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An der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) vom 16. Mai 2025 waren sich die fünf Teilnehmenden an der Podiumsdiskussion zum Thema «Heilige Nation! Eine kritische Auseinandersetzung mit nationalistischer Politik unter christlichem Deckmantel» einig: Die Loyalität zu Gott sollte immer grösser sein als jene zur eigenen Nation.

Mit christlichem Nationalismus suchte sich die SEA für ihre Delegiertenversammlung ein brandaktuelles Thema heraus. In einem Input-Referat definierte Jeff Fountain, Direktor des Schuman Centre for European Studies, christlicher Nationalismus als «die Vorstellung, dass die eigene Nation auf dem Christentum gegründet und nach christlichen Grundsätzen geregelt werden sollte». Die zunehmende Säkularisierung in westlichen Ländern schwäche die christliche Stimme. Viele Christinnen und Christen würden Diskriminierung erfahren. Aus dieser Bedrängnis entstehe der Wunsch nach einer Rückkehr christlicherWerte im Nationalstaat und in den Gesetzen. Die Idee eines christlichen Nationalstaates klinge zwarverlockend, meinte Fountain. Doch Nationalismus stehe in einem klaren Widerspruch zur Lehre Jesu «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» (Mk 12,31) und zur Feindesliebe (Mt 5,44).

Nationalismus bedeute, sich mit einer spezifischen kulturellen Gruppe zu identifizieren, die im Gegensatz zu«den anderen» steht. Somit sei die Ideologie alles andere als christlich. Vielmehr strebe sie danach, Christinnen und Christen in Macht- und Herrschaftspositionen zu bringen. «Dabei besteht die Gefahr, Macht für die eigene Ideologie auszunutzen. » Für Fountain steht fest, dass sich Christinnen und Christen kritisch hinterfragen müssen, wem ihre ultimative Loyalität gilt: Gott oder der eigenen Nation? Er stellte die Forderung, Nationalismus anhand seiner Früchte zu beurteilen. Der biblische Auftrag sei nicht, mit Gewalt und Macht zurückzuerobern, was einst als christliche Nation galt. Die Bibel rufe uns stattdessen zum Dienen auf.

Podium an der SEA-DV (von links): Moderator Andi Bachmann-Roth, Christian Scheidegger, Marc Jost, Samuel Kullmann, Kati Rechsteiner, Peter Schneeberger.

Nationalismus oder Imperialismus?

Nach dem Input von Jeff Fountain nahmen Samuel Kullmann, Berner EDU-Grossrat, und Marc Jost, EVP-Nationalrat, Stellung zu den Aussagen. Kullmann lieferte eine hilfreiche Unterscheidung von Nationalismus und Imperialismus. Über Jahrtausende habe es nur Imperien gegeben, wodurch ständig Krieg herrschte. Erst mit dem Nationalstaat sei eine Staatsform entstanden, in der Frieden längerfristig etabliert werden konnte. In Apg 17,26 gebe es einen Hinweis darauf, dass Gott Nationalstaaten mit festen Grenzen festlegte. Den Regierungsstil von Donald Trump bezeichnete er als imperialistisch, da es ihm um Expansion jenseits dieser Nationalgrenzen geht. Auch er sieht Gefahren, wenn Christen zu viel Macht erlangen. Er plädierte jedoch dafür, christliche Werte in Gesetze einzubringen, bei denen es um Moralität geht (z.B. Jugendschutz).

Marc Jost warnte ähnlich wie Fountain vor einer Vermischung von Vaterland und Gott Vater. Für ihn sei es Götzendienst, wenn die erste Loyalität der Nation und nicht Gott gelte. Dabei spiele es keine Rolle, um welche Ideologie es sich handle. Aus Sicht Kullmanns dürfe der Staat keine Ideologien durchsetzen. Ein bibelkonformer Staat bleibe neutral und sorge für die öffentliche Gerechtigkeit.

Christliche Werte und Schweizer Demokratie

Zur anschliessenden Podiumsdiskussion gesellten sich der Historiker Christian Scheidegger, die reformierte Pfarrerin Kati Rechsteiner und der Präsident des Dachverbands Freikirchen.ch, Peter Schneeberger zu Samuel Kullmann und Marc Jost dazu. Die Moderation übernahm Andi Bachmann-Roth, Co-Generalsekretär der SEA. Scheidegger machte deutlich, dass die Schweiz zwar ein christlich geprägtes Land sei, aber keine christliche Nation. Für Kati Rechsteiner übersteigt die christliche Nation Zeit und Raum. Sie ist nicht an Staatsgrenzen festzumachen.

Laut Kullmann vertraute Gott der Schweiz viel an. Die direkte Demokratie komme international gut an und gelte als vorbildhaft. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass die Demokratie ein besonders stabiles Regierungssystem darstellt, obwohl dieses auch seine Schwachstellen hat (z.B. langsame Bürokratie). Jost sieht in der Demokratie den Vorteil, dass sie die Macht der Politikerinnen und Politiker einschränkt, indem sich diese gegenseitig stets hinterfragen und korrigieren müssen. Das System sei ausbalanciert und berge kaum Risiken. Zudem begrüsse er den Wettbewerb unterschiedlicher Ideen und Meinungen. Er ist überzeugt, dass christliche Werte diesem Wettbewerb standhalten können.

Kirche und Macht

Peter Schneeberger empfindet die Vermischung von Kirche und Macht in der Schweizer Geschichte als sehr gefährlich. Es braucht ihm zufolge eine klare Trennung der Zuständigkeiten von Staat und Kirche. Die Kirche hat die Hauptaufgabe, Licht und Salz in die Welt zu bringen. Lokale Kirchen sollen aber die Freiheit haben, ihre Meinung zu äussern und ihren Glauben auf ihre Weise auszuleben.

Gesellschaftliche Engagements gehörten zum Auftrag der Christenheit und gläubige Individuen dürfen Machtpositionen einnehmen. Aber in beiden Fällen solle darüber reflektiert werden, wie das Engagement gestaltet und das politische Amt ausgeführt werde. Schneeberger spricht dem Gebet für Politikerinnen und Politiker eine zentrale Rolle zu. Sie stellt ihm zufolge das Hauptmandat politischer Beteiligung dar.

Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion waren sich einig, dass sich die Kirche nicht für eine politische Ideologie oder Person instrumentalisieren lassen darf. Kati Rechsteiner schloss mit den Worten, dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes zu betrachten sei. Das helfe, dem christlichen Nationalismus zu widerstehen.

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«Ich wünschte, er würde einfach sterben», sagte mein Kollege erbittert – gemeint war der Aggressor eines grauenhaften Krieges. Diese Aussage mag zunächst schockierend wirken, denn man «darf» doch niemandem den Tod wünschen. Zudem würde der Tod eines Einzelnen kaum das Ende eines Konflikts bedeuten. Doch die Aussage bringt eine innere Spannung zum Ausdruck, mit der wir derzeit wohl alle ringen.

Auf der einen Seite steht das christliche Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt 5-7), das uns davon abhalten sollte, andern Schlechtes zu wünschen oder ihnen Gewalt anzutun. Auf der anderen Seite steht das Wissen um das Unrecht, das geschieht – und unser ebenso christlicher Auftrag, gegen Unrecht aufzustehen und die Schwachen zu schützen (vgl. Spr 31,8-9). In manchen Fällen scheint das Nichthandeln schwerwiegendere Folgen zu haben als das Handeln.

Christliche Friedensbotschaft unabhängig von den Umständen

Laut dem Global Peace Index gibt es derzeit 56 bewaffnete Konflikte, an denen 92 Staaten ausserhalb ihrer Landesgrenzen beteiligt sind – der höchste Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.1 Für den evangelischen Friedensbeauftragten und Pazifisten Friedrich Kramer ist klar: Kriege lassen sich durch nichts rechtfertigen, und jede militärische Unterstützung einer Kriegspartei hält diese Konflikte nur aufrecht. Er sagt: «Die christliche Friedensbotschaft hängt nicht davon ab, ob es blutrünstige Kaiser oder machtbesessene Oligarchen gibt. Die Idee der Gewaltlosigkeit Jesu überdauert all diese, auch das römische Imperium. Im Krieg sterben nicht die Mächtigen, sondern der einfache Mann. Kriege sind mörderisch und durch nichts zu rechtfertigen. All das spricht für den Pazifismus.»2

Eine radikal pazifistische Sichtweise ist geprägt vom fundamentalen Antimilitarismus.3 Sie betont die kompromisslose Gewaltlosigkeit als christliches Ideal, besonders basierend auf der Bergpredigt Jesu. Sie geht davon aus, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, das Leben heilig und Töten grundsätzlich falsch ist. Allerdings ist «der Pazifismus» kein einheitliches Konzept – unter diesem Begriff versammeln sich unterschiedliche Ansätze.

Rechtfertigt unser Auftrag, gegen Unrecht aufzustehen, auch (gewaltsame) Verteidigung?

Doch so einfach ist es nicht. Wofür sind wir als Christinnen und Christen verantwortlich? Nach Ambrosius von Mailand sind wir nicht nur für unser Handeln, sondern auch für unser Nicht-Handeln verantwortlich.4 D.h. wenn ich etwas Schlechtes verhindern könnte und das nicht tue, dann bin ich genauso verantwortlich, wie wenn ich es tue: «Denn wer nicht von seinem Mitmenschen Unrecht abwehrt, wenn er kann, ist ebenso schuldbar wie jener, der es begeht.»5 Ambrosius bezieht sich hier auf die rechtliche Ausnahmeregelung der Notwehrhilfe. Interessant ist, dass sowohl er als auch Augustinus von Hippo die Notwehr auf individueller Ebene zurückweisen, da diese bedeuten würde, das eigene Leben über das Leben des Angreifers zu stellen. Hingegen sei es etwas anderes, wenn ich in eine Situation komme und Notwehrhilfe leisten kann, denn dann stelle ich das Leben der bedrohten Person über das Leben des Angreifers, und werte somit in diesem Moment das Gebot der Nächstenliebe höher als das Gebot der Feindesliebe. Aus diesem Gedanken heraus befürworten Ambrosius und Augustinus schliesslich die Notwehr, also die (gewaltvolle) Verteidigung, auf kollektiver Ebene, abgeleitet nicht aus der Notwehr auf individueller Ebene, sondern der Notwehrhilfe.6

Wie viel wissen wir über die Folgen unseres Handelns – oder Nichthandelns?

Laut dem Philosophen Olaf Müller vertreten verantwortungsethische Pazifistinnen und Pazifisten die Haltung, dass es in den meisten Fällen deutlich schlimmer ist, auf Gewaltmittel zu setzen als auf friedliche Lösungen. Doch, so Müller, überschätzen sie sich oft: Wer kann schon zuverlässig vorhersagen, welche Massnahmen zu welchen Konsequenzen führen? Wie viele Tote es geben wird – je nach Entscheidung?

Verantwortungsethiker, die militärische Mittel befürworten, verfügen über genauso wenig Vorhersagekraft wie Pazifistinnen. An diesem Punkt tritt unser Menschenbild in den Vordergrund: Menschen mit einem eher optimistischen Menschenbild neigen eher zu pazifistischen Lösungen. Wer dagegen glaubt, dass der Mensch grundsätzlich nicht gut ist, wird dazu tendieren, Gewalt (oder deren Androhung) für notwendig zu halten, um Vernunft und Frieden zu erzwingen.

Der Streit ums Menschenbild lässt sich wissenschaftlich nicht entscheiden. Ein positives Menschenbild ist schön – doch hilft es uns durch die Härten der Realität? Ist es naiv, auf das Gute zu vertrauen, wenn rundherum aufgerüstet wird und Dialogbereitschaft fehlt?7

Relativer politischer vs. absoluter persönlicher Pazifismus?

Hier treffen zwei Prinzipien aufeinander: das Gebot absoluter Gewaltfreiheit und das Gebot absoluter Liebe. Es ist ehrenwert, wenn Christinnen und Christen auf jede Form von Gegengewalt verzichten und dabei sogar Gefahren für ihr eigenes Leben in Kauf nehmen. Aber können sie diese Entscheidung auch für andere – oder für eine ganze Gesellschaft – treffen?

Sollte man nicht im Einzelfall prüfen, ob etwa defensive Waffen (und nur defensive!) dazu beitragen können, Leid in einem Kriegsgebiet zu begrenzen und zu einem raschen, dauerhaften Ende der Kampfhandlungen beizutragen?8 Jedoch erst, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft, es keine nicht-militärische Handlungsoptionen mehr gibt und parallel noch immer diplomatische Verhandlungen geführt werden?

Für mich bleibt das ein schwieriger Gedanke. Ausserdem würde ich gerne, obwohl das vielleicht naiv ist, mein optimistisches Menschenbild aufrechterhalten. Doch hilft diese Einstellung in der aktuellen Lage?

Christliche Hoffnung in den Spannungen dieser Welt

Kant sagte einst, der Friede sei nie gegeben – man müsse ihn aktiv schaffen.9

Die Spannungen, die uns heute beschäftigen, werden uns vermutlich weiterhin begleiten. Und doch haben wir Hoffnung und eine Verheissung: «Er wird richten unter vielen Völkern und zurechtweisen mächtige Nationen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Kein Volk wird mehr das Schwert gegen ein anderes erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.» (Micha 4,3)


1. Vision of Humanity. (2024). Highest number of countries engaged in conflict since World War II.
https://www.visionofhumanity.org/highest-number-of-countries-engaged-in-conflict-since-world-war-ii/. Abgerufen am 18.05.2025.

2. pro Medienmagazin. (2022). Friedrich Kramer: „Waffen schaffen keine Gerechtigkeit“.
https://www.pro-medienmagazin.de/friedrich-kramer-waffen-schaffen-keine-gerechtigkeit/. Abgerufen am 18.05.2025.

3. Evangelische Aspekte. (o. J.). Pazifismus – verschiedene Konzepte.
https://www.evangelische-aspekte.de/pazifismus-konzepte/. Abgerufen am 18.05.2025.

4. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 34:20].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.

5. Ambrosius von Mailand. De Officiis Ministrorum. Erstes Buch: Vom Sittlichguten, Kapitel XXXVY (179).

6. Bewegung Plus Bern. (2025). Spannungsfeld: Krieg und Frieden – Gottesdienst vom 18.05.2025 mit Patrik Hofstetter. [YouTube-Video, ab Minute 36:05]. https://www.youtube.com/watch?v=ktuLfnLv4CM Abgerufen am 18.05.2025.

7. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 8:45].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.

8. https://www.evangelische-aspekte.de/pazifismus-konzepte/

9. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 27:00].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.


Dieser Artikel erschien zuerst im Gerechtigkeitslab bei StopArmut. ChristNet ist Mitglied des Trägerkreises der StopArmut-Konferenz, die am 1. November 2025 stattfindet.

Titelbild von lummi.ai