«Es braucht Orte der offenen Auseinandersetzung»
Die Mitglieder aus sechs christlich-sozialen Gruppierungen aus der Romandie trafen sich am Nachmittag des 12. Novembers 2023 in Morges unter dem Thema «Eine Zugehörigkeit, die die Solidarität in den Vordergrund stellt» zur «Plateforme Christianisme Solidaire».
Das Ziel der Tagung, an der auch ChristNet beteiligt war, bestand darin aufzuzeigen, wie politisches Engagement aus dem Glauben heraus konkret aussehen kann. Die beiden Referenten René Knüsel und Michel Sommer gaben zunächst einen Input, die Absicht der Veranstaltung war es jedoch, die Teilnehmenden kollektiv an der Weiterentwicklung des Themas in Workshops und Diskussionen teilhaben zu lassen. So wurden die Workshop-Themen nicht vorgegeben, sondern während der Referate von den Teilnehmenden vorgeschlagen. Auf den aufgehängten Zetteln konnten sich weitere Interessierte eintragen, worauf vier Workshop-Gruppen entstanden.
Der Soziologe René Knüsel beschrieb unsere Gesellschaft als eine Welt pluraler und selektiver Zugehörigkeiten, die auch reversibel seien. Jeder und jede versuche, „sich selbst zu sein“. Es bestehe die Gefahr eines „allgemeinen Rückzugs“ ins individuelle Universum. Um diesem entgegenzuwirken, müsse die gegenseitige Akzeptanz oder das, was Soziologen als „organische Solidarität“ bezeichnen, über die soziologischen Unterschiede hinweg bewusst gepflegt werden. Trotzdem gelte es diese zu respektieren, um das Gegenüber auch wirklich anzuerkennen. Jeder Mensch habe heute seine identitätsstiftende „Bezugsgruppe“, die sich von Person zu Person unterscheide.
Der Bibelwissenschaftler Michel Sommer interpretierte insbesondere Galater 3,26-29 dahingehend, dass die ersten christlichen Gemeinden ein «Überkleid» namens «Christus» empfangen hätten, das sich über die bisherigen konflikthaft unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten hinweg gebildet habe. Die Zugehörigkeit zu Christus sei von Grund auf offen für Vielfalt – sowohl intern als auch extern – in Bezug auf Sprachen, soziale Bindungen, Kulturen, Religionen und Biografien. Das berühmte Gleichnis des barmherzigen Samariters beeindrucke gerade dadurch, dass es zeige, wie ein Samariter seine kulturellen Barrieren überwand, um einen verletzten Juden zu pflegen und sich so mit jemandem zu solidarisieren, den er wohl bis dahin nicht als Nächster anerkannt hätte (Lukas 10,25–37).
Die Plenumsdiskussion mit den Referenten machte deutlich, wie wichtig die Entscheidung für ein verbindliches Engagement ist: Dieses helfe, die Interpretation des Evangeliums zu verfeinern, uns darin zu schulen, einander zuzuhören und unsere Argumentationsfähigkeit zu entwickeln. All dies erfordere Orte des offenen Austauschs und Kirchenkonzepte, die offen für Auseinandersetzungen sind, statt Strukturen, die von Generation zu Generation unreflektiert weitergegeben werden.
Weiter unterstrichen Teilnehmende, dass es darum gehe, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und anzuerkennen, ihnen Sicherheit zu bieten, ohne ihre kulturelle Zugehörigkeit dominieren zu wollen. Dazu gehöre es auch zu lernen, wie man Frieden schafft, indem man eine Verbindung zu anderen herstellt, ohne Gemeinsamkeiten oder einen Beitrag von der Gegenseite vorauszusetzen. Dieses Lernen erfordere Lernorte, an denen man von Angesicht zu Angesicht mit anderen «seine Batterien auflädt». «Peuple de frères, peuple de sœurs» («Volk von Brüdern, Volk von Schwestern») sangen wir zum Abschluss dieses Nachmittags, der unsere Nähe und unsere gemeinsame Sensibilität und Inspirationsquelle trotz verschiedener Kirchenzugehörigkeiten bestätigt hatte.
Übersetzung / Redaktion: Barbara Streit-Stettler
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