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Die Globalisierung hat in den letzten zwanzig Jahren grosse kulturelle und religiöse Veränderungen gebracht. Auch in der Schweiz. Heute stellt sich für viele Christen die Frage, ob die Schweiz überhaupt (noch) ein christliches Land sei. Wir sind der Meinung, dass dies gar nie der Fall war. Und sehen das als riesige Chance.

1. Kriterium: «Die Schweizer sind Christen»

Wann ist ein Land christlich? Für viele Leute lautet die Antwort: wenn es in diesem Land viele Christen gibt. Wenn also alle Bewohner Christen sind, oder ein Grossteil, oder mehr als die Hälfte, so kann man das Land als Ganzes christlich nennen. Hinzu kommt, dass in einem solchen Land auch die Gesetze, die Kultur und «die Luft, die man atmet», christlich geprägt sind. Deshalb hört man oft auch, dass ein Land, das christliche Werte in Politik und Gesellschaft verwirklicht, ein christliches Land sei.

Ein erstes Kriterium für ein christliches Land lautet also, dass hier viele Christen leben und christliche Werte in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen.

In der Gegenwart

Ob die Schweiz ein christliches Land ist, hängt also davon ab, wie wir Christsein definieren. In einem evangelischen Verständnis bedeutet Christsein viel mehr als an Weihnachten einen Gottesdienst zu besuchen. Es bedeutet, persönlich umzukehren, Gottes Vergebung zu erleben, sich die Sorgen nehmen, Freude und Befreiung schenken zu lassen, mit Jesus, Seiner Liebe und Seinem Geist durch den Alltag zu gehen und vieles mehr. Umfragen zeigen, dass nur eine kleine Minderheit der Schweizer Bevölkerung dieser Vision nachlebt.1

Deshalb, und weil die Öffentlichkeit ja von allen Bürgern zusammen geformt wird, sind auch unsere Gesetze, unsere Gesellschaft und Kultur weitgehend nicht von christlichen Zielen geleitet. Bei uns wehen viele Geister, gute wie böse: die Geldliebe, die Bitterkeit, die Ehrlichkeit, die Sorge um die Natur, der Spass usw. Der Geist Jesu aber weht inmitten dieser Stürme wie ein feines Säuseln.

In der Vergangenheit

Ist das aber nicht eine neue Entwicklung? Ist unsere heutige Kultur nicht auf dem christlichen Boden der Vergangenheit gewachsen und davon genährt?

Aus christlicher Sicht scheint es uns zweifelhaft, dass uns der Glauben unserer Vorfahren tragen kann: «Gott hat keine Enkelkinder», heisst es doch. Jeder Mensch muss selbst zu Gott finden. Auch ist ungewiss, inwiefern sich die Zeiten von Niklaus von der Flüe und von Jeremias Gotthelf noch auf unser Leben im 21. Jahrhundert auswirken.

Auch stellt sich auch die Frage, wie christlich diese Wurzeln überhaupt sind. Was hat wohl unsere «christliche Schweiz» mehr geprägt: bibeltreue Prediger oder vom Aberglauben durchtränkte Volksfrömmigkeit? Ein paar pazifistische Mennoniten oder ein Heer von kriegslustigen Adligen? Niklaus von der Flüe oder der Walliser «Söldnerfürst» Stockalper? Uns scheint, dass zu jener Zeit verhältnismässig wenige Menschen etwas von den Werten erleben konnten, die uns Jesus gebracht hat: Fürsorge, Schutz der Armen und Ausländer, Gewaltlosigkeit, Bescheidenheit.

Heute wie früher muss offenbar ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung das Evangelium erst noch empfangen. Somit ist das erste Kriterium, «die Schweizer sind Christen», nicht erfüllt.

2. Kriterium: «Die Schweiz ist Christ»

Einige Christen erachten die Schweiz als christlich, weil sie sich im Bundesbrief und in der Verfassung Gott anbefohlen habe. Auch habe Gott die Schweiz gesegnet. So wie ein Individuum sich zu Gott bekehren kann, so könne auch ein Land mit Gott in Beziehung treten. Dabei spiele es keine Rolle, dass die Mehrheit der Schweizer keine persönliche Beziehung zu Gott pflegten.

Dieses zweite Kriterium bezeichnet ein Land dann als christlich, wenn es als Land eine spezielle Beziehung zu Gott hat.

Flaggen, Briefe und Präambeln

Es scheint äusserst fraglich, ob die Schweiz nach diesem zweiten Kriterium ein christliches Land ist. Oftmals wird zur Stützung dieser Idee auf das Kreuz in unserer Flagge verwiesen. Man muss sich jedoch fragen, ob zum Beispiel der Kanton Neuenburg wirklich ein christlicherer Kanton ist als der Kanton Bern, nur weil in seiner Flagge ein Kreuz prangt.

Als weiteres Argument wird der Bundesbrief von 1291 genannt, der mit «In Gottes Namen, Amen» beginnt. Dabei bleibt offen, wie der Bundesbrief die Schweiz näher zu Gott geführt hat. Er hält ja in knappen Worten lediglich einige Rechtsgrundsätze sowie einen Verteidigungsbund zwischen drei Tälern fest. Es ist kein Bund mit Gott. Auch war es in jener Zeit üblich, Urkunden mit einer Anrufung Gottes zu beginnen. Offenbar handelt es sich dabei um eine Floskel.

Auch mit der Präambel zur Bundesverfassung wird argumentiert: «Im Namen Gottes des Allmächtigen.» Doch die Bibel lehrt uns an zahlreichen Stellen, dass Gott nicht auf offizielle Bekundungen und grosse Worte in der Öffentlichkeit achtet. Vielmehr sind ihm die Herzenshaltung und die daraus fliessenden Taten wichtig (z.B. Am. 5,21–27, Matt. 6,5–6). Neben ihrer rein symbolischen Bedeutung ist auch die inhaltliche Bedeutung der Präambel fraglich. Laut den mehrheitlichen Wortmeldungen in der parlamentarischen Debatte drückt diese Präambel vor allem die Begrenztheit unseres menschlichen Handelns aus. Betont wurde der Traditionsanschluss und nicht der Bezug zum Gott der Christen.

Auch nach dem zweiten Kriterium, «die Schweiz ist Christ», gibt es also keinen Grund, die Schweiz als christliches Land zu betrachten.

Fazit und grosse Chance: eine nicht-christliche Schweiz

Die Prüfung der zwei genannten Kriterien ergibt also, dass die Schweiz kein christliches Land ist. Wir brauchen also nicht eine christliche Fassade hochzuhalten. Diese Wahrheit ist wohltuend und befreiend.

Ein neuer Platz für die Christen

Zugleich stellt uns Christen dieser Sichtwechsel aber auch vor die Frage, welchen Platz wir in der Gesellschaft einnehmen sollen. Wir sind nun ja nicht die Vertreter einer angeblich wahren, christlichen Ur-Identität der Schweiz. Vielmehr leben wir als eine von vielen Minderheiten in einem pluralistischen, liberalen Staat. Die Kirche steht nicht in der Mitte des Dorfs, sondern am Rand der Gesellschaft, abseits der Machtzentren. Ein gewichtiger Trost: Genau dort übt auch Jesus seinen Dienst aus.

Die kulturellen und religiösen Veränderungen, welche die Globalisierung mit sich bringt, dürfen uns Christen nicht dazu verführen, in die Rolle der Hüter eines angeblich «christlichen Abendlandes» zu schlüpfen. Wir wollen unsere Kräfte nicht für die Aufrechterhaltung institutioneller und kultureller Privilegien verschleissen, die oft herzlich wenig mit dem Zimmermann und Gottessohn Jesus zu tun haben.

Eine neue Stimme

Unser Land war nie evangeliumsgemäss gestaltet und ist es auch heute nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden! Die christliche Minderheit in der Schweiz soll nicht frustriert etwas zu restaurieren versuchen oder sich als Sprachrohr der schweizerischen Seele verstehen, die ja «eigentlich» christlich wäre. Nein, die kleine christliche Stimme inmitten der vielen Stimmen der modernen Schweiz soll eine Stimme sein, die etwas Neues bringt. Eine Stimme, die inmitten von Unheil das Leben des Einzelnen und der Öffentlichkeit verändert. Eine Stimme, die der Schweiz den Weg zu Christus und seinen Werten zeigt.

Jesus hat nicht Bewahrung, sondern Umkehr gepredigt. Zu dieser Umkehr gehört auch, dass wir auf gesellschaftlicher Ebene die Liebe Gottes bezeugen und prophetisch auf Missstände hinweisen. Politisch sollen wir den Kirchen und Christen keine Vorteile verschaffen, sondern unseren Mitmenschen dienen, besonders den Schwächsten: den Armen, Kriminellen und Ausländern (nach Matt. 25).


Artikel, der in der evangelischen Wochenzeitschrift Idea Spektrum «Zur Lage der Nation» erschienen ist (Nr. 29/30, 20. Juli 2016)

1. Religiöse und spirituelle Praktiken und Glaubensformen in der Schweiz. Erste Ergebnisse der Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur 2014. BFS Statistik der Schweiz, Neuchâtel 2016.