im Krieg bei den Bürgern eine Enthemmung bewirken. Diese Bürger werden selber gewalttätiger und exportieren schliesslich ihre erhöhte Gewaltbereitschaft in das Gastland. Dieses Phänomen ist in der Kriminologie als „Brutalisierung“ (d.h. „Verrohung“) bekannt. So scheint es, dass bei der Einwanderung aus einem Land, das sich im Krieg befindet, die ersten vier Variablen (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status und Ausbildungsstand) nicht ausreichen, um die Kriminalität zu erklären. Die Staatsangehörigkeit findet somit in fünfter Position auch Eingang im erläuternden Modell. Im Gegensatz dazu hat bei der Zuwanderung aus Ländern, die nicht im Krieg sind, die Staatsangehörigkeit keine weitere Bedeutung als die ersten vier Variablen.

Dazu ist noch zu erwähnen, dass das Phänomen der « Brutalisierung », das wir oben angesprochen haben, auch erklärt, warum die Staaten, die die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten wieder eingeführt haben, anschliessend eine Zunahme der Gewaltverbrechen beobachtet haben5 . Wenn der Staat selbst Hinrichtungen durchführt, bestärkt er die Bürger in der Idee, dass Gewalt eine geeignete Möglichkeit zur Konfliktlösung darstellt, wodurch sich die Zahl der Gewaltverbrechen erhöht. Der gleiche « Brutalisierungseffekt »erlaubt wahrscheinlich auch zu verstehen, warum eine übliche Art der Bestrafung einiger Eltern in der Schweiz ist, ihre Kinder bei einer Missetat im Zimmer einzusperren, obwohl dies vom strafrechtlichen Standpunkt her eine Freiheitsberaubung darstellt, die mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet werden kann…Wir werden also alle durch unsere jeweiligen staatlichen Systeme « brutalisiert », deren Abläufe wir dann ohne es zu merken im kleineren Massstab wiederholen. 

IV. Kriminalpolitische Überlegungen

Wie wir gesehen haben, sind die Variablen, die die Straffälligkeit erklären in der Reihenfolge folgende:

  1. Das Geschlecht,
  2. Das Alter,
  3. Der sozioökonomische Status,
  4. Der Ausbildungsstand,
  5. Die Staatsangehörigkeit (manchmal).

Die Frage, die noch ergründet werden muss, ist, wie diese Erkenntnis in Präventivmassnahmen gegen Straftaten umgesetzt werden kann. Nehmen wir die Variablen in der Reihenfolge ihrer explikativen Bedeutung für die Straffälligkeit, so sollten politische Massnahmen in erster Linie eine Verringerung der Männlichkeit anstreben. Es versteht sich jedoch von selbst, dass politische Massnahmen, die die Abschaffung der Männer oder die Förderung von weiblichen Geburten befürworten nicht nur unsere Grundrechte verletzen, sondern auch unserem Sinn für Ethik absolut zuwiderlaufen würden. Die gleichen Einwände können gegen Massnahmen vorgebracht werden, die eine Beseitigung oder Ghettoisierung der jungen Menschen befürworten. Auch eine Politik der ‘Verminderung der Geburtenzahlen’ wäre auf lange Sicht nicht im Interesse des Staates.

Zu beachten ist jedoch, dass, was die Variable des Geschlechtes betrifft, die Feminisierung einer Gesellschaft nicht unbedingt durch eine physische Feminisierung stattfindet, sondern genauso gut soziologischer Natur sein könnte. Dies käme einer Ablehnung der allgemein dem männlichen Geschlecht zugeschriebenen Werte (z.B. Machismus) und der Förderung der Werte, die Frauen zugeschrieben werden (z.B. Zärtlichkeit) gleich.

An dritter Stelle – nach Geschlecht und Alter – wäre es möglich, darüber nachzudenken, zur Kriminalprävention mehr Gleichheit zwischen den Bewohnern eines Landes herzustellen, um so eine « Zweiklassen-Gesellschaft » zu vermeiden. An vierter Stelle stünde die Verbesserung des Ausbildungsstandes der wirtschaftlich Schlechtestgestellten und der am wenigsten gut Ausgebildeten.

V. Schlussfolgerung

Wenn das tatsächliche Ziel die Bekämpfung von Kriminalität sein soll, und man in Massnahmen investieren möchte, die das grösste Erfolgspotenzial haben, ist es unabdingbar, die die Straffälligkeit am ehesten erklärenden Variablen gezielt anzuvisieren. Wenn vorausgesetzt wird, dass die Ausrichtung auf Geschlecht und Alter schwer machbar und vor allem ethisch fragwürdig ist, scheinen soziale6 und Bildungsmassnahmen am sinnvollsten.

Nur verfehlt man sein Ziel beim Angriff auf Migranten genauso, wie wenn man die Körpergrösse ins Visier nimmt.Ausserdem ist es fraglich, ob eine Politik der Beseitigung der Ausländer ethisch vertretbarer ist als diejenige von jungen Menschen oder Männern.

André Kuhn ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an den Universitäten Lausanne, Neuenburg und Genf.

Teile des vorliegenden Textes – und vor allem das Ideengut, das hier vermittelt wird – wurden vom Autor bereits in früheren Texten veröffentlicht. Wo einige vielleicht den lächerlichen Begriff « Eigenplagiat » benutzen würden, tendiert der Autor zur Aussage, dass es sich vielmehr um ein positives Phänomen handelt, da es eine logische, konsequente und vor allem konstante Denkweise widerspiegelt.


1. Für genauere Daten verweisen wir den Leser auf die Website des Bundesamtes für Statistik (http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index.html), Rubrik 19 – Kriminalität, Strafrecht. Dies gilt auch für alle Zahlenangaben im vorliegenden Text, mit Ausnahme derjenigen, bei denen eine andere Quelle angegeben wird.

2. Quellen: Schweizer Erhebungen zu Selbstanzeige, Viktimisierung und Sentencing.

3. Quellen: Schweizer und US-amerikanische Statistiken aus dem Strafvollzug. Es gibt keine Schweizer Daten zum Ausbildungsstand verurteilter und/oder inhaftierter Personen.

4. Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle Männer Straftaten begehen und Frauen nie, sondern einfach, dass es unter Kriminellen eine starke Überrepräsentation von Männern gibt.

5. In diesem Zusammenhang wurde die Hypothese der « Brutalisierung » im Bundesstaat Oklahoma von W. C. Bailey überprüft: « Deterrence, Brutalization, andthe Death Penalty: AnotherExaminationofOklahoma’s Return to Capital Punishment », Criminology, vol. 36, 1998, pp. 711ss.

6. Diesen sind auch Integrationsmassnahmen von Ausländern zuzurechnen.

Dieser Artikel ist am 28 September in „Vivre Ensemble“ erschienen (André Kuhn | Comment s’explique la surreprésentation des étrangers dans les statistiques de la criminalité, VE 139/septembre 2012). Deutsche Übersetzung von Nadine Buchmann