ChristNet steht seit seiner Gründung für Frieden und gewaltlosen Widerstand ein. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs möchten wir aber nicht blauäugig den Pazifismus hochhalten und damit die Realität des ungerechtfertigten, barbarischen Angriffskrieges leugnen. Dennoch will ChristNet auch jetzt das Bemühen um Frieden nicht tabuisieren oder den Verteidigungskrieg verherrlichen. In diesem Sinne veröffentlichen wir das folgende Interview mit Hansuli Gerber vom Täuferischen Forum für Frieden und Gerechtigkeit (TFFG), der differenziert erklärt, was der Begriff Pazifismus genau bedeutet, warum dieser ein Ideal bleiben soll und weshalb Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch sind. Das heisst nicht, dass ChristNet mit allen Aussagen einverstanden ist.
Seit der Invasion Russlands in der Ukraine scheinen Bellizismus und Militarismus sehr en vogue zu sein bis weit ins linke politische Spektrum. Ist ein Verteidigungskrieg ein sinnvolles und berechtigtes Mittel gegen eine militärische Invasion?
Krieg geht von seinem Wesen ins Extreme und in die Länge. Dabei wird zwischen Zerstörung von Menschenleben und von Sachen kein Unterschied gemacht. Krieg ist immer ein Machtanspruch und sucht, diesen durch Zerstörung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erzwingen. Der Verteidigungskrieg beansprucht für sich, das Gute im Sinn zu haben, die Barbarei zu stoppen und vieles mehr. Doch ist auch er ein Krieg und ein Griff zur Barbarei, um Barbarei zu stoppen. Einen Verteidigungskrieg als geeignetes Gegengift gegen Krieg zu deklarieren ist zuerst mal eine Verharmlosung und Idealisierung des Kriegs und erst danach eine Missachtung der Einladung Gottes zur Liebe und Barmherzigkeit wie sie in Jesus Christus zum Ausdruck kommt.
Als Pazifistin bzw. Pazifist steht man heute plötzlich unter Rechtfertigungsdruck. Hat der Pazifismus versagt?
Der Pazifismus hat nie versagt. Menschen versagen und dass es in der Ukraine und anderswo Krieg gibt, liegt nicht am Pazifismus noch belegt es seine Unzulänglichkeit. Im Gegenteil, Krieg gibt es, weil er durch Aufrüstung vorbereitet wird und weil Menschen auf Waffen setzen, statt auf Begegnung und Kooperation. Weil die Gier vor dem Zusammenleben kommt. Weil das Geld regiert. In dieser Situation braucht es mehr Pazifismus, nicht weniger. Christen, welche Waffen ablehnen, müssen sich mit andern zusammentun, denn sie haben kein Monopol auf den Pazifismus. Menschen guten Willens, welche auf Gewaltlosigkeit setzen können zusammenarbeiten. Das Reich Gottes besteht nicht aus Christen, sondern aus gewaltloser Liebe. Gerade im Krieg ist für Christen der Aufruf «Liebet eure Feinde» die grosse und unumgängliche Herausforderung.
Was ist Gewaltlosigkeit genau? Oder umgekehrt: Was ist Gewalt, wie wird sie definiert? Worauf verzichtet jemand, der gewaltlos lebt?
Hinsichtlich der Gewalt gilt, dass sie einerseits als unausweichlich gesehen und gleichzeitig verharmlost wird. Da braucht es viel Forschung und Aufklärung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte zu Beginn der Jahre 2000 den ersten Bericht zu individueller und zwischenmenschlicher Gewalt. Darin stellte sie fest, dass Gewalt keine Fatalität sein muss und vermeidbar ist. Aufgrund dieses ausführlichen Berichts erklärte die die Versammlung der WHO 2003 Gewaltprävention zu einer Priorität des öffentlichen Gesundheitswesens. Individuelle bzw. zwischenmenschliche Gewalt wird von kollektiver Gewalt, also Krieg und Massengewalt, unterschieden und folgt anderen Logiken. Daher ist es nicht hilfreich, den Krieg und die Verteidigung inmitten des Kriegs mit der Vergewaltigung meiner Frau oder der Bedrohung oder Misshandlung deiner Kinder zu vergleichen. Hier ist Handeln und Widerstand angesagt, aber es ist Vorstellungsvermögen notwendig, es soll nicht zuerst an Waffengewalt gedacht werden, sondern an die vielen Möglichkeiten, den Angreifer zu überraschen und ihn so zu entwaffnen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Ich weiss von Menschen – und ich gehöre dazu, die bewusst keine Waffe im Haus haben, damit die Gefahr einer bewaffneten Eskalation verringert wird. Es ist der Mythos, dass Waffen uns bewahren, der so viele Menschen heute dazu verleitet, sich zu bewaffnen.
Wie kann man Gewalt verhindern?
Es geht darum, zu verstehen, dass Gewalt Gewalt hervorbringt und da ist aus theologischer Sicht unbewaffnetes und entwaffnendes Denken und Handeln angesagt. Dabei können wohl auch mal Tische und Stühle umgeworfen werden, was manche den Pazifisten und Pazifistinnen als Gewalttat Jesu vorhalten. Widerstand gegen Unrecht und Gewalt sind nicht nur legitim, sondern durchaus notwendig im Sinne des Evangeliums und der Bibel, und werden nicht umsonst von Theologen und Philosophinnen als Pflicht bezeichnet.
Gibt es Gewalt, die ihre Berechtigung hat? Beispielsweise Polizeigewalt bei einer Verhaftung?
Der Staat beansprucht ein Gewaltmonopol und das kann ihm zugestanden werden. Dabei muss man ohne Illusion sein: zu oft wird dieses Monopol missbraucht, was in der Struktur der Macht liegt. Der Staat wird von Menschen gemacht und die erliegen zu oft der Versuchung der Macht, welche zur Gewalt greift und diese einsetzt, nicht zur Bewahrung und Verteidigung von Menschen, sondern der bestehenden oder angestrebten Macht und Dominanz. Der Angriff auf die Ukraine verfolgt imperialistische Absichten. Diese machen vor Menschenopfern keinen Halt.
Das heisst, wenn man Pazifist:in ist und Gewalt ablehnt, muss man dem Staat gegenüber misstrauisch sein?
Pazifisten mögen ein sehr unterschiedliches Staats- und Demokratieverständnis haben. Wo zu Ende gedacht, hat Pazifismus nicht ein stures Prinzip, das religiös-ethisch-moralisch ist, sondern die Menschlichkeit im Auge. Dabei ist die Frage der Gerechtigkeit und der Macht- und Besitzverteilung unumgänglich. Das führt historisch immer dazu, dass Pazifismus mit Sozialismus und Anarchismus verbunden ist und damit mit einer Relativierung des staatlichen Absolutheitsanspruches. Auch die alten Täufer waren dem Staat gegenüber misstrauisch, und zu Recht, denn es ging ihm nicht um das Wohl der Menschen, sondern um die bestehende oder angestrebte Ordnung, in welcher die Privilegien und Macht klar auf der Seite der Herrschenden behielt. Wir suchen als Christen nicht, den Staat durch das Reich Gottes zu ersetzen. Doch wir folgen womöglich der Dynamik und den Regeln des Reiches Gottes, sowie Jesus dies gelebt hat. Wenn der Staat dadurch etwas menschlicher wird, umso besser. Unsere Mission ist, uns für die Liebe und gegen die Entmenschlichung einzusetzen. Entmenschlichung ist ein wichtiges Stichwort in einer von Krieg, Klimakrise und Technokratie geschüttelten Welt!
Ist Pazifismus immer mit Gewaltfreiheit gleichzusetzen oder geht Pazifismus auch mit Gewalt?
Der Begriff Pazifismus wird verschieden verstanden und je nach Kontext verschieden gebraucht. Vielleicht ist er weniger geeignet als Gewaltlosigkeit. Grundsätzlich bedeutet es, Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung oder zur Erreichung bestimmter Absichten abzulehnen, beziehungsweise die Teilnahme an gewalttätigen Handlungen zu verweigern. Es gibt verschiedene Pazifisten: Nuklearpazifistinnen beispielsweise lehnen Atombewaffnung aber nicht zwingend andere Waffen ab. Radikale Pazifisten dagegen stellen sich gegen jede militärische Bewaffnung und weigern sich, daran teilzunehmen. Es gibt Leute, die sind grundsätzlich der Gewaltlosigkeit verpflichtet, aber würden nicht in jedem Fall Gewalt ausschliessen. Das wohl grösste Problem mit dem Begriff ist, dass er mit Passivität verbunden wird oder gar mit Gleichgültigkeit. Das ist ein verhängnisvolles Missverständnis. Pazifismus hat einen nicht besonders guten Ruf und muss gewissermassen als Ideal rehabilitiert werden.
Inwiefern ist Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch?
Gewaltlosigkeit ist biblisch und vor allem evangelisch, weil sie den unbewaffneten Widerstand im Auge hat zum Wohl und zur Bewahrung aller betroffenen Menschen, statt einer bestimmten Ordnung. Sie weiss, dass wer zum Schwert greift, durch das Schwert umkommt. Und sei es die Generation danach. Jesus hat mit seiner unbewaffneten und entwaffnenden Art gezeigt, dass in der «Herrschaft» Gottes (Reich Gottes) andere Regeln gelten als im Staat und unter Menschen, die ihre Vorteile und Selbstbehauptung durchsetzen wollen. Die Natur ist wohl auf ihre Art gewalttätig, aber Gott ist gewaltlos und frei. Gott lässt den Menschen gewähren, sehr zu unserem Missfallen manchmal, aber das ist das Wesen seines Reiches, welches in Frieden, Gerechtigkeit und Freude besteht. Nicht mal der Gewaltherrschaft tritt Gott mit Gewalt entgegen. Er lässt die Reiche der Gewaltherrschaft einstürzen und diejenigen leer ausgehen, die nichts anderes als ihr Eigenes im Sinn hatten, wie es im Lobgesang von Maria steht.
Das Interview erschien erstmals auf www.menno.ch. Es wurde von Simon Rindlisbacher geführt.