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ChristNet steht seit seiner Gründung für Frieden und gewaltlosen Widerstand ein. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs möchten wir aber nicht blauäugig den Pazifismus hochhalten und uns damit auf die Ebene der Russlandversteher stellen. Dennoch will ChristNet auch jetzt das Bemühen um Frieden nicht tabuisieren und stattdessen den Verteidigungskrieg verherrlichen. In diesem Sinne veröffentlichen wir das folgende Interview mit Hansuli Gerber vom Täuferischen Forum für Frieden und Gerechtigkeit (TFFG), der differenziert erklärt, was der Begriff Pazifismus genau bedeutet, warum dieser ein Ideal bleiben soll und weshalb Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch sind.

Seit der Invasion Russlands in der Ukraine scheinen Bellizismus und Militarismus sehr en vogue zu sein bis weit ins linke politische Spektrum. Ist ein Verteidigungskrieg ein sinnvolles und berechtigtes Mittel gegen eine militärische Invasion?

Krieg geht von seinem Wesen ins Extreme und in die Länge. Dabei wird zwischen Zerstörung von Menschenleben und von Sachen kein Unterschied gemacht. Krieg ist immer ein Machtanspruch und sucht, diesen durch Zerstörung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erzwingen. Der Verteidigungskrieg beansprucht für sich, das Gute im Sinn zu haben, die Barbarei zu stoppen und vieles mehr. Doch ist auch er ein Krieg und ein Griff zur Barbarei, um Barbarei zu stoppen. Einen Verteidigungskrieg als geeignetes Gegengift gegen Krieg zu deklarieren ist zuerst mal eine Verharmlosung und Idealisierung des Kriegs und erst danach eine Missachtung der Einladung Gottes zur Liebe und Barmherzigkeit wie sie in Jesus Christus zum Ausdruck kommt.

Als Pazifistin bzw. Pazifist steht man heute plötzlich unter Rechtfertigungsdruck. Hat der Pazifismus versagt?

Der Pazifismus hat nie versagt. Menschen versagen und dass es in der Ukraine und anderswo Krieg gibt, liegt nicht am Pazifismus noch belegt es seine Unzulänglichkeit. Im Gegenteil, Krieg gibt es, weil er durch Aufrüstung vorbereitet wird und weil Menschen auf Waffen setzen, statt auf Begegnung und Kooperation. Weil die Gier vor dem Zusammenleben kommt. Weil das Geld regiert. In dieser Situation braucht es mehr Pazifismus, nicht weniger. Christen, welche Waffen ablehnen, müssen sich mit andern zusammentun, denn sie haben kein Monopol auf den Pazifismus. Menschen guten Willens, welche auf Gewaltlosigkeit setzen können zusammenarbeiten. Das Reich Gottes besteht nicht aus Christen, sondern aus gewaltloser Liebe. Gerade im Krieg ist für Christen der Aufruf «Liebet eure Feinde» die grosse und unumgängliche Herausforderung.

Was ist Gewaltlosigkeit genau? Oder umgekehrt: Was ist Gewalt, wie wird sie definiert? Worauf verzichtet jemand, der gewaltlos lebt?

Hinsichtlich der Gewalt gilt, dass sie einerseits als unausweichlich gesehen und gleichzeitig verharmlost wird. Da braucht es viel Forschung und Aufklärung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte zu Beginn der Jahre 2000 den ersten Bericht zu individueller und zwischenmenschlicher Gewalt. Darin stellte sie fest, dass Gewalt keine Fatalität sein muss und vermeidbar ist. Aufgrund dieses ausführlichen Berichts erklärte die die Versammlung der WHO 2003 Gewaltprävention zu einer Priorität des öffentlichen Gesundheitswesens. Individuelle bzw. zwischenmenschliche Gewalt wird von kollektiver Gewalt, also Krieg und Massengewalt, unterschieden und folgt anderen Logiken. Daher ist es nicht hilfreich, den Krieg und die Verteidigung inmitten des Kriegs mit der Vergewaltigung meiner Frau oder der Bedrohung oder Misshandlung deiner Kinder zu vergleichen. Hier ist Handeln und Widerstand angesagt, aber es ist Vorstellungsvermögen notwendig, es soll nicht zuerst an Waffengewalt gedacht werden, sondern an die vielen Möglichkeiten, den Angreifer zu überraschen und ihn so zu entwaffnen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Ich weiss von Menschen – und ich gehöre dazu, die bewusst keine Waffe im Haus haben, damit die Gefahr einer bewaffneten Eskalation verringert wird. Es ist der Mythos, dass Waffen uns bewahren, der so viele Menschen heute dazu verleitet, sich zu bewaffnen.

Wie kann man Gewalt verhindern?

Es geht darum, zu verstehen, dass Gewalt Gewalt hervorbringt und da ist aus theologischer Sicht unbewaffnetes und entwaffnendes Denken und Handeln angesagt. Dabei können wohl auch mal Tische und Stühle umgeworfen werden, was manche den Pazifisten und Pazifistinnen als Gewalttat Jesu vorhalten. Widerstand gegen Unrecht und Gewalt sind nicht nur legitim, sondern durchaus notwendig im Sinne des Evangeliums und der Bibel, und werden nicht umsonst von Theologen und Philosophinnen als Pflicht bezeichnet.

Gibt es Gewalt, die ihre Berechtigung hat? Beispielsweise Polizeigewalt bei einer Verhaftung?

Der Staat beansprucht ein Gewaltmonopol und das kann ihm zugestanden werden. Dabei muss man ohne Illusion sein: zu oft wird dieses Monopol missbraucht, was in der Struktur der Macht liegt. Der Staat wird von Menschen gemacht und die erliegen zu oft der Versuchung der Macht, welche zur Gewalt greift und diese einsetzt, nicht zur Bewahrung und Verteidigung von Menschen, sondern der bestehenden oder angestrebten Macht und Dominanz. Der Angriff auf die Ukraine verfolgt imperialistische Absichten. Diese machen vor Menschenopfern keinen Halt.

Das heisst, wenn man Pazifist:in ist und Gewalt ablehnt, muss man dem Staat gegenüber misstrauisch sein?

Pazifisten mögen ein sehr unterschiedliches Staats- und Demokratieverständnis haben. Wo zu Ende gedacht, hat Pazifismus nicht ein stures Prinzip, das religiös-ethisch-moralisch ist, sondern die Menschlichkeit im Auge. Dabei ist die Frage der Gerechtigkeit und der Macht- und Besitzverteilung unumgänglich. Das führt historisch immer dazu, dass Pazifismus mit Sozialismus und Anarchismus verbunden ist und damit mit einer Relativierung des staatlichen Absolutheitsanspruches. Auch die alten Täufer waren dem Staat gegenüber misstrauisch, und zu Recht, denn es ging ihm nicht um das Wohl der Menschen, sondern um die bestehende oder angestrebte Ordnung, in welcher die Privilegien und Macht klar auf der Seite der Herrschenden behielt. Wir suchen als Christen nicht, den Staat durch das Reich Gottes zu ersetzen. Doch wir folgen womöglich der Dynamik und den Regeln des Reiches Gottes, sowie Jesus dies gelebt hat. Wenn der Staat dadurch etwas menschlicher wird, umso besser. Unsere Mission ist, uns für die Liebe und gegen die Entmenschlichung einzusetzen. Entmenschlichung ist ein wichtiges Stichwort in einer von Krieg, Klimakrise und Technokratie geschüttelten Welt!

Ist Pazifismus immer mit Gewaltfreiheit gleichzusetzen oder geht Pazifismus auch mit Gewalt?

Der Begriff Pazifismus wird verschieden verstanden und je nach Kontext verschieden gebraucht. Vielleicht ist er weniger geeignet als Gewaltlosigkeit. Grundsätzlich bedeutet es, Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung oder zur Erreichung bestimmter Absichten abzulehnen, beziehungsweise die Teilnahme an gewalttätigen Handlungen zu verweigern. Es gibt verschiedene Pazifisten: Nuklearpazifistinnen beispielsweise lehnen Atombewaffnung aber nicht zwingend andere Waffen ab. Radikale Pazifisten dagegen stellen sich gegen jede militärische Bewaffnung und weigern sich, daran teilzunehmen. Es gibt Leute, die sind grundsätzlich der Gewaltlosigkeit verpflichtet, aber würden nicht in jedem Fall Gewalt ausschliessen. Das wohl grösste Problem mit dem Begriff ist, dass er mit Passivität verbunden wird oder gar mit Gleichgültigkeit. Das ist ein verhängnisvolles Missverständnis. Pazifismus hat einen nicht besonders guten Ruf und muss gewissermassen als Ideal rehabilitiert werden.

Inwiefern ist Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch?

Gewaltlosigkeit ist biblisch und vor allem evangelisch, weil sie den unbewaffneten Widerstand im Auge hat zum Wohl und zur Bewahrung aller betroffenen Menschen, statt einer bestimmten Ordnung. Sie weiss, dass wer zum Schwert greift, durch das Schwert umkommt. Und sei es die Generation danach. Jesus hat mit seiner unbewaffneten und entwaffnenden Art gezeigt, dass in der «Herrschaft» Gottes (Reich Gottes) andere Regeln gelten als im Staat und unter Menschen, die ihre Vorteile und Selbstbehauptung durchsetzen wollen. Die Natur ist wohl auf ihre Art gewalttätig, aber Gott ist gewaltlos und frei. Gott lässt den Menschen gewähren, sehr zu unserem Missfallen manchmal, aber das ist das Wesen seines Reiches, welches in Frieden, Gerechtigkeit und Freude besteht. Nicht mal der Gewaltherrschaft tritt Gott mit Gewalt entgegen. Er lässt die Reiche der Gewaltherrschaft einstürzen und diejenigen leer ausgehen, die nichts anderes als ihr Eigenes im Sinn hatten, wie es im Lobgesang von Maria steht.


Das Interview erschien erstmals auf www.menno.ch. Es wurde von Simon Rindlisbacher geführt.

 

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Gott möchte, dass alle Menschen ein Auskommen haben. In 5. Mose 15,4 heisst es gar «Es sollte überhaupt kein Armer unter Euch sein». Das Ziel einer Wirtschaftspolitik sollte also sein, diesen Zustand herzustellen, zumindest für alle Menschen guten Willens. Der Nationalrat hat nun aber im Dezember den Bundesrat beauftragt, die kantonalen Mindestlöhne dort zu abzuschaffen, wo nationale Gesamtarbeitsverträge bestehen. Dies kommt einer Lohnsenkung für diejenigen gleich, die schon sehr wenig haben, und bringt viele von ihnen in Not.

Ein Lohn sollte für eine Familie zum Leben reichen. Müsste man meinen. Doch für viele Familien in der Schweiz ist dies heute nicht der Fall. Nach den Zahlen des Bundesamtes für Statistik lebten im Jahr 2020 über 150’000 Erwachsene trotz entlöhnter Arbeit in Armut. Mit der starken Inflation im Jahr 2022 ist ihr Spielraum inzwischen noch enger geworden. In diesen Haushalten lebten auch knapp 100’000 Kinder. Nach dem Bundesamt für Statistik1  war bereits im Jahr 2014 jedes 20. Kind in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen und jedes sechste Kind armutsgefährdet. Dies auch deshalb, weil alleinerziehende Frauen in dieser Statistik überdurchschnittlich oft vertreten sind.

Drohende Lohnsenkungen

Besonders viele der bereits armutsbetroffenen Menschen arbeiten in Bereichen, wo wegen der erwähnten Aushebelung der kantonalen Mindestlöhne Lohnsenkungen drohen. Das gilt etwa für die 15’000 Menschen in der Gastronomie, wo die GAV-Mindestlöhne tiefer sind als die kantonalen Mindestlöhne. Im teuren Kanton Genf verdienen diese Angestellten heute 4000 Franken im Monat, in Neuenburg 3687, in Basel-Stadt 3728. Viele von ihnen riskieren mit der neuen Regelung eine Lohnsenkung auf den GAV-Mindestlohn von 3582 Franken und damit ein Abgleiten in die Armut. Bei den Coiffeuren und Coiffeusen sieht es sehr ähnlich aus.

Damit wird das Gegenteil des eigentlichen Ziels erreicht. Oder ist das Wohlergehen der Menschen, insbesondere derjenigen, die es am meisten brauchen, für die Parlamentsmehrheit gar kein Ziel? Worum geht es diesen Vertreterinnen und Vertretern des Volkes eigentlich?

Besser hinschauen statt ideologisch denken

Die Parlamentsmehrheit argumentierte, dass kantonale Mindestlöhne ein Eingriff in private Abmachungen von Sozialpartnern seien. Diese Argumentation ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass im Grunde die gesamte Gesetzgebung auf nationaler und kantonaler Ebene den Rahmen für private Abmachungen setzt. Was ist eigentlich wichtiger? Das Wohlergehen der Armen oder die Ideologie des Nichteingreifens?

Die Befürworter betonten die Stärkung der Sozialpartnerschaft durch die neue Regelung. Ein Schelm, wer Böses denkt, in der heutigen Zeit, wo auf Grund des abnehmenden Organisationsgrades die Gewerkschaften in dieser Partnerschaft regelmässig den Kürzeren ziehen.

Der Gewerbeverband meinte auch, dass sich viele Betriebe die Mindestlöhne nicht leisten könnten und dass dadurch viele Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Die Wirtschaftswissenschaft hat diese Denkweise schon längst widerlegt: In Grossbritannien wurde 1999 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der jährlich erhöht wurde. Wissenschaftliche Untersuchungen2 zeigten, dass dadurch insgesamt keine Arbeitsplätze vernichtet, sondern tendenziell eher mehr geschaffen wurden. Dies deshalb, weil die wenig Verdienenden das zusätzliche Geld nicht horten können, sondern meist grad wieder vor Ort ausgeben. Auch in den USA3 wurden ähnliche Erfahrungen gemacht; und in Genf haben sich ebenfalls keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gezeigt.

Die Wirtschaftspolitik neu ausrichten

Unsere Wirtschaftspolitik sollte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht auf Ideologien gründen. Und sie muss die Gesamtzahl der Arbeitsplätze im Auge behalten. Durch Mindestlöhne werden mehr davon geschaffen. Wenn die Wirtschaftspolitik irgendjemandem zu Gute kommen soll, dann doch vorerst denjenigen, die es am meisten brauchen. Wenn das nicht erreicht wird, oder wenn wie im vorliegenden Fall den Ärmsten das Wenige, das sie haben, gar weggenommen wird, dann muss das als Totalversagen der Politik gewertet werden.

Dann ist es höchste Zeit, über die Bücher zu gehen und die Wirtschaftspolitik neu auszurichten: Die Ziele müssen neu definiert und den Akteuren verständlich gemacht werden.

Vielleicht stellt sich aber auch die Frage, wie weit wir als Gesellschaft die Nächstenliebe ernst nehmen. Inwiefern ist uns das Leben der Benachteiligten in der Gesellschaft überhaupt noch ein Anliegen? Vielleicht ist das gar die entscheidende Frage!


1. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home.assetdetail.1320142.html

2.  https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-grossbritannien-loehne-und-jobs-stabilisiert-10342.htm

3.  https://www.letemps.ch/economie/six-enseignements-salaire-minimum

(Bild: Ricardo Gatica auf Pixabay)

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Ein biblisch-theologischer Überblick

«ChristNet-Forum – Wie Geld die Politik und uns selber bestimmt
Samstag, 28. Januar 2023, Nägeligasse 9, Bern»
Es gilt das gesprochene Wort

Gott und Geld – es ist kompliziert

Gott und Geld – das passt nicht zusammen. Dieser Beziehungsstatus ist gelinde gesagt «kompliziert». Zu diesem Schluss muss kommen, wer an das bekannte Jesus-Wort denkt:
«Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon» (Mt 6,24).

Dieses Entweder-Oder irritiert, kennt das Alte Testament doch eine wesentlich differenzierte Sicht auf Geld, Wohlstand und Reichtum. Es lassen sich drei Positionen unterscheiden:1

  • Reichtum (Geld) als Segen
    Reichtum wird immer wied er ausdrücklich als Gabe Gottes genannt . Etwa wenn Abrahams Verwalter sagt: «Gott hat meinen Gebieter reichlich gesegnet, so dass
    er reich geworden ist; er hat ihm Schafe und Rinder, Silber und Gold, Sklavinnen und Sklaven, Kamele und Esel gegeben» Gen 24,35
  • Warnung vor den Gefahren des Reichtums
    Das AT verweist durchaus auf Gefahren des Reichtums, wenn etwa der weisheitliche Prediger festhält: «Wer das Geld lieb hat, wird des Geldes nicht satt» Koh 5,9
  • Kritik am Reichtum
    Diese Warnung geht in teils harsche Kritik an Reichtum über, der unrechtmässig erworben wurde. Die daraus folgenden sozialen Missstände werden von Propheten wie Jeremia schonungslos angeprangert: «[…] so sind ihre Häuser voll Betrug; dadurch sind sie mächtig und reich geworden, fett, feist. Auch sündigen sie durch ruchloses Tun. Das Recht pflegen sie nicht, dem Recht der Waisen verhalfen sie nicht zum Erfolg und die Sache der Armen entscheiden sie nicht» (Jer 5,27b-28).

Der hier kritisierten sozialen Ungerechtigkeit steht im Alten Testament eine umfassende Sozialordnung gegenüber, die diese Missstände beheben oder zumindest ausgleichen will.2 Die Kritik an den Reichen spitzt sich im Neuen Testament mit dem eingangs zitierten Jesus-Wort deutlich zu. Mit Burkhard Hose lässt sich sagen:
«Die Reichen haben es schwer im Neuen Testament. Gemessen an anderen Themen nehmen die reichtumskritischen Töne in den Jesusüberlieferungen einen verhältnismässig breiten Raum ein […]. Die Botschaft ist unmissverständlich: Geld versperrt den Weg zu Gott – zumindest, solange man es für sich behält.»3

Wie ist mit dieser biblischen Ambivalenz zum Thema «Geld» umzugehen?

Geld muss dienen

Als neu gewählter Papst veröffentlichte Franziskus im November 2013 sein erstes Apostolisches Schreiben.4 Darin warnt er vor der Vergötterung des Geldes und schreibt: «Das Geld muss dienen und nicht regieren!»5

In diesem Sinn rief der Papst dann 2014 die Teilnehmenden am WEF in Davos auf, «sicherzustellen, dass Wohlstand der Menschheit dient, anstatt sie zu beherrschen.»6

Diese Aussage des Papstes kann sich auf viele Stellen in der Bibel berufen. Sie hier umfassend und nuanciert darzustellen, ist nicht möglich. Ich muss mich hier auf ein Beispiel beschränken. Ein Beispiel, das zeigt: Geld darf nicht knechten. Es muss das Leben ermöglichen.

Mit Geld Gutes tun?

Ein erster kritischer Blick (Mk 12,41-44)

41 Und er [Jesus] setzte sich der Schatzkammer gegenüber und sah zu, wie die Leute Geld in den Opferstock warfen. Und viele Reiche warfen viel ein.
42 Da kam eine arme Witwe und warf zwei Lepta ein, das ist ein Quadrant.
43 Und er rief seine Jünger herbei und sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr eingeworfen als alle, die etwas in den Opferstock eingeworfen haben.
44 Denn alle haben aus ihrem Überfluss etwas eingeworfen, sie aber hat aus ihrem Mangel alles hergegeben, was sie hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt.

Dies Szene spielt im Tempelbereich.
Im Bereich der Tempelschatzkammer sind die Opferstöcke aufgestellt. Die Gaben werden von den Priestern überprüft und dann in den Opferstock gelegt. Jesus beobachtet mit seinen Jüngern die Szenerie. Die Jünger sind vermutlich von den hohen Spendensummen beeindruckt. Doch Jesus lenkt ihren Blick auf eine Witwe, die zwei Lepta gibt (ein Zehntel eines normalen Tageslohnes). Diese Witwe hat ihren ganzen Lebensunterhalt (ihr ganzes Leben: bi,oj) investiert. Jesus schaut kritisch auf das, was ihm da vor Augen liegt.

  • Mit Geld Gutes tun, ist für ihn mehr als grosszügige Wohltätigkeit.
  • Mit Geld Gutes tun, darf nicht zur (frommen) Selbstinszenierung verkommen.
  • Mit Geld Gutes tun, ist nicht eine Frage von möglichst ho hen Geldsummen.
  • Mit Geld Gutes tun, bedeu tet nicht lediglich vom Übermass geben, sondern beinhaltet auch den Verzicht zugunsten Anderer.
  • Mit Geld Gutes tun, stellt die Frage nach Motivation und Haltung.

Jesus lenkt den Blick auf die arme Witwe.

  • Gerne wird sie in ihrem Umgang mit Geld als Vorbild dargestellt.
  • Ihr Vorbild animiert dazu, nicht kleinlich zu sein. Mehr zu spenden und damit auch mehr Gutes zu tun.

Kritischer Einwand: Ist diese arme Witwe aber wirklich ein Vorbild?

  • Sicher: Ihre Haltung ist beeindruckend und die Sympathien in diese m Text sind klar bei ihr.
  • Aber: Jesus lobt ihr interessanterweise Verhalten nicht ausdrücklich. Er sagt  seinen Jüngern nicht: «Macht es wie diese Witwe.» Sie wird von ihm nicht als explizites Vorbild dargestellt das tun meist die, die über das Spenden predigen.

Ich wage daher noch einen zweiten kritischen Blick auf diese Szene. Und dieser ergibt sich aus dem textlichen Zusammenhang. Just vor dieser Passage mit der armen Witwe lesen wir folgendes:

Ein zweiter kritischer Blick (Mk 12,37b-40)

37bUnd viele Leute hörten ihm [Jesus] gerne zu.
38 Und er lehrte sie und sprach: Hütet euch vor den Schriftgelehrten, denen es gefällt, in langen Gewändern einherzugehen und auf den Marktplätzen gegrüsst zu werden
39 und in den Synagogen den Ehrensitz und bei den Gastmählern die Ehrenplätze einzunehmen,
40 die die Häuser der Witwen leer fressen und zum Schein lange Gebete verrichten – sie werden ein umso härteres Urteil empfangen.

Auch diese Szene spielt bereits im Tempel. Sie enthält eine Warnung vor den Schriftgelehrten. Denn die kommen ihrer Aufgabe als «Hirten» nicht nach. Schlimmer noch: Sie «fressen die Häuser der Witwen leer»!

Damit erscheint das Scherflein der Witwe in einem neuen Licht. Sie ist gewissermassen Opfer eines ungerechten Systems. Anstatt die Witwen zu schützen (vgl. Dtn 24,17.20-21) bereichern sich die Schriftgelehren – und damit das Tempelsystem – am Geld dieser armen Bevölkerungsschicht. → ausbeuterisches System

Mit Geld Gutes tun, bedeutet daher

  • nicht, dass eine arme Witwe noch ihren letzten Rappen geben muss
  • sondern, dass diese Witwe Geld erhält

Mit Geld Gutes tun, kann da geschehen, wo Finanzsysteme die Reichen nicht immer reicher und die Armen nicht immer ärmer macht.

Alternatives System

Geld muss dienen und nicht regieren! Diese Grundüberzeugung ist tief in den biblischen Schriften verankert. So gehört das Ringen um eine alternative Wirtschaftsform zu den bemerkenswerten Kennzeichen der Jerusalemer Gemeinde.

Die zuweilen als „Liebeskommunismus“ belächelte Gütergemeinschaft in Apostelgeschichte 4,32 war kein kommunistisches Ideal, wurde das Privateigentum doch nicht abgeschafft. Worauf es ankam, war aber die radikale Bereitschaft zum Teilen. Wenn der Bericht festhält, dass dies dazu führte, dass keiner unter ihnen Mangel litt (Apg 4,34), muss dies als Erfüllung der Sozialgesetzgebung aus Dtn 15,4f. gelesen werden, wo es heisst, dass es in Israel keine Armen geben soll.

Es ist dies eine Entscheidung für Gott und gegen den Mammon.

Geld – eine geistliche Frage

Denn die von Jesus formulierte Alternative – Gott oder Mammon – ist letztlich nicht eine moralische Frage, sondern eine spirituelle.

«Jesus spricht zunächst gar nicht über die Weise, wie man sein Geld benützt. Wenn er vom Reichtum spricht, geht es um die Frage, worauf man sein Dasein baut – und damit formuliert er auf dem Fundament der alttestamentlichen Tradition eine neue und radikalere Frage: Worauf baust du dein Leben? Welchem Gott gibst du dich hin?»7

Es ist daher durchaus bemerkenswert, dass der sogenannte «Sündenfall» in Genesis 3 aus ökonomischer Perspektive als «Konsumsünde» gelesen werden kann.8 Eine Frage der Schlange reicht, um die Aufmerksamkeit der Menschen mit klugem Marketing auf den einen Baum inmitten vieler Bäume zu lenken. Die anfängliche Neugier weicht rasch der Begierde.

Diesen einen Baum, seine Früchte – so schön. Das Produkt wird absolut begehrenswert. Das müssen wir haben. Nicht weil wir hungrig sind, sondern weil die Gier geweckt nach etwas geweckt ist, dass wir eigentlich nicht brauchen. Dafür riskiert der Mensch den paradiesischen Garten. Seine Gier entfernt ihn von Gott, seinen Mitmenschen und der übrigen Schöpfung.

Dieses Muster zieht sich durch die Menschheitsgeschichte, so dass der 1Timotheusbrief pauschalisierend festhält: «Denn Geldgier ist eine Wurzel alles Übels; danach hat einige gelüstet und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Schmerzen» (1Tim 6,10).

Solidarität und Gerechtigkeit

Wenn Geld dienen und nicht herrschen soll, darf Geld nicht zum Gott werden. Die Bibel appelliert daher im Umgang mit Reichtum und Besitz immer wieder an «Solidarität» und «Gerechtigkeit», um der lebensverhindernden Gier auf Kosten anderer zu begegnen.9

In der Erzählung von der armen Witwe zeigt sich, dass diese eine Verabschiedung von einer «Wohltäter-Mentalität»10 bedeutet. Reiche konnten sich ihren Status und Einfluss nicht mehr länger mit teils grosszügigen Spenden sichern. Gefordert ist eine Umverteilung, die neue Machtverhältnisse mit sich bringt:

«Das Verhältnis von Reich und Arm gestaltet sich nicht mehr vertikal – nach dem Motto: die Reichen geben von oben herab etwas von ihrem Geld, damit die Bedürftigen leben können, sondern horizontal: Wer reich ist, begibt sich auf eine Ebene mit den armen Gemeindegliedern und wir selber arm. Die Armen aber gewinnen an Ansehen und werden selber reich. […] Eine gerechte Umverteilung der Güter beinhaltet demnach immer auch die Notwendigkeit einer Beteiligung der Schwachen an der Macht.»11

Quer durch die Jahrhunderte gab es immer wieder Bewegungen, die auf diese Weise beitragen wollten, dass Geld nicht regiert, sondern dient. Wie unser Beitrag dazu aussieht, müssen wir für uns klären.


1. Vgl.RAINER KESSLER: Reichtum (AT), in: wibilex (2006) Online: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/33027/ [Zugriff am 23. Januar 2023]

2. Vgl. LUKAS AMSTUTZ: Werte, Menschenbild und soziale Verantwortung. Alttestamentliche Aspekte, in: Mennonitisches Jahrbuch (Soziale Verantwortung) (2007), S. 14–18 Ferner auch: LUKAS AMSTUTZ: Das Jubeljahr in Bibel und Theologie, in: Die Schweiz, Gott und das Geld, hrsg. von ChristNet, St. Prex 2013, S. 159–177.

3. BURKHARD HOSE: Kirche der Reichen? Ein neutestamentlicher Denkanstoss, in: BiKi 62 (2007), 1, S. 42–45, hier S. 43.

4. Deutscher Text von Evangelii gaudium online zugänglich: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html#Nein_zu_einem_Geld,_das_regiert,_statt_zu_dienen [Zugriff am 24. Januar 2023]

5. Absatz 58 im obigen Dokument.

6. Deutscher Text online zugänglich: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/messages/pont-messages/2014/documents/papa-francesco_20140117_messaggio-wef-davos.html [Zugriff am 23. Januar 2023]

7. DANIEL MARGUERAT: Gott und Geld – ein Widerspruch? Wie die Bibel Reichtum und Besitz einschätzt, in: Welt und Umwelt der Bibel [WuB] (2008), 1, S. 10–15, hier S. 12–14.

8. TOMÁŠ SEDLÁČEK: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2013 (Goldmann, 15754), S. 270–272.

9. Zu den Begriffen «Solidarität» und «Gerechtigkeit» als regulative Ideen der Bibel, siehe MICHAEL SCHRAMM: Das gelobte Land der Bibel und der moderne Kapitalismus. Vom „garstig breiten Graben“ zur „regulativen Idee“, in: BiKi 62 (2007), 1, S. 37–41.

10. Vgl. hierzu Gerd Theissen, Die Religion der ersten Christen: Eine Theorie des Urchristentums. 3. Aufl. Gütersloh 2003, 133-146.

11. Burkhard Hose, «Kirche der Reichen? Ein neutestamentlicher Denkanstoss», in: BiKi 1/2007, 42-45, hier 44.

 

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«Wie Geld die Politik und uns selber bestimmt». Unter diesem Thema lud die linksevangelikale Gruppe «ChristNet» am 28. Januar in Bern zu einem Forum ein. Gut 30 Teilnehmende wollten mehr darüber wissen.

Laut dem mennonitischen Theologen Lukas Amstutz gibt es im Alten Testament drei Positionen zum Geld: Reichtum als Segen – etwa bei Abraham –, die weisheitliche Warnung vor den Gefahren und die prophetische Kritik an unrechtmässig erworbenem Reichtum, der zu sozialen Ungerechtigkeiten führe. Die göttliche Reaktion darauf sei der Ausgleich dieser Ungerechtigkeiten. Im Neuen Testament gebe es dann eine breite Kritik an den Reichen. Geld versperre den Weg zu Gott, solange man es für sich behalte. Oder in den Worten des aktuellen Papstes: «Das Geld muss dienen, es darf nicht beherrschen.» Im Spendenverhalten am Opferstock in Markus 12 sieht Amstutz mehr als den Gegensatz zwischen Reichen, die aus ihrem Überfluss geben und einer Witwe, die trotz ihres Mangels alles gibt. Laut der Vorgeschichte gehe es viel mehr um die Ausbeutung dieser Witwe durch die Reichen, welche die Häuser der Witwen leer fressen. Eigentlich müsste die Witwe das Geld erhalten. Schon der Sündenfall sei eine Konsumsünde gewesen: eine Frage habe gereicht, um aus Neugierde Gier zu machen. Die Reichen sollten dafür sorgen, dass die
Armen selber reich werden können.

Die Berner Politologin Laura Brechbühler hat in ihrem Studium den Einfluss des Geldes in der Schweizer Politik durch Lobbying und Politikfinanzierung untersucht. Unterdessen müssten die Parlamentarier bezahlte und unbezahlte Mandate ausweisen, über deren Höhe wisse man aber wenig. Die Mitte werde dabei am meisten umworben. Das Haupt-Lobbying finde aber ausserhalb des Bundeshauses statt. Da es keine staatliche Politikfinanzierung gebe, seien Spenden entscheidend. Bei den rechten Parteien gebe es tendenziell weniger davon, weil dort die Unternehmen mehr investieren. Der genaue Einfluss sei aber unklar. Deshalb müsse es mehr Transparenz geben, wie dies mit dem Gegenvorschlag zur Transparenz-Initiative in den kommenden Parlamentswahlen erstmals geschehen sollte.

Der Baselbieter Nationalrat Eric Nussbaumer erläuterte das Parlamentarier-Shopping: Wer in einer Kommission sitzt, bekommt automatisch Mandate angetragen. Dies ist für ihn «die schlimmste Entwicklung». Nussbaumer wandte sich aber gegen den Eindruck, dass alle politisch Tätigen käuflich seien. Das Milizsystem sei im Kern ein bezahltes Lobbying. Deshalb bleibe die entscheidende Frage «Welche Werte beeinflussen mich?» Lobbyarbeit für die Schwächsten – etwa im Asylbereich – sei in der Regel nicht möglich. Das wirkliche Problem sei deshalb das Geld: «Das Problem mit dem Lobbyismus ist das Ungleichgewicht in der Interessenvertretung. Die verschiedenen Gruppen haben ungleiche Mittel, sich in der Politik Gehör zu verschaffen.» Christen sollten deshalb zu Lobbyisten werden für solche, die keine Lobby haben. Ziel sei die Ausgewogenheit aller politischen Entscheidungen, nachvollziehbar und transparent. Am Schluss zähle das wahre Argument, das – hoffentlich – nicht gekauft sei.

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Jacques Ellul gilt heute als einer der wichtigsten Vordenker der französischen Décroissance-Bewegung, die sich seit etwa der Jahrtausendwende formiert und mit der ich mich in meinem Buch „Der Schritt zur Seite“ beschäftige. Man kann Ellul nicht in eine Schublade stecken. So war er Widerstandskämpfer, Marx-Kenner und zugleich Antikommunist, was ihn von so vielen heute (noch) hochverehrten französischen Denkern unterschied, die trotz aller offensichtlichen menschlichen und Umweltverbrechen unter Stalin und darüber hinaus den UdSSR-Kommunismus als alleinige Alternative zum Kapitalismus sahen.

Er war libertär, dem Geiste nach den Situationisten nahestehend und Guy Debord freundschaftlich verbunden, zugleich aber auch gläubiger Christ, was eine Aufnahme in Debords engen Zirkel in dessen Augen unmöglich machte. Aktiv und „lokal“ hat sich Ellul gegen die Verschandelung der französischen Regionen durch Industrie, Infrastruktur, Tourismus und generell den „Fortschritt“ zur Wehr gesetzt. Theoretischer und „global“ hat er als Autor von Dutzenden größeren Veröffentlichungen schon früh Phänomene und Zusammenhänge beschrieben, die erst später, zum Teil erst heute, ihre katastrophalen Folgen zeigen – moderne Propaganda, Globalisierung, Atom-, Nano- und Gentechnik, „Fortschritt“ als Religionsersatz, die Gleichformung des Menschen, die Rolle des Staates, kurz: den „technologischen Totalitarismus“, mit all seinen psychologischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen.

Vor allem blieb er sein Leben lang seinen Überzeugungen treu und war niemals auf akademische oder mediale Ehren aus. Leidlich bekannt geworden ist er zunächst in den USA, nachdem dort sein erstes Buch La Technique durch Vermittlung von Aldous Huxley übersetzt und veröffentlicht worden war. Entsprechend bedeutsam ist auch heute noch die Beschäftigung mit seinen Schriften im englischsprachigen Raum. In seiner Heimat Frankreich wird er gerade erst (wieder)entdeckt, nicht zuletzt als Autor des fast schon zur Marke gewordenen Spruchs „global denken, lokal handeln“.

13 Thesen zur „Technologie“

Es ist schwer, Elluls sehr umfangreiches Werk im Rahmen eines kleinen Artikels auf wenige greifbare Sätze herunterzubrechen. Der Ellul-Kenner Jean-Luc Porquet rechnet folgende zu Elluls wichtigsten und aktuellsten Analysen – der Begriff „Technologie“ (bei Ellul technique) ist hier als die Gesamtheit der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis zu verstehen, ähnlich Lewis Mumfords „Megamaschine“:

1. Die Technologie macht die Zukunft unvorhersehbar.
Niemand weiß, wie die Welt in zwanzig Jahren aussehen wird. Ein Beispiel: 1965 hat Gordon Moore korrekt vorhergesagt, dass sich Rechnerleistungen und Chipkapazitäten alle anderthalb Jahre verdoppeln würden, aber niemand konnte sich noch vor wenigen Jahren die Folgen dieser Entwicklung ausmalen.

2. Die Technologie ist weder gut noch schlecht.
Das bedeutet nicht etwa, sie sei neutral und alles hänge von ihrer Anwendung ab. Ihre Entwicklung vollzieht sich jenseits aller Moral, die negative, militärische, unmenschliche Nutzung läuft parallel zur positiven.

3. Die Technologie wächst aufgrund ihrer inneren Logik unaufhörlich.
Zunächst voneinander unabhängige Entdeckungen und Entwicklungen verbinden und verstärken sich, führen zu neuen Entdeckungen und Anwendungen, man denke an die immer weiter um sich greifende Gen- oder Nanotechnologie. Was gemacht werden kann, wird gemacht.

4. Die Technologie schafft Probleme, die sie durch neue Technik zu lösen verspricht.
Egal ob Umweltverschmutzung, Klimawandel, Artensterben, Atommüll – alle großen und viele nur im Vergleich „kleine“ Probleme wie z.B. die Zivilisationskrankheiten sind Folgen der technologischen Entwicklung, und das vermeintlich einzige Heilmittel ist „mehr davon“.

5. Die Probleme der Technologie werden erst bewusst, wenn sie unentwirrbar und massiv sind.
Die von uns Industrienationen herbeigeführten Veränderungen (Klima, Gifte, Artensterben etc.) betreffen den ganzen Erdball; wir spüren die Auswirkungen unseres Handelns allerdings erst mit jahrelanger Verzögerung.

6. Die Technologie ist undemokratisch.
Niemand wählt den „Fortschritt“, im besten Falle werden wir informiert oder als Laien an einen runden Tisch voller Expert/innen und Entscheider/innen gebeten.

7. Die Technologie ist zur Religion geworden.
„Fortschritt“ und Wachstum sind Dogmen, wer sie kritisiert, ist Ketzer und wird medial geächtet.

8. Die Technologie stärkt den Staat, der wiederum die Technologie antreibt.
Ellul warnte die Umweltbewegung vor einer Politisierung im bestehenden System und generell vor wachsender Überwachung und Unterdrückung unter ökologischem Vorwand.

9. Die transnationalen Unternehmen sind Abkömmlinge der Technologie.
Zu Elluls Zeiten galt für die Chemie- und Pharmaindustrie das Gleiche wie heute für Google, Facebook oder Amazon: Der „Fortschritt“ bestimmt die Wirtschaft und umgekehrt, Staat, Gesellschaft und der Mensch in ihnen sind nachgeordnet.

10. Eine technologisierte Gesellschaft braucht Propaganda.
Der Staat „bildet“ die Meinung der Wähler, damit sie zu wollen meinen, was für sie entschieden wurde.

11. Werbung und technologische Irreführung („Bluff“) sind der Antrieb der technologischen Gesellschaft.
Werbung ist die Propaganda der Technologie- und Konsumgesellschaft. Ihre Milliarden finanzieren Rundfunkmedien und „freie“ Presse, ihre Inhalte formen Ansichten, Geschmäcker und Lebensstile.

12. Die Technologie macht alle Kulturen gleich; sie ist die eigentliche Globalisierung.
Egal ob im Nachbarland, in China oder bei „indigenen Völkern“, die vermeintlichen Segnungen der westlichen Industrie nivellieren über kurz oder lang alle kulturellen Unterschiede.

13. Die Technologie erschöpft die Naturvorkommen.
Was heute banal erscheint, wusste Ellul schon 1954: Der „Fortschritt“ stößt an natürliche Grenzen.

Damit sind, wie gesagt, Elluls Ideen gerade einmal angerissen. Man sieht, er gehört zweifellos zu den im positiven Sinne „radikalen“ Denker/innen, denen es nicht darum geht, techn(olog)ische Lösungen für ebensolche Probleme zu finden, sondern die Übel der modernen Welt von ihrer Wurzel (lat. radix) her zu verstehen. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens seine wichtigsten Werke bald der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht werden.

 

Illustration © Stéphane Torossian, aus dem Buch: Cédric Biagini, David Murray, Pierre Thiesset (Hg.): Aux origines de la décroissance. Cinquante penseurs. Paris: L’Echappée 2017.

Eine Langfassung des Artikels ist in der Nr. 59 der philosophischen Zeitschrift Lichtwolf erschienen (September 2017).

 

Französisch- und englischsprachige Auswahlbibliographie (nach Original-Erscheinungsdatum sortiert):

Money and Power. Trans. LaVonne Neff. Downers Grove, IL: InterVarsity, 1984. Basingstoke, England: Marshall Pickering, 1986. Eugene, OR: Wipf & Stock, 2009.
L’homme et l’argent (Nova et Vetera). Neuchâtel: Delachaux & Niestlé, 1954. Lausanne: Presses Bibliques Universitaires, 1979.
Reprinted in Le défi et le nouveau: œuvres théologiques, 1948–1991. Paris: Table ronde, 2006, 2007.

The Technological Society. Trans. John Wilkinson. New York: Knopf, 1964. London: Jonathan Cape, 1965. Rev. ed. New York: Knopf, 1967.
La technique, ou, l’enjeu du siècle. Paris: Colin, 1954. Paris: Économica, 1990, 2008.

Propaganda: The Formation of Men’s Attitudes. Trans. Konrad Kellen and Jean Lerner. New York: Knopf, 1965. New York: Random, 1973.
Propagandes. Paris: Colin, 1962. Paris: Économica, 1990, 2008.

The Political Illusion. Trans. Konrad Kellen. New York: Knopf, 1967. New York: Random House, 1972.
L’illusion politique. Paris: Robert Laffont, 1965. Paris: Livre de poche, 1977. Paris: Librairie Générale Française, 1977. Paris: Table ronde, 2004, 2012.

A Critique of the New Commonplaces. Trans. Helen Weaver. New York: Knopf, 1968. Eugene, OR: Wipf & Stock, 2012.
Exégèse des nouveaux lieux communs. Paris: Calmann-Lévy, 1966. Paris: Table ronde, 1994, 2004.

Métamorphose du bourgeois. Paris: Calmann-Lévy, 1967. Paris: Table ronde, 1998, 2012.

Les Chrétiens et l’État. With Jacques Jullien and Pierre L’Huillier. Tours: Mame, 1967.

Autopsy of Revolution. Trans. Patricia Wolf. New York: Knopf, 1971. Eugene, OR: Wipf & Stock, 2012.
Autopsie de la révolution. Paris: Calmann-Lévy, 1969. Paris: Table ronde, 2008.

De la révolution aux révoltes. Paris: Calmann-Lévy, 1972. Paris: Table ronde, 2011.

Hope in Time of Abandonment. Trans. C. Edward Hopkin. New York: Seabury, 1973. Eugene, OR: Wipf & Stock, 2012.
L’espérance oubliée. Paris: Gallimard, 1972. Paris: Table ronde, 2004.

The Ethics of Freedom. Trans. Geoffrey Bromiley. Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1976. London: Mowbrays, 1976.
Éthique de la liberté. V. 1, Paris: Librairie Protestante, 1973. Geneva: Labor et Fides, 1973. V. 2, 1974. V. 3, Paris: Centurion, 1984.

The New Demons. Trans. C. Edward Hopkin. New York: Seabury, 1975. London: Mowbrays, 1975.
Les nouveaux possédés. Paris: Fayard, 1973. Paris: Mille et une nuits, 2003.

The Betrayal of the West. Trans. Matthew O’Connell. New York: Seabury, 1978.
Trahison de l’Occident. Paris: Calmann-Lévy, 1975. Paris: Princi Negue, 2003.

The Technological System. Trans. Joachim Neugroschel. New York: Continuum, 1980.
Le système technicien. Paris: Calmann-Lévy, 1977. Paris: Cherche-midi, 2004, 2012.

The Empire of Non-Sense: Art in the Technological Society. Trans. Michael Johnson and David Lovekin. Winterbourne, UK: Papadakis, 2014.
L’empire du non-sens: l’art et la société technicienne. Paris: Presse Universitaires de France, 1980.

The Humiliation of the Word. Trans. Joyce Main Hanks. Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1985.
La Parole humiliée. Paris: Seuil, 1981. Paris: Table ronde, 2014.

Changer de révolution: l’inéluctable prolétariat. Paris: Seuil, 1982. Paris: Table ronde, 2015.

Anarchy and Christianity. Trans. Geoffrey Bromiley. Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1991. Eugene, OR: Wipf & Stock, 2011.
Anarchie et Christianisme. Lyon: Atelier de Création Libertaire, 1988. Paris: Table ronde, 1998, 2001.

The Technological Bluff. Trans. Geoffrey Bromiley. Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1990.
Le bluff technologique. Paris: Hachette, 1988, 1990, 2004. Paris: Pluriel, 2012.

What I Believe. Trans. Geoffrey Bromiley. Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1989.
Ce que je crois. Paris: Grasset, 1987, 1989.

https://www.jacques-ellul.org/

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~ 4 min

Das SDG 16 (Sustainable Development Goal 16) will die Entstehung friedlicherer Gesellschaften fördern. Es ist erwiesen, dass Entwicklung nur in friedlichem Rahmen nachhaltig sein kann. Aber wie kann man konkret nach Frieden auf kollektiver und persönlicher Ebene streben? Interview mit Salome Haldemann, mennonitische Pfarrerin.

Wir dachten, Krieg in Europa gehöre der Vergangenheit an. Doch die Nachrichten am 24. Februar belehrten uns eines Besseren … Warum ist der Krieg, obwohl wir seine gravierenden Folgen kennen, immer noch europäische Aktualität?

Es stimmt, dass uns das Fragen aufwirft! Die Europäer glaubten bereits 1914, dass der 1. Weltkrieg der Krieg sein würde, der allen Kriegen ein Ende setzt, der „der der“. Doch trotz seiner Sinnlosigkeit und seines Leids tobt er immer noch. Es gibt zwei Denkschulen über den Ursprung des Krieges. Die eine sieht den Krieg als in der menschlichen Natur verankert: Menschen werden aggressiv, wenn sie sich verteidigen oder wenn sie etwas erreichen wollen. Er ist daher unvermeidlich. Der zweite Ansatz geht davon aus, dass ungerechte Systeme zu Krieg führen. Weder die Natur noch die Strukturen lassen sich leicht ändern, was erklärt, warum es immer noch Krieg gibt. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es ein ganzes Spektrum von gewalttätigen Konflikten gibt, das von der interindividuellen Ebene (häusliche Gewalt, „Schlägerei“ zwischen zwei Personen), über bewaffnete Konflikte zwischen Gruppen (Bandenkrieg, Aufstände) bis hin zum Krieg zwischen Nationen reicht. Der einzige Unterschied zwischen diesen Konflikten ist die Anzahl der der involvierten Personen. Vom eigentlichen Krieg spricht man erst ab 50’000 Beteiligten. In all diesen Konflikten wird Gewalt eingesetzt, um den anderen dazu zu zwingen, das zu tun, was wir von ihm wollen. Und leider ist es ein sehr menschlicher Wunsch, kontrollieren zu wollen, was andere tun.

Wie sollen wir reagieren, wenn wir selbst Opfer eines bewaffneten oder politischen Konflikts werden, der die eigenen Rechte bzw. den persönlichen Lebensstandard beeinträchtigt?

Wir müssen aufpassen, dass wir Konflikte nicht nur danach bewerten, wie sie sich auf unsere Rechte oder unser Lebensumfeld auswirken. Wenn wir Teil einer privilegierten Gruppe sind, kann sich eine Bewegung für mehr Gerechtigkeit wie eine Beschneidung unseres Lebensstandards anfühlen. Dennoch hat diese Bewegung ihre Berechtigung. In diesem Fall ist der Auslöser des Konflikts eher die Ungerechtigkeit und Unterdrückung einer Gruppe. In solchen Fällen sind wir meiner Meinung nach dazu aufgerufen, dem Bösen Grenzen zu setzen, indem wir nach kreativen Wegen suchen, die Feindesliebe mit dem Schutz von Menschen zu verbinden. Bewegungen des gewaltfreien zivilen Widerstands gehen in diese Richtung.

Wie können die Kirchen daran arbeiten, die Gesellschaft friedlicher zu machen?

Auf struktureller und kultureller Ebene können die Kirchen mehr Frieden in die Gesellschaft bringen, indem sie sich für Gerechtigkeit einsetzen und an der Seite der unterdrückten Menschen und Bevölkerungsgruppen stehen. Paradoxerweise müssen Kirchen daher manchmal bereit sein, das Feuer eines Konflikts zu schüren – ohne Gewalt anzuwenden -, um Ungerechtigkeiten ans Licht zu bringen und einen Wandel auszulösen. Dies kann in Form von Demonstrationen, Einflussnahme auf die Politik oder eines Engagements im Stadtleben oder in anderen Organisationen geschehen. Auf der zwischenmenschlichen Ebene sind Kirchen ein echtes Konfliktlabor. Es ist nicht zu verhindern, dass sie zwischen all den unterschiedlichen Menschen stehen, die davon überzeugt sind, im Recht zu sein. Sie sind der ideale Ort, um zu lernen, wie man mit anderen zusammenlebt, und um im Gebet und mit Gottes Hilfe an unseren Einstellungen zu arbeiten.

Was ist der erste Schritt auf der Suche nach Frieden mit einer Person, die sich wie ein Feind verhält?

Konflikte lösen oft sehr starke Emotionen aus, die uns nicht immer dazu bringen, die besten Entscheidungen zu treffen. Der erste Schritt ist daher, sich eine Verschnaufpause zu gönnen und dann die Situation zu analysieren. Was geht hier vor? Warum löst diese Situation eine Reaktion bei mir aus? Welche wunden Punkte berührt dieser Konflikt bei mir? Kann ich den/die andere/n fragen, wie er oder sie die Situation erlebt? Und noch schwieriger: Bin ich bereit, dem anderen zuzuhören, zu hören, inwiefern mein Verhalten für ihn schwierig ist? Es hat etwas Heiliges, diesen Raum für den Austausch zu schaffen. In einem zweiten Schritt kann man versuchen, einen Blick über den Tellerrand zu werfen: Welche Beziehung möchte ich in einem Jahr oder in fünf Jahren zu dieser Person haben? Was kann ich heute tun, um ihr näher zu kommen?

Welche Haltung sollte man einnehmen, wenn man Zeuge eines Streits zwischen Einzelpersonen oder zwei Gruppen wird?

Manchmal hilft es zwei Menschen am meisten, wenn sie ihre Streitigkeiten untereinander lösen können. Man möchte sich einmischen, entscheiden oder Partei ergreifen, aber keine dieser Haltungen hilft wirklich. Wir können den Streitenden zuhören, sie aneinander verweisen und sie ermutigen, ihre Konflikte zu lösen. Ebenso kann es im Falle eines Konflikts zwischen zwei Gruppen weise sein, sich keiner der beiden Gruppen gegen die andere anzuschliessen. Die beste Haltung ist es, Verbindungen zwischen den beiden Gruppen herzustellen, indem wir sie sowohl an die Gemeinsamkeiten der beiden Parteien als auch an die Unterschiede innerhalb der jeweiligen Parteien erinnern. Wenn nötig, können wir inakzeptablem Verhalten auf beiden Seiten Grenzen setzen. Natürlich ist die Wirkung dieser Vermittlungstätigkeit begrenzt, wenn ein grosses Machtgefälle, eine ausgeprägte Ungerechtigkeit oder eine Situation des Missbrauchs vorhanden sind. In solchen Fällen sind wir dazu aufgerufen, die unterdrückten Personen zu unterstützen.

Gott ruft dazu auf, seine Feinde zu lieben und Böses nicht zu vergelten. Betreffen diese Gebote vor allem unsere persönlichen Beziehungen oder sind sie auch eine Antwort im Falle von grösseren Konflikten?

Wie wir gesehen haben, gibt es gewalttätige Konflikte in unterschiedlicher Intensität. Aber die Dynamiken sind durchaus vergleichbar. Die Entscheidung, die biblischen Prinzipien auf bestimmte Konfliktebenen zu beschränken, würde eine komplizierte Kasuistik mit sich bringen. Ab wie vielen am Konflikt beteiligten Personen können wir aufhören, die andere Wange hinzuhalten? Fünf? 20? 110? Ich bin überzeugt, dass diese Prinzipien stattdessen auf die gesamte Konfliktskala anwendbar sind.

Das Gespräch wurde von Sandrine Roulet geführt und in der Zeitschrift «S’engager pour un monde plus juste» erstmals veröffentlicht. Übersetzung von Barbara Streit-Stettler.
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~ 5 min

Kompass, Schiesspulver und Eisenbahn haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Ein zweiter Blick zeigt: All diese Erfindungen und Entdeckungen haben unsere europäische Geschichte entscheidend geprägt. Sie bildeten jeweils den Anfang einer erfolgreichen neuen Etappe. Zumindest für einen Teil der Menschheit. Unterwegs haben wir aber etwas verloren: den Massstab für eine gesunde Mobilität.

Die Mobilität ist keineswegs eine Erfindung der Moderne. So ermöglichte das römische Reich innerhalb seiner Grenzen mit seinen befestigten Strassen eine noch nie gesehene Mobilität. Römische Streitkräfte konnte von Rom aus der Küste entlang Jerusalem innerhalb von etwa 22 Tagen erreichen1 . Sie legten dabei über 3400 km zurück. Oder man denke an die spätere so genannte Völkerwanderung der germanischen Völker zwischen dem 2. und 6. Jahrhundert. Dabei verschoben sich über mehrere Jahrhunderte ganze Völkerbünde: Sie wurden umgesiedelt bzw. waren gezwungen, das Weite zu suchen.

Es fällt auf, dass biblische Beispiele der Mobilität meist positiv besetzt sind. Abraham  wurde aufgefordert, sich aufzumachen «in das Land, das ich dir zeigen werde». Das Volk Israel brach in das verheissene Land auf. Der neutestamentliche Missionsbefehl ist verbunden mit der Aufforderung, hinzugehen. Und schliesslich wird der Himmel oft als ein ferner Ort im Jenseits verstanden, in den man geht2 .

Kurz: Mobil zu sein, ist keine Erfindung unserer Zeit. Allerdings sind die Möglichkeiten dazu heute fast unbegrenzt geworden. Deshalb stellt sich die Frage dringender als je zuvor, wie wir mit diesen unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten umgehen. Die Antwort hängt vom Massstab ab, den wir ansetzen. Deshalb möchte ich nicht die Mobilität an sich hinterfragen, sondern die Richtschnur, mit der wir sie einschätzen. Dabei hilft uns ein Blick in die Geschichte.

Kompass, Schiesspulver und ein neues Weltbild

Der Kompass, den die Seeleute nutzten, läutete ein neues, technisches Zeitalter ein: Er ist das Symbol des Übergangs vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Die Schiffe auf den Meeren konnten das avisierte Ziel in der Ferne nun trotz Stürmen erreichen. In diese Zeit fällt die grosse Entdeckung einer von uns noch nicht erschlossenen Welt: Kolumbus wollte nach Indien und traf auf Amerika, Vasco da Gama fand ein paar Jahre später den Seeweg nach Indien. Mit diesen neuen Mobilitätsmöglichkeiten konnten die einen grosse Beute machen, während die Einheimischen ausgebeutet wurden, ohne einen Anspruch auf ihren Kontinent stellen zu können.

Das Schiesspulver, eine weitere grosse Entdeckung jener Zeit, ermöglichte wirkungsvollere Waffen. Es gehört neben dem Buchdruck und dem Fernrohr zu den grossen Entdeckungen im 15. Jahrhundert3 .  Das Schiesspulver veränderte die Stellung des mittelalterlichen Rittertums und läutete eine soziale Umgestaltung ein, während der Buchdruck und vor allem das Fernrohr eine Zäsur für das damalige Weltbild bedeutete.

Aber wohl noch stärker als diese technischen Entdeckungen im 15. Jahrhundert wirkte das neue philosophische Paradigma seit dem 14. Jahrhundert, das die Naturwissenschaften  später überhaupt erst ermöglichte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ebnete diese neue Denkweise den Weg für die grossen Entdeckungen, die später mit den Namen Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Johannes Kepler (1571-1630), Galileo Galilei (1594-1641), aber auch mit Isaac Newton (1643-1727) verbunden wurden: Sie alle haben auf ihre Weise den Durchbruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes besiegelt. In der Neuzeit standen nun der Mensch, seine technischen Möglichkeiten und die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Vordergrund. Ein Weltbild, das uns noch heute prägt4 .

Es läuft wie geschmiert!

Zur nun aufkommenden Industrialisierung gehörte als wichtigster Treiber die Dampfmaschine. Das grosse Geld konnte nun in der Industrie verdient werden: zuerst in England Ende des 18. Jahrhunderts – und anfangs 19. Jahrhundert in weiteren europäischen Ländern. Dies veränderte das ganze bisherige gesellschaftliche Leben. Fabriken wurden gebaut und die bisherige Handarbeit durch Maschinen ersetzt; Arbeitslosigkeit und Armut entwickelten sich im Gleichschritt mit dem Wachstum der Städte. Im Bereich Mobilität eröffnete vor allem die Eisenbahn neue Möglichkeiten. Sie war enorm wichtig für den Transport von Kohle und Eisen, brauchte aber selbst Unmengen an Eisen bei ihrer Herstellung. Dank der neuen Mobilitätsmöglichkeiten konnten die Preise der Waren gesenkt werden, was wiederum die Produktion förderte.

Die Eisenbahn war allerdings im Blick auf die Industrie und ihre Produktionsmöglichkeiten entwickelt worden. Die Vorstellung von Freizeit, Urlaub und vom Bereisen der Welt war zu jener Zeit noch undenkbar. Es waren erst Einzelne wie etwa Alexander von Humboldt, die sich aufmachten, um die Welt mit den neuen Möglichkeiten zu entdecken. Der gemeine Mann blieb seiner Scholle treu. Oder er war nun neu an die Fabrik des Kapitalisten an der Spitze gebunden, falls er überhaupt noch Arbeit fand und so vor Ort überleben konnte.

Im Zeichen des neuen wissenschaftlichen Paradigmas entwickelte sich auch die Mobilität: die alte Welt sollte mit dem Fortschritt überwunden werden. Parallel und trotzdem miteinander verwoben wurde die Freiheit des Einzelnen immer zentraler, vorerst zumindest in der neureichen Elite. Heute wissen wir es im Rückblick: Mit der Industrialisierung hat auch die globale Erwärmung stark zugenommen. Gleichzeitig haben die neuen technischen Möglichkeiten und die Autonomie des Menschen auch in der breiten Bevölkerung einen quasi religiösen Wert erlangt.

Das richtige Mass finden

Ist das nun verwerflich oder nicht? Die Antwort darauf entscheidet sich am Massstab, mit dem wir messen. Welche Mobilitätsmöglichkeit ist für uns normal? Der Gegenpol des normalen Zustands, der möglicherweise weit weg von gut ist, wäre der anormale Zustand. Gehört unsere Mobilität also mehr zur Normalität oder zur Anormalität?

Was wir sagen können: Nach wie vor gilt der Fortschritt als Trumpf. Allerdings sind es heute nicht mehr neue Kontinente, die erschlossen werden sollen, sondern neue Planeten5 . Damit der gewohnte Massstab für Mobilität weiterhin gewissensfrei beibehalten werden kann, wird das Benzinauto allmählich durch das Elektroauto abgelöst. Gleichzeitig steigen die Verkaufszahlen von schweren Autos, als wäre die Schöpfung eine ersetzbare Maschine6 . Kurz: Die Mobilität ist geblieben, sie ist sogar luxuriöser, ausdifferenzierter und weiter gesteigert worden. In Anbetracht der gewaltigen Zerstörung der Natur seit der Industrialisierung stellt sich heute die Frage, ob es Auswege aus diesem Muster gibt. «Dank» der Industrie wurden ganze Landstriche und Gewässer unbrauchbar, viele Menschen verloren ihre Arbeitsstelle7.

Bieten die Kirchen in dieser Situation alternative Antworten an oder geben sie der Problematik einfach einen theologischen Anstrich? Übernehmen sie sogar die Philosophie dahinter und basteln aus dem menschlichen Fortschritt das Paradigma des kirchlichen Wachstums?

Kirchen tun gut daran, ihre reiche biblische und kirchliche Tradition heranzuziehen und sich selber, aber auch die Gesellschaft zu hinterfragen. Damit soll nicht die vergangene Welt idealisiert, sondern der Frage nachgegangen werden, wie wir – aus christlicher Perspektive – uns selber, dem Nächsten und am Ende Gott näherkommen können.

Die Kirchen müssen dabei nicht auf die grossen Hebel der Politik warten. Sie sollen die Schritte gehen, die sie bereits gehen können, auch wenn sie noch so unbedeutend wirken. Exemplarisch dafür zeigt das Eco Church Network8 viele schlichte Wege, welche eine Kirche gemeinsam mit ihren Mitgliedern gehen kann. So zeigt das Merkblatt D4 – Mobilität konkrete Schritte, um neue Wege im Bereich der Mobilität zu suchen – und so das verloren gegangene Mass der Mobilität vielleicht wieder zu finden.


1. vgl. Orbis, The Standford Geospatial Network Model of the Roman World, Mai 2022 (online)

2. 1. Mose 12,1; 2. Mose 1-15, Matthäus 28,19

3. Störig, Die kleine Weltgeschichte der Philosophie (2000), S. 318-322

4. Ruffing, Einführung in die Geschichte der Philosophie (2007), S. 119

5. vgl. t3n, Mars-Mission: Elon Musk warnt vor einem «nuklearen Armageddon», Mai 2022 (online)

6. vgl. AGVS, SUV dominieren Angebot, Mai 2022 (online)

7. Ruth Valerio nennt verschiedene Aspekte der Zerstörung der Schöpfung, die oft den Menschen tangieren.  Exemplarisch sind die teilweise ausgefischten Meere, welche den lokalen Fischern den Erwerb verunmöglichen.

8. https://ecochurch.ch

Literaturverzeichnis

AGVS, SUV dominieren Angebot: https://t3n.de/news/mars-mission-elon-musk-warnt-1429807, abgerufen am 20. Mai 2022

Orbis, The Standford Geospatial Network Model of the Roman World, online unter https://orbis.stanford.edu, abgerufen am 22. Mai 2022

Ruffing, Reiner: Einführung in die Geschichte der Philosophie, Paderborn, 2007

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart, 2000

t3n, Mars-Mission: Elon Musk warnt vor einem «nuklearen Armageddon», online unter https://t3n.de/news/mars-mission-elon-musk-warnt-1429807, abgerufen am 20. Mai 2022

Valerio, Ruth: Saying Yes to Life, London, 2020

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Juni 2022 auf INSIST.

~ 3 min

Vor einem Jahr wurde bereits von einer drohenden «Stromlücke», jetzt von der drohenden «Mangellage» gesprochen. Doch selbst die schlimmsten Szenarien sehen nur ein paar Stunden Strommangel vor. Ist das so gravierend für unser Leben? Wo sind wir hingekommen?

Politische und finanzielle Interessen

Es ist auch nicht klar, wieviel politisches Kalkül dahintersteckt. Es wird behauptet, wegen der Energiewende gäbe es nun zu wenig Energie. Gewisse Kreise veranstalteten ein Trommelfeuer gegen «Sündenbock» Sommaruga, die sich scheinbar nur noch mit einem Rücktritt retten konnte. Diese Interessengruppen haben damit ihr Ziel erreicht und hoffen nun wohl, das Umwelt- und Energiedepartement mit Albert Rösti nach den eigenen Wünschen und Interessen verändern zu können. Gleichzeitig konnte der Bevölkerung mit dieser «Mangellage» Angst vor dem Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative eingeflösst werden, dessen Abstimmung wegen eines Referendums bevorsteht. Die Energiewende, die dringend umgesetzt werden sollte, wird damit möglicherweise verzögert.

Es ist aber sinnlos, den Kopf in den Sand zu stecken: Das Klima erwärmt sich erbarmungslos weiter. Mit einer weiteren Verzögerung verlieren wir wertvolle Zeit und müssen noch mehr Schäden in Kauf nehmen. Es ist bezeichnend, mit welcher Kraft sich Teile der Bevölkerung und Vertreter von bestimmten Wirtschaftszweigen an die Behauptungen der letzten Klimaleugner oder an sonstige Ausreden klammern, um der bitteren Realität auszuweichen. Wie kann es sein, dass der Warnung von Zehntausenden von Wissenschaftlern von dieser Seite keine Beachtung geschenkt wird?

Wann haben wir genug?

Mit unserem steigenden «Wohlstand» brauchen wir immer mehr Energie. Zusätzlichen Geräte, immer mehr und immer grössere Autos, mehr Flugreisen, grösseren Wohnraum, den wir beheizen müssen, sorgen dafür. Die Statistik zeigt zwar eine Stagnation des Energieverbrauchs in der Schweiz seit 20 Jahren und einen Rückgang des Verbrauchs seit 2010 (mit einem Einbruch während der Pandemie), aber dies ist zu einem guten Teil auf die Desindustrialisierung zurückzuführen: Wir sorgen damit einfach in anderen Ländern (Osteuropa, China, Indien) für steigenden Energieverbrauch und importieren immer mehr graue Energie.

Brauchen wir das alles wirklich? Noch ein Tablet mehr? Eine elektrische Saftpresse, weil wir die Orangenhälften nicht mehr selber drücken und drehen können? Oder die elektrische Zahnbürste? Oder noch mehr Kinderspielzeuge mit Batterie? Oder brauchen wir wirklich ein Auto? Warum wollen wir lieber die Steuern senken als den ÖV als echte Alternative auszubauen?

Waren wir früher wirklich so schlecht dran? War es schlimm, nicht mit dem Flugzeug in die Ferien zu fliegen? Oder hat uns die Shoppingtour in London wirklich gefehlt?

Warum brauchen wir das alles? Und vor allem: Wann ist genug? Wieviel mehr Energie benötigen wir tatsächlich?

Ist unsere liebe Freiheit in Gefahr?

Es ist schwierig, auf die Grenzenlosigkeit unserer Möglichkeiten zu verzichten oder nur einen Teil davon verwirklichen zu dürfen. Bei Vorschlägen, sich zu beschränken, um die Zukunft nicht zu gefährden, sehen wir sehr schnell unsere Freiheit in Gefahr. Oder wir bangen um die technischen Erleichterungen unseres Alltages in der stressigen Zeit. Zu letzterem muss auch gefragt werden, warum wir uns eine Wirtschaft und eine Gesellschaft geschaffen haben, die so viel Stress verursacht. Vielleicht sollten wir einmal die Ursachen unseres Konsums angehen. Denn unsere Lebensweise mit immer mehr Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoss hat gravierende Folgen. Die Voraussagen der Wissenschaft sind leider bisher alle eingetreten oder waren sogar noch zu optimistisch.

Die Folgen der Klimaerwärmung sind für uns hier in der Schweiz noch nicht richtig spürbar. Deshalb haben wir Mühe, uns zu einer Reaktion aufzuraffen, obwohl in den Angstbarometern der gfs.bern, die bis 2015 jährlich erstellt wurden, die Klimaerwärmung regelmässig als eine der grössten Ängste auftauchte. Das für uns noch Irreale ist aber unausweichlich und hat dummerweise eine Vorlaufzeit von Jahrzehnten. Unsere Kinder werden riesige Probleme ausbaden müssen, wenn wir nicht jetzt reagieren. Aber der Verzicht ist so unheimlich schwer.

Wir pochen lieber auf die Freiheit, das Leben unserer Nächsten und die Schöpfung Gottes weiterhin zerstören zu dürfen. Doch diese Freiheit ist nicht akzeptabel, es gibt kein Recht auf Vandalismus (der Natur) und auf Tötung von Menschen (durch Dürren und Überschwemmungen). Würden wir es o.k. finden, wenn diese Delikte aus den Strafgesetzbüchern gestrichen und erlaubt würden? Nur weil unsere persönliche Täterschaft nicht so direkt den Folgen zugeordnet werden kann, heisst das nicht, dass wir keine Verantwortung dafür tragen. Wir haben alle auf vielen Ebenen Mitverantwortung. Mit Fingern auf andere zeigen, die noch schlimmer zerstören als wir, gilt nicht.

Es führt kein Weg an der Mässigung vorbei

Wir haben also nicht zu wenig Energie, sondern wir verbrauchen zu viel. Es führt kein Weg an der Reduktion unserer Ansprüche und unseres Verbrauchs vorbei, denn mit risikobehafteten, teuren Atomkraftwerken handeln wir uns einfach neue Probleme ein. Auch Windräder und Stauseen haben Grenzen. Nicht umsonst wurde bereits Anfang der neunziger Jahre die 2000 Watt-Gesellschaft propagiert: Wir kommen nicht umhin, den Energieverbrauch pro Person in der Welt auf 2000 Watt zu limitieren. Ist das so schlimm? Hat das Leben nicht so viel mehr zu bieten? Sind wir noch so sehr im Materialismus gefangen? Ist nicht gerade diese Herausforderung, mit weniger Gütern und Konsum ein erfülltes Leben zu führen, eine schöne Einladung an uns Christen? Sollte es nicht eine Auszeichnung der Christen sein, dass sie weniger der Konsumgesellschaft verfallen sind?

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~ 4 min

Infolge des Krieges in der Ukraine ist uns allen klar geworden, dass die sichere Energieversorgung plötzlich infrage gestellt ist. Die Kosten sind in die Höhe geschossen, das gewohnte Preisgefüge hat sich aufgelöst. Die Bundespolitik setzt sich unter dem drohenden Energie-Mangel mit rasantem Tempo für das Fördern von erneuerbaren Energien ein und fasst innert kürzester Zeit die nötigen Beschlüsse dazu. Allerdings handelt es sich dabei um Nachholbedarf aus den letzten drei Jahrzehnten. Oder steckt gar ein Kalkül dahinter? Unter Druck können plötzlich radikale Beschlüsse gefasst werden, ohne die unliebsamen und einschränkenden Rahmenbedingungen von Nachhaltigkeit oder Naturschutz zu berücksichtigen …

In der öffentlichen Diskussion wird die alles durchdringende Bedeutung von Energie für unsern Alltag wie nie zuvor wahrgenommen: Schliesslich werden nicht nur Strom und Wärme teurer, sondern auch Lebensmittel, Geräte und Maschinen. Da steckt überall viel Hilfsenergie drin. Es ist hilfreich, wenn wir uns dies wieder einmal bewusst machen. Ohne Druck verändert sich offensichtlich nichts. Das gilt auch für unsere Haltung, dass nur das Billigste gut genug sei.

Täuschende Energiepreise

Es muss hier einmal klar gesagt sein: Die uns lieb gewordenen bisherigen günstigen Energiepreise waren realitätsfern tief. Vom tiefen Preis getrieben hatten die Energieversorger bisher wenig Luft für Investitionen oder gar Innovationen. Die dezentrale Energieproduktion muss zum Beispiel an das grössere Verteilnetz angeschlossen werden. Diese Herausforderung ist erst in Ansätzen gelöst. Auf Seiten der Verbraucher waren Verschwendung und Ineffizienz bisher wirtschaftlich nicht von Belang – es gab keinen Anreiz für den haushälterischen Umgang mit der Energie.

Die Gesamtkosten der Energieerzeugung sind in manchen Bereichen bei weitem nicht gedeckt. So sind die sogenannten externen Kosten, d.h. Folgekosten für Gesundheit und Umwelt, welche durch den heutigen Energieeinsatz entstehen und laufend zunehmen, nur zum kleinsten Teil berücksichtigt. Diese Folgen müssten mit dem Energiepreis abgegolten werden. Die nun bevorstehenden Debatten um Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz werden zeigen, um welch enormen Finanzbedarf es bei dieser Schadensvermeidung und -behebung gehen wird.

Die Grundversorgung erträgt keine Spekulation

Die Energie – das ist nun deutlich geworden – bildet einen markanten Teil unserer alltäglichen Grundversorgung. Die Diskussionen zeigen unbeschönigt, dass im Mangelfall jede Nation zuerst für sich schaut. Und es keinen Verlass gibt auf internationale Abkommen.

Güter oder Leistungen der Grundversorgung sind kein normales Handelsgut, das man haben oder nicht haben kann. Die aktuellen internationalen Debatten machen deutlich, dass auch mit grosser Kaufkraft die Beschaffung von Energie nicht garantiert ist. Daraus muss der Schluss gezogen werden, dass das heutige System der internationalen Strombörsen als gescheitert betrachtet werden muss. Die Grundversorgung ist m.E. nicht vereinbar mit einem spekulationsgetriebenen Handel.

Viele Akteure an der Strombörse haben in ihrer Geschäftstätigkeit nichts mit der realen Energieproduktion oder dem Energievertrieb zu tun. Sie betreiben Termingeschäfte. Sprich: Sie spekulieren, wie sie das auch mit jedem andern Rohstoff tun. Der Fall AXPO zeigt, dass auch Stromproduzenten sich dazu verleiten lassen, dem Handel mehr Wichtigkeit zuzumessen als der ursprünglichen Aufgabe, Wirtschaft und Bevölkerung mit Strom zu versorgen. Dieses Gebaren steht nicht mehr im öffentlichen Interesse, sondern unter dem Diktat der Finanzwirtschaft.

Mit der Realwirtschaft hat das wenig zu tun. Es kann doch nicht sein, dass derzeit insgesamt 1‘500 Milliarden Euro allein als Handelssicherheiten für künftige Energielieferverträge hinterlegt werden müssen. Das entspricht rund 8% der europäischen Wirtschaftsleistung eines Jahres1. Und es geschieht, ohne dass die Grundversorgung im eigenen Land gewährt ist. Hier sind Korrekturen unumgänglich.

Die Beziehungen zwischen Produzenten und Verbrauchern stärken

Muss das Rad zurückgedreht werden? Nein, aber es geht darum, erkannte Fehlentwicklungen zu kappen! Es wird Zeit, dass wir uns auf die soliden Erfahrungen von Direktbeziehungen zwischen Produzenten und Verbrauchern zurückbesinnen. Mit moderner Technik und Kommunikation können diese Beziehungen auch heutigen Anforderungen gerecht werden. Einzelne Gemeindewerke wie etwa Walenstadt SG zeigen, wie das geht2.

Am Beispiel von unzähligen Holzenergie-Wärmeverbünden in der Schweiz lässt sich erkennen, dass sich die direkte Beziehung zwischen dem Energieversorger und der regionalen Waldwirtschaft als Brennstofflieferant sehr gut bewährt und zu stabilen Preisen geführt hat. Gleichzeitig sorgt die direkte Beziehung dafür, dass die natürlichen Ressourcen in der Region nachhaltig genutzt und nicht ausgebeutet werden3.

Dabei gilt es zu beachten, dass das Potenzial an Energieholz in der Schweiz begrenzt ist. Es muss sorgfältig eingeteilt werden. Dass jetzt plötzlich alle Brennholz horten, wie vor zwei Jahren Klopapier, ist nicht zielführend. Aber auch bei der Wasserkraft wissen wir spätestens seit dem vergangenen Trockensommer, dass die Nutzungsmöglichkeiten begrenzt sind.

Umdenken: Energie bewusst einsetzen

Die vom Bundesrat erlassene Spar-Botschaft zeigt vielfältige Spar-Möglichkeiten für Private, Firmen und die Öffentlichkeit. Diese umfangreichen Listen sind hilfreich, und sie lassen sich sofort umsetzen. Von nun an gilt nicht mehr: Ich weiss nicht wie und wo. Gerne hoffe ich, dass sich möglichst viele Leute von diesen Botschaften bewegen lassen.

Ob für uns als Privatperson oder im Geschäft gilt: Die aktuelle Situation von drohendem Mangel und hohen Kosten zwingt uns zu einer neuen Haltung bei unserm Umgang mit Energie.

Es stellen sich Fragen wie:

  • Was ist notwendig, damit der Grundbedarf gedeckt, die geforderten Leistungen erbracht, die Produkte hergestellt werden können?
  • Worin wünschen wir gezielt Komfort – mehr als notwendig – um darin unser Leben bzw. unsere Arbeit angenehmer und unsere Aufgaben einfacher gestalten zu können?
  • Wofür ist Luxus – Energie im Überfluss – bewusst einzusetzen und warum?
  • Geschieht Verschwendung unbewusst oder aus Nachlässigkeit, die gestoppt werden kann?

Energie sparsam einsetzen heisst Ressourcen schonen. Und das ist das erste Gebot im Klima- und Umweltschutz. Insofern mag dieser aktuelle Preis- und Versorgungsschock heilsam und zukunftweisend sein. Ein solcher Kurswechsel wird auch globale Ausstrahlung haben, eifern doch über 80% der Weltbevölkerung unserm Vorbild nach.

1 fritz.fessler@gemeinwohl.coop

www.gemeinwohl.coop

2 www.walenstadt.ch

3 www.renercon.ch

(Bild: Myriams-Fotos auf Pixabay)

Dieser Artikel ist ursprünglich erschienen am 01. November 2022 auf https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/22-11-4-energie-ein-heilsamer-schock-geht-um-die-welt.html

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Es ist unerträglich, die Reden des FIFA-Chefs Gianni Infantino anhören zu müssen. Noch immer gilt das offizielle FIFA-Narrativ1 , dass auf den Baustellen der Stadien in Katar nur 3 und nicht 65002 Menschen ums Leben gekommen seien. Mit an den Haaren herbeigezogenen Vergleichen mit seiner eigenen Herkunft verniedlicht der FIFA-Präsident die Leiden der Arbeiter, die unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen schuften mussten und – die meisten unter ihnen – es immer noch müssen: Auch seine Eltern hätten ihre Pässe abgeben müssen und auch er sei wegen seiner Haarfarbe gehänselt worden. Und schliesslich gebe man den Menschen ja Würde und Stolz, wenn man ihnen Arbeit gebe. Statt die Verantwortung für die Auswirkungen der WM zu übernehmen, was auch in den FIFA-Statuten vorgeschrieben ist, bekommen die Arbeiter von Infantino noch einen Schlag ins Gesicht.

Spaltung statt Problemlösung

Bereits die Vergabe der WM an Katar war nachweislich durch Korruption3 erfolgt. Kritik wurde danach durch die FIFA meist abgeblockt. Als ab 2021 verschiedene Fussballverbände planten, während der WM auf Missstände aufmerksam zu machen, wurde die FIFA nervös, denn Kritik schadet dem Geschäft: Infantino meinte, man solle «nicht jedes Problem in den Fussball hineintragen». Quasi-Sklaverei und 6500 Tote waren allerdings bisher noch nie der Preis für eine WM und sind nicht ein x-beliebiges Problem.

Doch die Kritik an der WM und der FIFA liess sich nicht ersticken, auch nicht durch Drohungen gegen einzelne Verbände wie Dänemark und Deutschland. Sieben Verbände solidarisierten sich mit ihnen in einem Brief und kündigten Protestaktionen an. Als weitere Eskalationsstufe versuchte Infantino dann in einer einstündigen Rede4 die Kritiker mit dem Aufbau von Feindbildern in die Ecke zu drängen und zu minorisieren. «Diese einseitige Moralpredigt ist reine Heuchelei. Für das, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren getan haben, sollten wir uns für die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, den Menschen moralische Lektionen zu erteilen.» Damit wird versucht, von den Inhalten und Problemen abzulenken und stattessen das Ganze auf die Ebene einer Konfrontation zu bringen. Eine solche Strategie ist aus politischen Diskussionen altbekannt: Man unterstellt dem Kritiker, nur darauf aus zu sein, sich als der Gute und den Anderen als den Bösen hinzustellen. Dies heisst also, dass ich zu den Zuständen in der Welt schweigen soll, weil meine Vorfahren ähnlich gehandelt haben – und die Unterdrückung unserer Nächsten zuerst 3000 Jahre lang hinnehmen muss.

Infantino wusste, dass er für seine Spalterei auch viel Zuspruch5 aus ehemals durch europäische Mächte kolonialisierten Staaten erhalten würde. Also aus der Mehrheit der Staaten der Welt. Denn dort ist Europa noch immer ein Feindbild. Die Forderung nach Menschenrechten gilt dort bei den heutigen Eliten und Diktatoren oft als erneute Einmischung und als Imperialismus. Indem Infantino diese aber um sich schart, um die Verteidiger der Menschenrechte zu entwerten, macht er sich zum Sprachrohr und Verteidiger dieser Herrscher und derjenigen, die Menschenwürde ablehnen. Er sieht auch kein Problem darin, eine WM in Nordkorea oder Iran durchzuführen und behauptet, dass gerade durch solche Grossveranstaltungen Veränderungen in Gang kommen könnten. Damit verschliesst er die Augen davor, dass diese Sportfestspiele in der Regel die Macht von autoritären Herrschern stärken, so wie z.B. die Olympischen Spiele in Deutschland 1936 oder die Fussball-WM in Russland vor vier Jahren.

Mit der Fussballweltmeisterschaft hat die FIFA also einen Einfluss auf das Weltgeschehen. Und mit der Verteidigung der Interessen Katars und der Minorisierung der Verbände, die Menschenrechte einfordern, schlägt die FIFA sich auf die Seite der Diktatoren und Schlächter. In einem Kontext, wo die Demokratie weltweit am Erodieren ist (siehe Demokratieindex6 ) und sowohl Menschenrechte wie auch die freie Presse unter Druck sind, ist solches Verhalten gefährlich. Mit der Drohung gegen kritische Verbände, der Unterdrückung von Meinungsäusserungen und der Verteufelung von Kritikern spielt die FIFA das Spiel der Diktaturen und bringt die Schweigenden dazu, auch weiterhin zu schweigen.

Geld und Macht sind wichtiger als Menschenrechte

Es gibt Stimmen, die sagen, der ehemalige FIFA-Generalsekretär Blatter hätte ein Monster geschaffen. Man dachte, mit Infantino werde es besser. Das war ein Trugschluss. Der neue FIFA-Chef sägte schon bald die interne Ethik-Kommission wieder ab, hofierte Putin und verteidigt nun mit allen Mitteln Katar, das so viel Geld in den Fussball pumpt.

Tatsächlich hat Blatter die FIFA in eine Geldmaschine verwandelt. Der Gewinn, der Reichtum und damit die Macht scheinen im Zentrum zu stehen. Die FIFA behauptet, sie tue alles «für den Fussball», aber in der Realität geht es mehr um die Gewinnmaximierung: Fernseh-Übertragungsrechte werden blindlings an die meistbietenden Pay-TVs verkauft. Fussball gibt es also gar nicht mehr für alle am TV, sondern in vielen Ländern nur noch für Zahlende. Den FIFA-Mitgliedsverbänden winken so immer fettere Ausschüttungen, womit sie an die FIFA gebunden und so Teil des Systems werden. Auch sie (und ihre Funktionäre) haben also Interesse, dass nichts das Geschäft stört.

Der Mammon ist damit wichtiger als die Menschen. Es wird alles für noch mehr Gewinn getan, auch wenn damit unheilvolle Systeme gefördert werden. Die Fussball-WM in Katar soll einen Rekordgewinn von einer Milliarde Franken für die FIFA abwerfen. Dieses Geld werde sofort wieder «in die Entwicklung des Fussballs» in den Mitgliedsländern investiert. Allerdings kontrolliert die FIFA kaum, ob das Geld wirklich für den Fussball verwendet wird. So mussten die Spielerinnen der Frauenfussball-Nationalteams von Kongo Kinshasa längere Zeit auf der Strasse übernachten, obwohl sie von der FIFA offiziell grosszügig unterstützt worden sind …

Und die Schweiz da drin?

Mit den Mammon-Dossiers7 hat ChristNet schon vor einiger Zeit gezeigt, dass die Schweiz auf Grund einer Geldgier mit Bankgeheimnis, Steuerdumping und als Hafen für zahlreiche Konzerne mit ausbeuterischen Praktiken auch für Leid in der Welt und für Untergrabung von demokratischen Strukturen mitverantwortlich ist. Fast schon symptomatisch hat auch die FIFA ihren Sitz in der Schweiz, und auch ihre Chefs Blatter und Infantino sind Schweizer. Es stellt sich also die Frage, wie lange wir diese Praktiken in der Schweiz noch dulden sollen.

Als Argument für den Verbleib der FIFA in der Schweiz wird manchmal vorgebracht, unser Rechtsstaat sei ein Garant, damit Unrecht auch bei der FIFA geahndet werden könne. Doch offenbar ist das Gegenteil der Fall: In keinem einzigen der Fälle, die in der Schweiz vor Gericht gebracht wurden, kam es zu einer Verurteilung der Korruption. Einige Fälle sind gar wegen der Unfähigkeit (oder des Unwillens) der Strafverfolgungsbehörden so lange verschleppt worden, bis die Fälle verjährten. Andere Fälle wurden wegen Befangenheit der Richter verzögert. Müsste man also nicht eher sagen, dass die Schweizer Liebe zu Herrschenden und zu Geldflüssen Garant für die Nichtverfolgung ist?

Menschenrechte sind das Mindeste an Nächstenliebe!

Wenn wir für Menschenrechte eintreten, dann deshalb, weil sie ein Mindestmass an Menschenwürde darstellen. Damit sind die Menschenrechte auch das Mindestmass an Nächstenliebe und Gerechtigkeit, die wir unseren Nächsten zugestehen wollen. Damit sind Menschenrechte nicht einfach ein kulturelles Produkt des Westens, das anderen Ländern und Kulturen aufgedrängt werden soll. Die Gegner von Menschenrechten sind in der Regel nicht die unterdrückten Menschen in ärmeren Ländern, sondern die dortigen herrschenden Eliten, die sich um ihre Macht und ihre Pfründe sorgen. Auch hierzulande bezeichnen Regierende die Vertreter der Menschenrechte als «Moralisierer», wenn sie die Menschenwürde in ärmeren Ländern den Gewinnen von Schweizer Rohstoffkonzernen vorziehen. So auch Bundesrat Maurer, der anlässlich der Abstimmung zur Konzernverantwortung den Ruf nach Verantwortung von Schweizer Konzernen im Süden als «Einmischung in dessen Kultur» verwedelte. Wie wenn die Opfer von Glencore und Holcim lieber keine Menschenrechte hätten …

Menschenrechte sind für Mächtige (und ihre Bewunderer) oft ein Ärgernis, da sie die Ausübung der Macht und Stärke sowie grössere Gewinne behindern. Dies gilt für die Schweizer Regierung, Schweizer Konzerne, die FIFA und auch für Bewunderer von Macht und Stärke wie die Weltwoche, die die Rede Infantinos in voller Länge abdruckte und als eindrücklich, hochinteressant und intelligent bezeichnete. Dies zeigt erneut, welche Werte dieser Zeitung wichtig sind.

Wir werden also von neuem vor die Wahl zwischen Gott und dem Mammon gestellt. Mat. 6.24: «Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.» Gott wählen heisst auch die Liebe zum Nächsten zu wählen. Denn in Matthäus 22.34-40 wird das höchste Gebot wie folgt zusammengefasst: «Jesus aber sprach zu ihm: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt». Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst». In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.»

Unsere Nächsten sind Ebenbild Gottes. Setzen wir uns auf allen Ebenen für sie ein!

1. https://www.bernerzeitung.ch/man-gibt-ihnen-wuerde-und-stolz-infantino-fuer-aussagen-zu-arbeitern-in-katar-heftig-kritisiert-645639816801

2. https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/23/revealed-migrant-worker-deaths-qatar-fifa-world-cup-2022

3. https://de.wikipedia.org/wiki/Vergabe_der_Fu%C3%9Fball-Weltmeisterschaften_2018_und_2022

4. https://www.n-tv.de/sport/fussball-wm/Die-wirren-Aussagen-des-Gianni-Infantino-im-Wortlaut-article23729519.html

5. https://www.watson.ch/sport/analyse/869294204-wm-2022-in-katar-hinter-infantinos-rede-steckt-kalkuel

6. https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex

7. https://christnet.ch/de/ressourcen/

 


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