~ 6 min

Vor etwas mehr als 50 Jahren brachte die Banane, oder besser gesagt ihr Preis, eine Handvoll Frauen in Bewegung. Die sogenannten Bananenfrauen haben darüber sinniert, weshalb die Banane in der Schweiz trotz ihres langen Transportweges derartig günstig ist. Das Engagement dieser Frauen hat sogar die Geschäftsleitung des Detailhandels der Migros provoziert. Dies alles begann mit einer entscheidenden Frage, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat.

Die Banane gehört – wie kaum eine andere Frucht – zum Repertoire unserer Beschimpfungen. So ist es kein Kompliment, wenn jemand als eine totale Banane bezeichnet wird. Oder wenn eine Politikerin oder ein Politiker das Wort Bananenrepublik benützt, dann ist kaum eine attraktive Urlaubsdestination in der Ferne gemeint. Über die Banane wird gelegentlich auch gewitzelt: «Warum ist deine Banane krumm?» fragt die kecke 8-Jährige ihren Schulkameraden, der gerade herzhaft in die Frucht beisst. «Damit sie in die Schale passt», erwidert sie gleich selbst und grinst.

Wenn Pfarrfrauen die richtige Frage stellen

Nicht selten leiten einfache Warum-Fragen Veränderungen ein. So hat auch diese eine Frage das Schicksal der «Bananenfrauen» rund um Ursula Brunner bestimmt. Sie war durch den Film «Bananera Libertad» von Peter von Gunten ausgelöst worden1 . Das in den frühen 1970er-Jahren noch eher unbekannte Bananengeschäft wurde von Pfarrfrauen in ihren regelmässigen Frauentreffen in Frauenfeld diskutiert. Es blieb aber nicht nur beim Reden. Die Frauen schritten zur Tat: Sie schrieben auf unorthodoxe Weise den Migros-Genossenschafts-Bund an. Dieser konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass Frauen eine derartige Frage stellten.

Die Geschichte der «Bananenfrauen» ist spannend. Sie gleicht einem Abenteuer, das sie nicht selbst gewählt haben. Der Detailhandelsriese Migros liess sich damals zwar auf ein Gespräch ein, war jedoch nicht gewillt, den Bananenproduzenten einen höheren Ankaufspreis zu bezahlen. Daraufhin suchten die Frauen das Gespräch mit den Konsumentinnen und Konsumenten auf der Strasse. Sie machten so in vielen Schweizer Städten auf die erdrückende Situation bei der Produktion von Bananen aufmerksam. Diese Aktionen lösten ein breites Echo aus und brachte viele Menschen zum Nachdenken.

Hören und dem Ruf nachgehen – alles Weitere ist Zugabe

Was diese Frauen damals nicht wussten: Sie legten mit ihren Aktionen einen Grundstein für das Anliegen «Faire Produkte». Die Erklärung von Bern (heute Public Eye) war fast zeitgleich die treibende Kraft bei der Kaffee-Aktion Ujamaa – sie sprach sich für einen limitierten fairen Kaffee aus –, sowie bei der Jute-statt-Plastik-Aktion Mitte der 1970er-Jahre. Hier wurde ein Jutebeutel mit der Aufschrift «Jute statt Plastic»2 lanciert. Die Aktion wurde zum Symbol der Sensibilisierung für einen sorgfältigeren Konsumstil3 .
Ende der 1970er-Jahre gründeten dann mehrere Schweizer NGOs eine Importgesellschaft namens OS3, heute Claro Fair Trade, um Fair Trade-Produkte in der Schweiz zu verkaufen. In den 1990er-Jahren wurden schliesslich verschiedene Fair Trade-Labels eingeführt: das Bekannteste unter ihnen war 1992 das Label «Max Havelaar». Es zeichnet heute eine grosse Anzahl von Produkten im Detailhandel aus, die unter fairen Bedingungen produziert worden sind – unter anderen auch die Banane.

Als die Fair Trade-Bewegung in den 1980er-Jahren von einer breiteren Zivilbevölkerung aufgenommen wurde – allen voran von NGOs –, war der Interpretationsrahmen stets der Kalte Krieg. So argumentiert etwa der Kulturanthropologe Konrad Kuhn, dass der starke Gegenwind gegen den Verkauf von Fair-Trade-Produkten zu Teilen in der Strukturveränderung lag, welche die Bewegung beabsichtigte4 . In Zeiten des Kalten Krieges wurden Strukturveränderungen sofort politisch interpretiert, völlig unabhängig vom eigentlichen Problemfeld. Dieser hochpolitische Deutungsrahmen legte sich nach dem Ende des Kalten Krieges. Nun wurde nicht mehr jedes Wort politisch gedeutet. Ab 1991 gewannen vordergründig dann Aspekte der Wirtschaft ein höheres Gewicht.

Der Weg der «Bananenfrauen» war ähnlich mit dem, wie die Jungfrau zu ihrem Kinde kam: Der Ruf ihrer Zeit hatte diese Frauen und diese hatten ihre Berufung gefunden. Sie betrieben keine Parteipolitik, was jedoch nicht heisst, dass sie nicht politisch waren. Die fair produzierte Banane wurde 1992 von Max Havelaar übernommen. Die «Bananenfrauen» hatten aber schon zwei Jahrzehnte vorher entscheidende Impulse für den fairen Handel gegeben.

Die Warum-Frage bleibt auch heute aktuell

Heute die «Bananenfrauen» nachahmen zu wollen, würde heissen, in der Vergangenheit zu schwelgen. Der Konsum von Fair Trade-Produkten ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Rückblickend ist das Engagement der «Bananenfrauen» zweifellos beeindruckend.

Trotz und gerade wegen ihres Engagements sollten wir uns auch heute fragen, welche Probleme denn heute vorhanden sind. Wie heissen heute die brennenden Themen rund um den Konsum – und darüber hinaus? Und vor allem: Haben wir gegenwärtig überhaupt noch Orte, an denen wir diese Warum-Fragen stellen können? Oder stehen vor allem die Konzepte, durch die wir Menschen für unsere Ideen und Programme erreichen möchten, im Vordergrund?

Inspiriert von den «Bananenfrauen» möchte ich an dieser Stelle eine der heutigen Warum-Fragen aufwerfen, in der Hoffnung, dass andere in diese Frage einsteigen und die Frage weiterdenken. Meine Frage lautet: Warum sind eigentlich Kirchgemeinden und Organisationen, ja selbst unsere persönliche Karriere so stark auf Wachstum und Wirksamkeit ausgerichtet? Eine Ausrichtung nach Wachstumsindikatoren ist ja direkt oder indirekt immer mit Produzieren und Konsumieren verbunden, auch dann, wenn das äussere Erscheinungsbild unserer Aktionen trendig als «authentisch» bezeichnet wird. Warum spielen wir eigentlich dieses unauthentische Spiel in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft, inklusive Kirchen und Organisationen, mit?

Zum Beispiel Hamburg

Ein Beispiel soll Anregungen geben, wie heute Menschen statt Konsum und Programme im Vordergrund stehen können, ohne Strukturen und Planung zu diskreditieren.

Am Hamburger Bahnhof kommen auf engem Raum täglich 550‘000 Reisende an. Konflikte sind keine Seltenheit. Beispielsweise haben während der Flüchtlingskrise 2016 viele Geflüchtete u.a. vor den Einkaufsgeschäften ihre wenigen Habseligkeiten ausgebreitet, um zu schlafen, was wiederum das Einkaufen für Passanten verunmöglichte und so die Umsatzzahlen der Läden tangierte. Wie geht die Bahnhofsmission damit um?

Bei einem Besuch beim Leiter der Bahnhofsmission Hamburg, Axel Mangad, werden keine Mission Statements oder Alleinstellungsmerkmale der 140-jährigen Organisation zitiert. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, da gebe es keine genauen Ziele, die verfolgt werden, was sicherlich den einen oder anderen Geschäftsführer beunruhigen würde.

Wenn Axel Mangad erzählt, dann fällt auf, dass die Menschen im Vordergrund stehen. Er erzählt, dass die Bahnhofsmission flexibel sein will, um auf schnelle Veränderungen wie zum Beispiel eine Flüchtlingskrise reagieren zu können.

Das sind keine eingeübten Floskeln, das neu eingeweihte Gebäude bestätigt seine Erklärungen: Mitten im Raum steht eine Empfangstheke, damit die Mitarbeitenden sofort bei den Hilfesuchenden sind. Mit einer Falttür könnte der kleine Raum zum Beispiel sofort in ein kleines Café umgewandelt werden, falls nötig. Der Sanitätsraum nebenan, der mit ausgebildeten Pflegefachkräften besetzt ist, dient Menschen mit medizinischen Beschwerden, die etwa aus Scham über gewohnte Wege keinen Arzt aufsuchen würden. Ebenso können Menschen ihr mobiles Telefon zum Aufladen abgeben. Klingt banal, aber welcher fremden Person würde man heute das Telefon mit persönlichen Daten geben? Das geht nur, wenn ein hohes Grundvertrauen vorhanden ist. Das neugebaute Gebäude ist natürlich sorgfältig geplant worden. Aber das Konzept ist so ausgearbeitet worden, damit nicht der Konsum, sondern Menschen mit ihrer Not im Vordergrund stehen.

Wie wäre es, wenn wir lernen würden, zuallererst an die Menschen zu denken und erst dann an Strukturen und Zahlen? Der Inhalt kann dann völlig unterschiedlich sein, wie bei den «Bananenfrauen» vor 50 Jahren oder aktuell in der Bahnhofsmission in Hamburg. Der entscheidende Punkt liegt darin, die Fragen richtig zu stellen.


1. vgl. Brunner, Ursula: Bananenfrauen. Frauenfeld, 1999, insbesondere die Seiten 16-38

2. Der Slogan «Jute statt Plastic» steht mit Jute für die die natürlichen Materialien, «Plastic» mit einem c statt k symbolisierte das Fremde.

3. vgl. Strahm: Der aktionserprobte Achtundsechziger im Team der EvB 1974-1978, (2008), Seiten 139-140; in: Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf: Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968-1985), Zürich, 2008 (Seiten 113-166).

4. vgl. Kuhn, Konrad J.: Fairer Handel und Kalter Krieg. Selbstwahrnehmung und Positionierung der Fair-Trade-Bewegung in der Schweiz 1972-1990. Bern, 2005, Seiten 115-117

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Juni 2024 auf Forum Integriertes Christsein.

Foto von Rodrigo dos Reis auf Unsplash

~ 2 min

Rund um den Flüchtlingstag vom 16. Juni 2024 findet in verschiedenen Schweizer Städten die Aktion «Beim Namen nennen» statt. ChristNet gehört zu den Erstunterzeichnenden des Manifests «Menschen schützen – auch an den Grenzen» im Rahmen dieser Aktion.

Ein stilles Drama geht seit Jahren auf den Meeren und an den Grenzen Europas vor sich und schafft es nur gelegentlich in die Medien. Seit 1993 sind über 60’000 Kinder, Frauen und Männer an den EU-Aussengrenzen gestorben. Der diesjährige Flüchtlingstag gedenkt unter dem Titel «Beim Namen nennen» dieser Menschen in 10 Schweizer Städten. Es finden öffentliche Lesungen der «List of Deaths» statt. Dazu werden die Angaben jeder verstorbenen Person auf ein Stück Stoff geschrieben und an einer Installation befestigt, die dadurch zu einem Mahnmal im Gedenken an die Verstorbenen wird.

«Symptome statt Ursachen werden bekämpft»

Bereits jetzt kann das Manifest «Menschen schützen – auch an den Grenzen» zuhanden des Bundesrats unterzeichnet werden. Es kritisiert die im Dezember beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die nun umgesetzt wird. Unter anderem ruft es den Bundesrat dazu auf, sich im Rahmen der Schengen/Dublin-Assoziierung der Schweiz für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und die vollumfängliche Respektierung der Rechte von Asylsuchenden einzusetzen. «Die geplanten Massnahmen verletzen die Grundprinzipien nationaler, europäischer und internationaler Rechtsabkommen, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen», heisst es darin.
ChristNet gehört zu den Erstunterzeichnenden des Manifests und ist überzeugt, dass die Entwicklungen an den EU-Aussengrenzen auch die Schweiz etwas angehen, nicht bloss aufgrund des Schengen- und des Dublin-Abkommens, sondern auch als Geburtsstätte der Genfer Flüchtlingskonvention. Menschen müssen legal nach Europa einreisen und ein Asylgesuch stellen können.

Bitte unterzeichnen Sie das Manifest jetzt:


Weiterführende Links

Dokument, um handschriftliche Unterschriften sammeln zum Download

Weitere Informationen zu den Aktionen rund um den Flüchtlingstag vom 16. Juni 2024 Link: www.beimnamennennen.ch

~ 4 min

Am 9. Juni 2024 stehen zwei richtungsweisende Volksentscheide zu den Gesundheitskosten an. Dabei stellen sich folgende Fragen: Wie soll der Anstieg der Gesundheitskosten gebremst werden? Welcher Anteil der Gesundheitskosten soll den Einzelnen, vor allem den ärmeren Familien, aufgebürdet werden?

Das ChristNet-Forum vom 9. März 2024 hat aufgezeigt, dass die Ursachen der Steigerung der Gesundheitskosten (und damit der Krankenkassenprämien) sehr vielfältig sind: Von der Alterung der Gesellschaft über die höhere Anspruchshaltung und die ungesundere Ernährung bis hin zu den Profitinteressen vieler Beteiligter tragen zahlreiche Aspekte dazu bei und könnten (teilweise) verändert werden. Die Kostenbremse-Initiative der Mitte stört sich zu Recht an der ungenügenden Aktivität der Politik, die Kosten einzudämmen. Sie schlägt vor, ab einer Steigerung der Gesundheitskosten von über 20 % des Lohnwachstums den Bund – das Parlament also — zu verpflichten, die Kosten entsprechend zu senken. Sie zählt dabei viele Beispiele auf, wie nach einem Bericht des Bundes die Kosten bis zu 20 % gesenkt werden könnten.

Die Kostenbremsen-Initiative: Bei den aktuellen Machtverhältnissen trifft sie die Falschen

Nur: Dasselbe Parlament, in dem die Mitte meist das Zünglein an der Waage und damit die Mehrheitsbeschafferin ist, lehnt regelmässig die Vorlagen zur Kostensenkung ab. Insbesondere die von der Initiative genannten Medikamenten- und Generikapreise sind von der Mitte bisher kaum angetastet worden, da ihr Parteiprogramm sehr wirtschaftsfreundlich ist. Es ist also schwierig zu glauben, dass das Parlament genau in den von der Initiative genannten Bereichen die Kosten tatsächlich reduzieren wird. Bei den aktuellen Machtverhältnissen im Parlament ist davon auszugehen, dass an anderen Orten gespart wird: Druck auf die Kosten der Leistungen heisst meist Druck auf die Angestellten des Gesundheitswesens, vor allem auf das Pflegepersonal, das bereits heute unter extremem Druck steht. Selbstverständlich werden mit der Initiative auch Forderungen zur Erhöhung des Selbstbehalts und zur Reduktion des Leistungskatalogs in den Raum gestellt. Beides trifft vor allem die weniger begüterten und gesundheitlich angeschlagenen Menschen. Bereits heute ist die Schweiz unter den OECD-Ländern auf Rang 9 von 38, was die Bezahlung der Gesundheitskosten (in %) aus dem eigenen Sack angeht.

Ohne eine Veränderung der Perspektive des Parlaments von der Schonung der Wirtschaftakteure hin zu den Bedürfnissen der Benachteiligten ist der Ansatz der Initiative für finanziell und gesundheitlich unter Druck stehende Menschen eine grosse Gefahr. Denn die möglichen Einsparungen, die sie unter dem aktuellen Kopfprämien-System machen können, werden kaum die Nachteile für sie aufwiegen.

Die 10 %-Initiative ist bitter nötig

Einsparungen sind noch in weiter Ferne und werden höchstens den Prämienanstieg bremsen, aber sicher nicht langfristig die Prämien senken können. Es braucht deshalb auch dringend die Plafonierung der Prämien pro Familie auf 10 % des Einkommens, wie es bereits der Kanton Waadt erfolgreich vormacht. Denn die am stärksten betroffenen Familien können nicht warten, bis sich irgendwann das Prämienwachstum verlangsamt. Sie sind bereits heute stark unter Druck. Der Anteil der Kinder, die in Armut leben, lag bereits im Jahr 2021 laut der neusten UNICEF-Studie in der Schweiz bei 18 % und ist im Steigen begriffen, während sie in den nordischen Staaten bei 10 % liegt und in den meisten Ländern sinkt. Laut dem aktuellen Familienbarometer ist der Anteil der Familien, die sehr wenige finanzielle Mittel haben, wegen der allgemeinen Teuerung (in der die Krankenkassenprämien noch nicht einmal eingerechnet sind) vom Jahr 2023 auf 2024 nochmals angestiegen. Wir müssen also dringend handeln und zwar gezielt zu Gunsten der armen Familien. Das bisherige System der Prämienzuschüsse genügt bei weitem nicht, im Gegenteil: der Betrag für die einzelnen Empfänger wurde in 17 von 26 Kantonen während der vergangenen 10 Jahren gekürzt.

«Löst das Problem nicht» ist ein absurdes Argument

Ja, die 10 %-Initiative löst das Problem der steigenden Gesundheitskosten nicht, aber doch die problematischen Auswirkungen und grössten Nöte. Um das geht es doch eigentlich!
Wir müssen in der komplexen Diskussion um das Schweizer Gesundheitswesen wegkommen vom unlogischen Entweder-oder-Denken: Keine Massnahme löst alle Probleme. Wir müssen auf vielen verschiedenen Ebenen ansetzen. Und als Christinnen und Christen muss unser Fokus auf denjenigen Menschen liegen, die finanziell am meisten unter Druck stehen. Es gilt zu analysieren, was diesen am besten hilft. Dies heisst heute konkret:

  1. Plafonierung der Prämien auf 10 % des Einkommens durch Annahme der 10 %-Initiative
  2. Kosten senken, wo es wirklich einschenkt und wo die gesundheitlich oder materiell Benachteiligten nicht noch stärker unter Druck kommen -> das heisst zum Beispiel Mut zur Beschneidung von Gewinninteressen (Pharmaindustrie, Privatspitäler etc., deren Interessenvertretung im Parlament aktuell stark vertreten ist).
  3. Neue Konzepte zur Kostensenkung und für einfachere Pflegemodelle wie z.B. Buurtzorg.
  4. Stärkere Investition in die Prävention, bei der die Schweiz massiv hinterherhinkt und wo gar die Förderung von Rauchen durch Werbung noch erlaubt ist, und in den Breitensport.

Foto von Phil Scroggs auf Unsplash

~ 7 min

Viele Menschen spüren eine zunehmende Verunsicherung. Die Globalisierung, die Komplexität vieler Zusammenhänge und die Digitalisierung lassen immer mehr Menschen ratlos zurück. Und auch die Kriege an den Rändern Europas sind eine Realität, von der wir dachten, dass wir sie überwunden hätten.

In dieser um sich greifenden Rat- und Hilflosigkeit erstarken die Extreme, die uns Sicherheit und Klarheit versprechen. In vielen Ländern erleben die rechtspopulistischen und nationalistischen Kräfte starken Zulauf. Diktatoren haben Hochkonjunktur, weil sie einfache Lösungen für komplexe Fragestellungen anbieten. Was passiert gerade mit unserer Welt, mit unserer Kultur und unserer Gesellschaft?

Normalität

Was viele Menschen aktuell als verunsichernd und anstrengend erleben, ist der Verlust der Normalität. «Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.» (Wikipedia) Wir kommen aus einer längeren Phase gesellschaftlicher Normalitäten. Vieles war geklärt, galt als «normal» und fand breite Akzeptanz. Man musste nicht ständig überlegen, wie man in der Norm bleibt. In der normierten Normalität kann man sich unbeschwert bewegen, weil einem viele Entscheidungen abgenommen sind. Normalität schafft Sicherheit, Orientierung und Geborgenheit. Sie ist unsere Komfortzone. Normalität ist eine Art verbindende Schnittmenge der Gesellschaft.

«Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.»

Verlust der Normalität

Seit Jahren erleben wir, wie das Feld der Normalität kleiner wird – und die Verunsicherung grösser. Die Schnittmenge wird kleiner, weil die Diversität der Gesellschaft grösser wird. Was über Jahrzehnte als geklärt galt, wird neu verhandelt und infrage gestellt. Wir erleben den Verlust an Normalität in einem Tempo, wie das selten zuvor der Fall war. Im Folgenden nenne ich einige Beispiele, die diese Verunsicherung und Normverluste zum Ausdruck bringen.

Unsere Sprache

Wie dürfen wir noch reden? Plötzlich löst man durch einen Satz oder ein Wort einen Shitstorm aus. Darf ich Begriffe, die mir mein ganzes Leben lang vertraut waren, überhaupt noch gebrauchen oder diskriminiere ich damit jemanden? Darf ein Restaurant noch «Zum Mohren» heissen? Muss ein Strassenname umbenannt werden, wenn er nach einem General aus dem Ersten Weltkrieg benannt ist? Auch das Gendern bedroht die Normalität unserer Sprache. Der Sprachfluss verändert sich und neue Endungen müssen kreiert werden. Selbst in einer der neuesten Kinderbibeln wird konsequent gegendert, was das Vorlesen offen gesagt herausfordernd macht.

Kultur und Nationalität

Eine andere Verunsicherung betrifft Fragen der Kultur und Nationalität. Dürfen meine Kinder an Fasching noch als «Indianer» verkleidet in den Kindergarten gehen? Darf ich als Schweizer Dreadlocks tragen, einen Sombrero aufziehen und Paella kochen – oder ist das bereits kulturelle Aneignung? Dürfen die Kirchenglocken in einem Dorf noch läuten oder ist das jetzt Ruhestörung? Ist die klassische Familie mit Mutter, Vater und Kindern noch der Normalfall oder wird das durch alternative Familienmodelle abgelöst? Und dann hat uns zudem die Coronakrise unverhofft aus unserer Alltagsnormalität herausgerissen.

Konsequenzen

Eine Konsequenz dieses Normalitätsverlusts ist die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach der alten Normalität. Und viele, die eine Rückkehr zu den alten Normen versprechen, erleben Zulauf, egal ob radikale Partei oder fundamentalistische Religion. Eine weitere Konsequenz ist der Rückzug in die eigenen vier Wände und dadurch die Abkehr von der Verunsicherung da draussen. Es wächst das Zugehörigkeitsgefühl zu denen, die den Verlust an Normalität ebenfalls beklagen und gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung denen gegenüber, die diese neuen Klärungen einfordern. Damit vergrössert sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Die Menschen werden fremdenfeindlicher, weil es «die Fremden» sind, die mit ihrer Kultur, ihren Sitten und Werten unsere Normen bedrohen. Und gleichzeitig werden die Fremden unzufriedener, weil sie durch ihren sozialen Stand und den Mangel an Ressourcen ihre eigene vertraute Normalität nicht wieder aufbauen können. Die Anziehungskraft der eigenen Normalität ist daher auch einer der Gründe, warum Integration oft nur schwer gelingt. Integration bedeutet nämlich für fremde Menschen, ihre Normalität aufzugeben und dafür unsere Normalität zu übernehmen. Aber Normalität wächst über Jahrzehnte, über Generationen hinweg und lässt sich nicht einfach austauschen. Und wer Vertreibung, Krieg oder Flucht hinter sich hat, verspürt umso mehr das Bedürfnis nach vertrauter Normalität. Der Mangel an Integrationsbereitschaft muss nicht Ablehnung der neuen Kultur bedeuten, sondern bringt vielmehr die starke Anziehungskraft des Vertrauten zum Ausdruck, die sich in der eigenen Kultur, der eigenen Sprache, den eigenen Traditionen und Sitten zeigt. Bei alledem gibt es eine Schizophrenie in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite will man den maximalen Individualismus, die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen. Und auf der anderen Seite will man ganz viel Normalität und eine möglichst grosse Schnittmenge in der Gesellschaft. Aber man kann auf Dauer nicht beides haben. Wie gehen wir als Christen und als Gemeinden mit dem Verlust von Normalität um?

1. Die Schattenseiten der Normalität wahrnehmen

Ich habe bisher die Vorzüge von Normalität geschildert. Die Geschichte zeigt: Normalität war auch ein Machtinstrument, ein Werkzeug der Unterdrückung. Die Normalität hat Blut an ihren Fingern. Sie war der Nährboden, auf dem ausgegrenzt, ausgeschlossen, diffamiert, denunziert, kriminalisiert und eingesperrt wurde. «Arisch» galt in der Nazi-Ideologie als normal und darum wurden Juden als Ungeziefer betrachtet, die es auszurotten galt. «Weiss-Sein» galt als normal und darum durfte man dunkelhäutige Menschen als Sklaven halten. «Katholisch-Sein» galt als normal und darum durfte man Protestanten verfolgen. Der Mann als Ebenbild Gottes galt als normal und darum wurde in vielen Kirchen Frauen das Lehren und Leiten untersagt. Heterosexualität gilt in vielen Ländern als normal und darum werden in manchen davon queere Menschen mit lebenslanger Haft oder dem Tode bestraft. In Anbetracht dieser Beispiele hat der Verlust der Normalität auch etwas Gutes, denn er zerstört gewachsene Unterdrückungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen.

2. Christen haben schon lange den Bereich der Normalität verlassen

Die Geschichte der Jahwe-Religion ist im Kern die Geschichte des Auszugs und des Aufbruchs aus der Normalität. Abraham als Vater der jüdischen Religion hört von Gott: «Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!» (Gen 12,1). Land, Heimat und Verwandtschaft sind der Inbegriff der Normalität. Aber genau aus dieser Normalität musste Abraham aufbrechen in die Fremde, ins Unbekannte, ins Ungewisse. Und bis heute ist für die Juden der Exodus unter Mose ihre konstituierende Erfahrung als Volk und als Religion. Das Volk Gottes ist und bleibt ein Volk im Aufbruch, ein Volk auf Wanderschaft, ein Volk in der Fremde. Auch im Neuen Testament bestätigt Petrus diese Fremdheit der Christen: «Ihr wisst, liebe Geschwister, dass ihr in dieser Welt nur Ausländer und Fremde seid» (1Petr 2,11). Und Paulus redet davon, dass wir unser Bürgerrecht im Himmel haben (Phil 3,20). Aus der irdischen Normalität wurde für uns eine himmlische Identität. Das griechische Wort für Gemeinde (Ecclesia) heisst wörtlich «die Herausgerufenen». Wir sind herausgerufen aus den Normen der irdischen Gesellschaft. Unsere Zugehörigkeit, Heimat, Verbundenheit und Sicherheit nehmen wir nicht aus dem Bereich der irdischen Normalität, sondern aus der Kraft unserer himmlischen Identität. Was für uns Christen normal ist, orientiert sich nicht an irdischen Normen, sondern an himmlischen Werten. Nicht am gesellschaftlichen Konsens, sondern am Lebensstil Jesu. Als Bürger des Himmels hätte ich viel früher damit beginnen müssen, mich den Machtstrukturen der Normalität entgegenzustellen, mich auf die Seite der Diskriminierten, der Benachteiligten, der Fremden und der Vergessenen zu stellen und mich der betäubenden Wirkung der Normalität zu widersetzen.

3. Die Bedeutung von Solidarität

Dem Verlust der Normalität folgt der Verlust der Solidarität. Der höhere Energieverbrauch für ein Leben mit geringerer Normalität muss irgendwo kompensiert werden. Als Konsequenz konzentrieren wir uns auf uns selbst und müssen uns ganz neu zurechtfinden. Oft geht das auf Kosten der Solidarität, des Ehrenamts und der Hilfsbereitschaft. Alle wollen frische Brötchen am Sonntagmorgen, aber keiner will um 4:00 Uhr diese Brötchen backen. Alle wollen am Sonntag in die Notaufnahme gehen können, aber immer weniger Menschen sind bereit, am Wochenende zu arbeiten. Alle sind dankbar, wenn ihre Kinder im Sportverein gefördert werden, aber an vielen Orten fehlt es an ehrenamtlichen Trainern oder Trainerinnen. Ich erlebe einen dramatischen Rückgang an Solidarität in unserer Gesellschaft. Und der Grund ist nicht, dass Menschen so gottlos, böse und egozentrisch sind, sondern der Verlust der Normalität wird als so verunsichernd und anstrengend erlebt, dass keine Energie und Kapazität übrigbleiben. Als Christen werden wir keine neue Normalität erschaffen! Aber wir können eine Kultur der Solidarität prägen. Wir können unserem Umfeld auf Schritt und Tritt zeigen, was es heisst, solidarisch zu sein. Wir können vorleben, dass sich unsere Solidarität nicht aus der Normalität speist, sondern aus den Werten des Himmels und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unserem Leben. Wir können nicht erst dann wieder solidarisch sein, wenn wir in unserer Komfortzone zurückgefunden haben. Solidarität bezeichnet eine Haltung der Verbundenheit mit – und eine Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten, Bedürfnissen und Zielen anderer Menschen und Geschöpfe. Das ist nichts anderes als Nächstenliebe. Wie wäre es also, wenn wir als Kinder Gottes mithelfen würden, dort die Normalität zu hinterfragen, wo sie als Machtinstrument missbraucht wird, um Menschen oder diese Schöpfung zu dominieren, zu diskriminieren, auszubeuten oder auf ihre Kosten zu leben? Und wie wäre es, wenn wir unser eigenes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit weniger aus der Normalität um uns herum speisen, sondern viel mehr aus dem Bewusstsein, in dieser Welt Fremde zu bleiben, deren Heimat, deren Familie und deren Bürgerrecht im Reich Gottes und in unserem Vater im Himmel liegen? Und wie wäre es, wenn wir trotz dem Verlust an Normalität umso mehr um Solidarität bemüht sind? Wenn wir überall dort, wo wir sind, den Geruch der Solidarität hinterlassen und so unsere Gesellschaft inmitten des Normalitätsverlusts stärken? Diese drei Dinge wünsche ich mir für die Christen.

Dieser Artikel ist erstmals im Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2024 erschienen.

Foto von Christian Erfurt auf Unsplash

~ 4 min

Vor rund einem Monat haben in Senegal Wahlen mit einem hoffnungsvollen Ausgang stattgefunden. Alain Schaeffer, der seit Anfang 2023 im Senegal tätig ist, erklärt im Artikel die Hintergründe. Er erlebt diesen Machtwechsel als Zeichen göttlicher Führung.

Innerhalb von 20 Tagen vom politischen Gefangenen zum Präsidenten bzw. Premierminister aufsteigen: Dies wurde im Senegal dank einer historischen Wahl möglich, die die Opposition im ersten Wahlgang gewann. Bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten Bassirou Diomaye Faye waren Worte wie «Versöhnung der Herzen», «Wunder» und «Hoffnung» zu hören; in den Wochen vor der Wahl erlebten wir, wie der autokratische Kurs des Landes korrigiert wurde. Diese Machtübergabe an Bassirou Diomaye Faye als Präsident und Ousmane Sonko als Premierminister kann als Wunder bezeichnet werden. In den letzten Wochen erlebte der Senegal einen Traum, der von Idealen durchdrungen ist und Begeisterung hervorruft. Wie könnte man dieses Wunder nicht als göttliches Eingreifen sehen, als Antwort auf die Gebete, die im Land und ausserhalb des Landes für einen politischen Neuanfang im Senegal formuliert wurden?

Eine Vision integrer Männer

Das Programm der neuen Regierung kündigt einen Bruch mit der früheren politischen Elite auf mehreren Ebenen an: mit der Korruption, mit dem, was man als Neokolonialismus bezeichnen kann, und mit den alten politischen Praktiken im Senegal, die ihn bislang daran gehindert haben, voll und ganz Demokratie zu werden. Dies weckt die Hoffnung nach einem tatsächlichen gesellschaftlichen Wandel durch den Regierungswechsel.

Aber wer sind diese beiden Führungspersönlichkeiten, die sich einer solchen Herausforderung stellen? Nach ihrem Studium an der senegalesischen Verwaltungshochschule nach französischem Vorbild arbeiteten beide als Steuerbeamte im Dienste ihres Landes. Dabei liessen sie sich nicht auf die allgemein praktizierte Korruption ein. Sie prangerten stattdessen die bestehende Praxis an und gründeten eine Gewerkschaft, um sowohl eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor zu fordern als diesem auch ein anderes Image als der allgemein üblichen persönlichen Bereicherung zu geben – bis sie vom vorherigen Präsidenten Macky Sall wegen ihres Engagements aus dem öffentlichen Dienst entfernt wurden.

Die ersten Schritte der neuen Regierung geben den Ton für den Richtungswechsel an: Der ehemalige Generalstabschef wurde zum neuen Innenminister ernannt. Dieser hatte 2021 den Einsatz der Armee zur Niederschlagung von Demonstrationen von Oppositionellen abgelehnt, worauf er von seinem Amt zurücktreten musste und auf ein Abstellgleis geschoben wurde. Der Justizminister ist der ehemalige Leiter der Staatsanwaltschaft, der einer Klage des damaligen Oppositionsführers Ousman Sonko wegen fehlerhafter Verfahren stattgeben wollte und daher von seinem Posten entfernt und versetzt wurde. Bereits in den ersten Tagen nach dem Regierungswechsel erhielt die gesamte Verwaltung einschliesslich der Minister einen Brief, in dem die neue Regierung die Schlüsselwörter ihres Programms in Wolof, der wichtigsten lokalen Sprache, verkündete: «Jub Jubal Jubanti», was Rechtschaffenheit, Redlichkeit und Vorbildlichkeit bedeutet. Im gleichen Brief sicherte die Regierung Wistleblowern Schutz zu1 . Die Richtung ist vorgegeben, offensichtlich mit dem Ziel, gegen korrupte Praktiken sofort und nicht schrittweise vorzugehen.

Beziehung zum Evangelium

Nelson Mandela, ein methodistischer Christ und späterer Präsident Südafrikas, war nach 27 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden. In dieser langen Zeit wurden sein Gewissen und seine Überzeugung geformt, dass nur der Weg der Vergebung und Versöhnung zu einer inneren Befreiung führen kann. Ousman Sonko und Bassirou Diomaye haben zusammen mit ihrer Partei das Motto «Hingabe für das Vaterland» geprägt. Ousman Sonko, der wie Nelson Mandela für seine Ideen inhaftiert war, wurde während dieser Zeit einmal in die Notaufnahme und ein anderes Mal auf die Intensivstation gebracht, weil er aus Protest einen Hungerstreik begonnen hatte.

Das ehemals französische Afrika und alles, was an politischem, wirtschaftlichem und militärischem Einfluss Frankreichs dazu gehört, ist für alle ehemaligen französischen Kolonien, darunter auch den Senegal, eine schwere Last. Selbst von besonnenen, gemässigten Christen hört man hier viel darüber. Die Aufarbeitung dieser Missstände sollte idealerweise von den Franzosen selbst vorgenommen werden: Sie sind die Akteure, die sich mit ihrem Verhalten und den Fakten aus der Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um einen Kurswechsel des Bedauerns einzuschlagen und in Folge dessen auf Vergebung und Gnade zu hoffen. Das Gebet ist in dieser Beziehung eine mächtige Kraft! Für Personen, die nicht aus den betroffenen Ländern stammen, ist es wichtig, sich zu informieren und zuzuhören. Wikipedia ist ein gutes Hilfsmittel, das in seinem französischen Artikel zwei von Franzosen verfasste Bücher erwähnt, die die Fakten schonungslos beschreiben und als Referenzdokumente dienen.2

Der Korruption und der Unterdrückung von Gegnern unter dem alten Regime Senegals kann das Evangelium entgegenwirken: Nächstenliebe, Böses mit Gutem vergelten, sich nicht rächen, Vergebung, anderen das tun, was man sich selbst wünschen würde3 – das ist es, was darauf wartet, im Senegal nun gesät zu werden. Diese Themen aus dem Evangelium sind ein Echo der oben beschriebenen Vision, die wir am Tag der Amtseinführung des senegalesischen Präsidenten gehört haben. Es liegt an uns Christen, die Herausforderung anzunehmen, die Gute Nachricht von einem durch Vergebung erneuerten Leben zu verkünden und einen Neuanfang bei Null anzustossen.

Nicht alle Politiker haben das «Glück», wie Mandela 27 Jahre im Gefängnis verbracht zu haben, um dadurch derart grundlegend verändert zu werden und über den reinen Drang zur Macht hinauszuwachsen, der oft das Engagement in der Politik begründet. Glauben, beten und handeln wir, damit der Wille zur Selbsthingabe der neuen senegalesischen Führung, die uns an Jesus und seine Hingabe für die Erlösung der Menschheit erinnert, zu einer Veränderung der Herzen und der Mentalität in diesem schönen Land führen kann.

1. Der Brief wurde in den Medien veröffentlicht: https://teranganews.sn/2024/04/incarner-les-principes-du-jub-jubal-jubanti-la-lettre-du-president-diomaye-faye-aux-fonctionnaires-et-agents-de-ladministration-document/
2. Der französischsprachige Artikel mit «françafrique» überschrieben bei Wikipedia: https://fr.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7afrique
3. S. Bergpredigt (Matthäus 5-7)

Foto von Victor Rutka auf Unsplash

~ 4 min

An der StopArmut-Konferenz vom 6. April 2024 wurde die Ge-Na-Studie vorgestellt, die die Einstellungen der Christinnen und Christen zur sozialen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit untersucht hat. Sechs Persönlichkeiten aus Kirche und Politik kommentierten die Studie. Darunter auch ChristNet-Autor und A-Rocha-Präsident Steve Tanner.

Haben Sie schon Ihren Elektroschock-Moment bezüglich Klima erlebt? Der Moment, in dem Ihnen klar wurde, dass es ernst ist und dass Sie sich engagieren und Ihre Gewohnheiten ändern müssen? Dass die Lebensqualität unserer Kinder davon abhängt? Ich erlebte einen solchen Moment am 2. Juni 2007 anlässlich einer von der Schweizerischen Evangelischen Allianz organisierten Klimakonferenz, bei der ein Professor für Klimatologie einen meisterhaften Vortrag über die Klimawissenschaft hielt und ein Theologe die biblische Grundlage für das Handeln lieferte. Das hat mich beeinflusst.

2007 war bereits alles klar:

  • Die Ursachen der Erwärmung: vom Menschen verursachtes CO2.
  • Die schwerwiegenden Folgen für Ökosysteme und Menschen.
  • Das Verständnis für Gottes Aufruf, sich um das Klima zu kümmern.

Seither ist die Welt aktiv geworden, Christen haben das Thema ernst genommen. Aber wir gehen nicht schnell genug voran, um aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen, weil wir unsere Privilegien nicht aufgeben wollen und Angst vor Veränderungen haben.

Mein Ziel hier ist es, für die Christen und die Kirchen drei Fragen zu beantworten:

  1. Wo stehen wir in unserem Einsatz für das Klima?
  2. Welche Hindernisse hindern uns daran, Fortschritte zu machen?
  3. Was motiviert uns, uns mehr zu engagieren?

Die Ge-Na-Studie gibt interessante Einblicke in unser Handeln für das Klima. Zunächst einmal hat sie gezeigt, dass dies für Christinnen und Christen ein mittleres Anliegen ist. Welche Bedeutung hat das? Dass das Problem nicht so ernst ist? Oder auf dem besten Weg zur Lösung?

Bei den vorrangigen nachhaltigen Zielen für eine nachhaltige Entwicklung der UNO (SDG) gab es Unterschiede zwischen schwach praktizierenden Christen, für die das Klima an dritter Stelle steht, und stark praktizierenden Christen, für die es an fünfter Stelle steht.

Es scheint, dass je praktizierender man ist, desto weniger das Klima eine Priorität darstellt. Wir müssen versuchen zu verstehen, warum das so ist.

Die Ge-Na-Studie hat gezeigt, dass bestimmte theologische Haltungen das Klimaschutzhandeln bremsen können. Die erste ist: «Die Idee der Neuschöpfung der Welt hat einen negativen Effekt auf das nachhaltige Verhalten der Befragten.» Das Evangelium, z. B. Lukas 15,11, in dem es um Geld geht, erinnert uns daran, dass Gott daran interessiert ist, wie wir mit irdischen Dingen umgehen, selbst wenn diese Dinge vergehen werden. Wenn wir unfähig sind, uns um diese Erde zu kümmern, wird der Herr uns dann seine neue Schöpfung anvertrauen?

Ein weiteres theologisches Ergebnis der Studie ist interessant: „Christen, die an einen Gott glauben, der die Ereignisse in der Welt kontrolliert, verhalten sich weniger nachhaltig und sind weniger besorgt über den Klimawandel“.

Gott ist allmächtig, aber dennoch befiehlt er uns, in seinem Namen zu handeln, wie Matthäus 28,18 in Erinnerung ruft. Sich hinter der Allmacht Gottes zu verstecken, um nicht zu handeln, ist also kein Zeichen von Frömmigkeit, sondern von Ungehorsam. Dies zeigt, wie wichtig eine Theologie der „Schöpfungsfürsorge“ ist, die in unseren Kirchen gepredigt wird. Während 65% der Protestanten schon einmal eine Predigt zum Thema Nachhaltigkeit gehört haben, haben nur 45% der Evangelikalen eine solche Predigt gehört, berichtet uns die Studie.

Ich möchte mit drei Prinzipien fortfahren, die sich jeder zu eigen machen kann, um etwas für das Klima zu tun. In einem ersten Schritt geht es darum, unsere CO2-Bilanz zu erstellen, um die großen CO2-Verursacher in unserem Leben zu identifizieren. Das hilft uns, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Zweitens ist es genauso wichtig, die Gewohnheiten zu ändern wie neue Technologien einzusetzen. Der Umstieg auf ein Elektroauto ist gut, aber wir sollten es auch weniger benutzen und ein kleineres Auto wählen. Schliesslich sollten wir kollektive Massnahmen genauso unterstützen wie individuelle umsetzen, denn beides ist notwendig. Dies ist in evangelikalen Kreisen, die oft die individuelle Freiheit auf Kosten kollektiver Massnahmen verteidigen, nicht selbstverständlich.

Leichter zu lösen als Probleme wie Krieg und Korruption

Seit 2007 hat unsere Familie einen Prozess zur Reduzierung der CO2-Emissionen eingeleitet.

  • Wohnen: Ölheizung durch Solar- und Holzheizung ersetzt und das Haus isoliert.
  • Mobilität: öffentliche Verkehrsmittel, starke Reduzierung von Flugreisen, Elektroauto.
  • Essen: weniger Fleisch, lokaler und saisonaler Konsum.

Unser Familien-CO2 ist stark gesunken, auf weniger als 4 Tonnen pro Person (Schweizer Durchschnitt 10 Tonnen), ohne die Lebensqualität einzuschränken oder unsere Kosten zu erhöhen. Es ist also möglich, unsere Emissionen zu reduzieren. Die Klimakrise ist leichter zu lösen als andere menschliche Probleme wie Kriege oder Korruption. Die erforderlichen Anstrengungen sind überschaubar, aber die positiven Auswirkungen auf unsere Zukunft sind enorm.

Als Christen haben wir drei starke Motoren, die uns voranbringen:

Liebe → Sie zeigt sich in Taten. Jesus sagt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Gehorsam → Verantwortung treibt zum Handeln. Handeln bedeutet nicht, an der Macht Gottes zu zweifeln, sondern treu unseren Teil zu tun, im Glauben, dass er den seinen tun wird.
Hoffnung → Der Glaube an die Zukunft führt zum Handeln. Mit Hoffnung zu leben, lässt uns in den Wandel eintreten. Es gibt keine Opfer mehr, sondern neue Möglichkeiten.

In einer oft hoffnungslosen Welt ist das Handeln für das Klima für uns Christen eine Gelegenheit, zu zeigen, von welchem Gott wir leben: von einem Gott der Hoffnung und der Liebe. Also: Tun wir es!

~ 12 min

Die weltweite Popularisierung des Internets in den 90er-Jahren war eine echte Errungenschaft. Mit E-Mails konnte man plötzlich ganz unkompliziert Freunde erreichen und ihnen Dokumente übermitteln; Websites machten es möglich, die Botschaft der eigenen Firma oder Institution in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Mit den sozialen Medien, KI und dem Verfälschen von Bildern und Tönen hat diese faszinierende Informationswelt ihre Unschuld verloren. Heute droht eine Desinformationsgesellschaft, die zu einer wachsenden Gefahr für uns alle wird. Gibt es Auswege?

Als Journalist war ich von Anfang an dabei, als das Internet für alle verfügbar wurde. Das Zischen und Surren während des Aufbaus einer Verbindung faszinierte nicht nur mich, sondern auch meine Kinder. Ich führte sie nach und nach in diese faszinierende Welt ein. Anfangs verbunden mit einer strengen Zeitlimite. Wer sich länger im Internet bewegen wollte, musste das mit seinem eigenen Sackgeld bezahlen.

Für das Verbreiten der christlichen Botschaft eröffneten sich auf einen Schlag neue Möglichkeiten, insbesondere in den wenig entwickelten Gebieten unserer Welt. Sobald dort Internetverbindungen verfügbar waren, musste der Missionar nicht mehr zwingend persönlich anwesend sein. Er konnte seine Texte – so etwa Bibelübersetzungen – bequem digital übermitteln. Es wurde möglich, auch im Weltsüden digitale Unterrichtseinheiten für eine breite Bevölkerung anzubieten. Eine schöne neue Informationswelt!

Die Blütezeit von Facebook

Für den Studenten Mark Zuckerberg und seine Freunde war Facebook anfangs nur ein Gag, um den Wettbewerb um hübsche Studentinnen anzuheizen. Er spürte aber rasch, dass mit Social Media mehr möglich war. Schliesslich liess sich das Ganze ja mit Werbung verbinden und damit finanzieren. 2007 war der 23-jährige CEO von Facebook bereits Milliardär. An der Börse gewann das junge Unternehmen immer mehr das Interesse von Kapitalisten. Innert Kürze war Facebook 15 Milliarden Dollar wert.

Anfangs gab es noch keine Like-Funktion, «niemand konnte seinen Selbstwert an den Daumen messen, die von andern geklickt wurden»1 . Auch das unendliche Scrollen gab es noch nicht. Wenn man alle Reaktionen von Bekannten gelesen hatte, war der eingegebene Beitrag – der Post – an seinem Ende angelangt. «Kein Algorithmus steuerte die Beiträge, sie erschienen schlicht in der Reihenfolge, in der sie publiziert worden waren».

Jessica King schildert diese Blütezeit von Facebook so: «Es ging ja auch nicht darum, in eine manipulierte Parallelwelt einzutauchen, in der alle anderen Menschen scheinbar aufregendere Leben führen. Stattdessen benutzten wir die Plattform, um am banalen Alltag anderer teilzunehmen, … Gruppen mit lustigen Namen zu gründen, … sich zum Geburtstag zu gratulieren und die Profile von Menschen zu suchen, die man an der Uni sonst nur von weitem sah. Es war ein Tool, um Verbindungen zu schaffen und zu intensivieren.» Also ein ähnlicher Effekt, der mit der Einführung des Internets eingeläutet worden war.

Der Anfang vom Ende

Am 9. Februar 2009 führte Facebook den Like-Button ein. Jessica King reagierte mit dem folgenden Post: «Wer diesen Beitrag liked, ist doof.» Die Reaktion kam sofort: «Schon klickten mehrere auf das Däumchen, und zum ersten Mal spürte ich den kleinen Dopamin-Rausch der digitalen Zuneigung. Bald brütete ich über der Frage, warum gewisse Posts besser funktionierten als andere, versuchte meine Performance zu optimieren. Ich verglich mich mit anderen und spürte einen leichten Anflug von Scham, wenn ich weniger Likes als Kommilitoninnen und Kommilitonen erzielte.»

Parallel zur Lancierung des Like-Buttons kam Facebook in der Schweiz auf eine Million Nutzer. Nun wurde die Plattform zunehmend gesteuert. Jessica King stellt fest, dass Facebook immer häufiger andere Formate mit ihren eigenen Beiträgen verknüpfte, mit «Werbung, News und Beiträgen bislang unbekannter Seiten, ‚die mir gefallen könnten’». 2011 entschied sich Facebook, die fremden Beiträge nicht mehr chronologisch sondern von Algorithmen gesteuert aufzulisten. Damit begann das unendliche Scrollen auf der Suche nach einem noch spannenderen Beitrag zum Thema. Jessica King schildert ihre Erfahrung so: «Immer länger blieb ich nun am Bildschirm sitzen, scrollte und scrollte und scrollte, in der Welt des blauen Riesen gefangen.»

Mark Zuckerberg begann nun, sein Unternehmen auszubauen. Er schluckte Konkurrenten wie Instagram und Whatsapp und bezahlte dafür 1 bzw. 19 Milliarden Dollar. «Dass Profit immer wichtiger wurde, spürten wir im Alltag», sagt Jessica King dazu. «Versprühte Facebook zu Beginn noch ein karge Ästhetik, wurde die Plattform zunehmend mit knalliger Werbung, verwirrenden Feeds und unkontrollierbaren Sidebars zugekleistert.»

Als sich 2011 der Arabische Frühling entlud, trugen Facebook und der Konkurrent Twitter die Proteste aus Tunesien in alle Welt. Jessica King frohlockt: «Der Glaube an die politische Macht von Facebook wuchs – sogar Diktatoren konnte man damit stürzen! Wir posteten unsere Unterstützung, nutzten ab 2013 dafür Hashtags2 , die Facebook eingeführt hatte, und glaubten, mit diesem digitalen Aktivismus den Unterdrückten der Welt geholfen zu haben.»

2014 wurde das Symbol # in der Schweiz zum Wort des Jahres gewählt. Die wichtigsten Hashtags waren 2014 dann aber nicht Themen rund um die Ungerechtigkeit in unserer Welt, sondern zum Beispiel #IceBucketChallenge. Unter dieser Adresse leerten sich Menschen rund den Globus eiskaltes Wasser über den Kopf und dokumentierten dies mit einem Videoclip, in der Erwartung, möglichst viele Likes zu erhalten. Zu den bekanntesten Hashtags gehört #MeToo, der seit Mitte Oktober 2017 im Zuge des Weinstein-Skandals Verbreitung in den sozialen Netzwerken erfuhr und eine soziale Bewegung für die Rechte der Frauen bei sexuellen Übergriffen auslöste.

Mit den erwähnten neuen Möglichkeiten war die Plattform Facebook aber unkontrollierbar geworden. Missbrauch machte sich breit. Jessica King sagt zur Entwicklung von 20 Jahre Facebook, die Internetplattform habe sich vom lieblichen digitalen Dorf zur Gefahr für Demokratien gewandelt, Mark Zuckerberg vom kindlichen Jungunternehmer zum kaltblütigen Überkapitalisten, der sich vor dem amerikanischen Kongress erklären muss.

Bei Google werden die Daten jeder Suchanfrage aufgezeichnet. «Dazu gehören der Standort, Suchbegriffe, das Suchverhalten und Webseitenklicks», schrieb Debby Blaser im Magazin INSIST. «Auf vielen Webseiten werden die Nutzer ‚verfolgt‘, indem anhand der IP-Adresse aufgezeichnet wird, wer die Webseite besucht hat. Diese Daten machen es möglich, dass mir auf Facebook in einer Werbeanzeige genau der Turnschuh angezeigt wird, den ich mir vor kurzem auf Zalando angeschaut habe. Was praktisch ist für Werbetreibende, empfinden manche Nutzer jedoch als Eingriff in ihre Privatsphäre3

Die asozialen Medien werden zum Tummelfeld für Empörungen

Die sozialen Medien erlauben es den Nutzern, zu allen möglichen und unmöglichen Themen rasch eine Meinung zu bilden und diese dann mit andern zu teilen. Bei grosser Zustimmung wächst die Verbreitung dieser Meinung und kann Prozesse in Gang bringen, die kaum noch zu zügeln sind.

Die Journalistin Alexandra Föderl-Schmid, Nahost-Spezialistin der «Süddeutschen Zeitung», hat kürzlich mutmasslich versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr wurde vorgeworfen, in mindestens drei Fällen Erläuterungen öffentlicher Institutionen im Wortlaut übernommen zu haben, ohne dies entsprechend zu deklarieren. Sie habe damit ein Plagiat abgeliefert – eine Todsünde für Journalisten. Das deutsche Portal «Nius» engagierte darauf den «Plagiatsjäger» Stefan Weber, weitere Plagiate – etwa in der Dissertation der Journalistin – aufzudecken. Weber fertigt gegen Geld Gutachten zu akademischen Arbeiten an. «Webers Analysen bringen regelmässig prominente Personen in Schwierigkeiten», schreibt dazu die Journalistin Raphaela Birrer und fügt hinzu: «Häufig erfolgen allerdings seine Anschuldigungen zu Unrecht.» Für sie geht es bei solchen Debatten und Gutachten «längst nicht mehr um intellektuelle Redlichkeit oder universitäre Standards. Es geht um politische Motive, Rachefeldzüge, Rufmord.»

Die asozialen Medien eignen sich hervorragend, um diese Empörungen zu verbreiten. Obwohl eine Untersuchung zeigte, dass an den Vorwürfen bezüglich der Dissertation von Alexandra Föderl-Schmid wenig dran war, kam es zu Hasskommentaren mit Befürwortungen des Suizidversuchs und geschmacklosen persönlichen Angriffen. Die Meinungen waren schon gemacht und liessen sich durch nichts erschüttern. Raphaela Birrer meint zu den Undifferenziertheiten und zur Empörung im Fall Föderl-Schmid: «Sie liefern unfreiwillig Anschauungsunterricht für die degenerative Entwicklung digitaler Debatten. Und sie verdeutlichen, dass es im Moment schwierig bis unmöglich ist, Diskussionen … nüchtern zu führen. Nicht einmal dann, wenn ein Diskurs fast tödliche Folgen hat4

Künstliche Intelligenz und Hacking verstärken das Problem

Künstliche Intelligenz mag helfen, maschinelle Prozesse schneller zu machen. Wenn sie aber im Internet zum Zuge kommt, droht eine Verschärfung der genannten Probleme. Man füttert KI mit einem Gesicht und einer Stimme. Aus diesen Daten erstellt die KI dann eine Matrix, die als Vorlage für jede weitere Version dient. Im März letzten Jahres sei ein Video mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Umlauf gekommen, der seine Truppen aufgefordert habe, die Waffen niederzulegen und sich Russland zu ergeben, schreibt Andrian Kreye. Es sei aber sofort klar geworden, «dass jemand seinen Kopf auf einen Rumpf montiert hatte»5 .

In einem anderen Beispiel spricht der Fussballer Lionel Messi an einer Pressekonferenz verständliches Englisch, obwohl er grundsätzlich immer spanisch spricht. Die dahinter stehende Technologie nennt sich Voice-Cloning, die mit Übersetzer-KI vereint wurde. Ein eher harmloses Beispiel.

Wenn Fälschungen (Deepfake) aber dazu gebraucht werden, Nacktbilder des Popstars Taylor Swift in pornografischer Absicht zu generieren, ist das persönlichkeitsverletzend im höchsten Masse. Deepfake-Pornografie wird nicht selten auch zur Erpressung eingesetzt6 .

Womit wir in der untersten Schublade angekommen wären: der Möglichkeit, das Internet zu hacken und so an vertrauliche Daten zu gelangen – sei es um Firmen zu erpressen oder falsche Botschaften zu verbreiten. Diese Hackerangriffe nehmen exponenziell zu, auch in der Schweiz. 2022 gingen beim Nationalen Zentrum für Cybersicherheit des Bundes 34’000 Meldungen zu Cybervorfällen ein, dreimal so viele wie 2020. Laut dem Journalisten Michael Bucher wird für 2025 «eine weltweite Schadenssumme durch Cyberattacken von gegen 11 Billionen Franken prognostiziert. Das wären rund 40-mal höhere Kosten als Naturkatastrophen im Jahr 2022 verursacht haben7

Am kürzlichen Weltwirtschaftsforum in Davos wurden Fake News als grösste Gefahr für die Menschheit in den nächsten zwei Jahren bezeichnet. Falschinformationen im Internet könnten die Gesellschaft weiter spalten. «Mit Technologien wie ChatGPT oder neuen Versionen von Photoshop ist es leicht möglich, Texte zu erstellen oder etwa Bilder zu fälschen»8 . Auf diese Weise können «gezielt gestreute Fehlinformationen anstehende Wahlen in den USA beeinflussen.» Das könnte Zweifel an neu gewählten Regierungen wecken und politische Unruhen auslösen. Eine Gefahr für die Demokratie!

Was können wir tun?

Auf dem Weg von der Information zur Desinformation bleibt die Wahrheit auf der Strecke: wir folgen der Lüge. Der selbstgerechte Laie wird sich darüber nicht weiter aufhalten. Aufgrund der Informationen, die ihm dank seinem Profil zugespielt wurden, weiss er ja, was Sache ist. Damit verbunden ist die wachsende Skepsis gegenüber der Wissenschaft. 2016 stimmten gemäss einer US-Studie 44 Prozent einer breiten Öffentlichkeit der Aussage zu, «Experten sei weniger zu trauen als Laien». Wenn sich aber Laien zu Spezialisten aufschwingen, regiert die Ahnungslosigkeit. «Und was Wahrheit ist, bestimmen im Netz die Lautesten mit der grössten Followerschaft9

Dem Vater der Lüge zu folgen, kann für Christen aber keine Option sein. Was also soll getan werden? Glaubens- und Religionsführer aus Grossbritannien stellten nach einem kürzlichen Treffen über ethische Fragen rund um KI fest, Glaubensgemeinschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen müssten als «kritische Wächter fungieren, die sowohl KI-Entwickler als auch die politischen Entscheidungsträger zur Verantwortung ziehen». In einem nächsten Treffen wollen sie eine Kommission ins Leben rufen, «mit dem Ziel, die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz für das menschliche Wohlergehen zu nutzen und gleichzeitig Gemeinschaften vor potenziellem Schaden zu schützen»10 .

Dieser Schutz kann durch Institutionen gewährleistet werden, die demokratisch legitimiert sind. Der SVP-Nationalrat Andreas Glarner setzte gegen seine politische Gegnerin Sibel Arslan von den Grünen ein Fake-Video ein. Wenige Tage vor den letztjährigen Parlamentswahlen veröffentlichte Glarner ein täuschend echtes Video von Arslan auf X und Instagram, das mittels künstlicher Intelligenz erzeugt worden war. In diesem Fake-Video äusserte sie dann Meinungen, die dem Gegenteil ihrer tatsächlichen Überzeugungen entsprachen. Arslan ging vor Gericht. Gemäss einem kürzlichen Urteil des baselstädtischen Zivilgerichtes muss Glarner die Gerichts- und Arslans Anwaltskosten für diesen Fall übernehmen. Sie erwägt zur Zeit als nächsten Schritt eine Strafanzeige gegen Glarner. Diese könnte zum Präzedenzfall für einen neuen Straftatbestand werden, der erst seit dem 1. September 2023 in Kraft ist: für den Strafbestand des Identitätsmissbrauchs11 .

Nur Stunden nach der Terrorattacke der Hamas gegen Israel im vergangenen Oktober kursierten auf der Plattform X manipulierte Fotos und Videos anderer Kriege, es gab darunter sogar Sequenzen aus Videospielen und Aufnahmen von Silvesterfeuerwerk. Nutzer verbreiteten diese Bilder als Stimmungsmache gegen Israel oder gegen Palästinenser. «X, die weltweit grösste Quelle für Echtzeitnachrichten, wirkt in diesen Tagen wie ein Verteilzentrum für irreführende Nachrichten», schreibt dazu Jan Diesteldorf. Die EU will nun X-Eigentümer Elon Musk anklagen, der versprochen hatte, die EU-Regeln für digitale Dienste einzuhalten. Gemäss diesen müsste X «schnell, sorgfältig und effektiv auf Hinweise reagieren, illegale Inhalte löschen und ‚wirksam Risiken für die öffentliche Sicherheit und den gesellschaftlichen Diskurs bekämpfen, die von Desinformation ausgehen’»12 .

«Die klassischen Medien verlieren die Kontrolle über den Nachrichtenzyklus, und Algorithmen scheinen zum Teil falsche und sensationsheischende Nachrichten schneller zu verbreiten», führte Silke Adam, Professorin am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaften im vergangenen Herbst an einem Workshop der Uni Bern aus. Sie folgerte daraus: «Desinformation gefährdet unsere Demokratie und kann ein Auslöser sein, dass sich Menschen polarisieren13

Daraus lässt sich schliessen, dass wir die klassischen Medien nicht aus den Augen verlieren sollten, vor allem Medien wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder Radio und die parteiunabhängigen Printmedien. Diese sollten in der Lage sein, Fakten statt Fake zu präsentieren, damit wir uns unsere Meinung möglichst in der Kombination von mehreren Medien zuverlässiger bilden können.

Was oft vergessen geht: KI ist verbunden mit einer Verletzung des Urheberrechtes. Zur Zeit läuft ein Prozess der «New York Times» gegen den KI-Anbieter Chat-GPT. Dieser hatte teils wortgetreue Textkopien als KI-Texte ausgegeben. Gary Marcus, Professor für Neurowissenschaften an der New York University, hat selber mehrere Firmen für KI-Anwendungen aufgebaut. Heute gilt er als Stimme der Vernunft in der KI-Debatte. Er sieht keine raschen Lösungen: «Solange niemand eine neue Architektur erfindet, mit der die Herkunft von generativen Texten oder generativen Bildern zuverlässig verfolgt werden kann, wird es weiterhin zu Rechtsverletzungen kommen14

Immerhin gibt es erste Fortschritte. Wer bei Chat-GPT nach den Grundlagen für eine werteorientierte Dorfentwicklung fragte, erhielt eine Antwort, deren Inhalt mir sehr bekannt vorkam. Wer dieselbe Anfrage bei Copilot eingibt, bekommt ebenfalls Antworten aus den WDRS-Publikationen, diesmal aber mit einer sauberen Quellenangabe und mit Links zu den ursprünglichen Beiträgen, etwa in unserem Forum.

Es steht uns frei, unser Medienverhalten der neuen Lage anzupassen. Debby Blaser weist darauf hin, dass es für Suchmaschinen wie Google Alternativen gibt, die keine Daten aufzeichnen und keine Informationen an Drittpersonen verkaufen, etwa Swisscows oder DuckDuckGo15 .

Die Präsenz von Facebook ist heute am Abnehmen. Aber auch seine Nachfolger und Alternativen sind datentechnisch und im Blick auf den Missbrauch nicht viel besser. Mastodon soll zumindest vom Prinzip her ein deutlich anderes Sozial-Media-Konstrukt sein: Es gibt keinen zentralen Server und damit keinen Besitzer mit bestimmten wirtschaftlichen Interessen und keinen Empfehlungsalgorithmus für den Feed16. Die Messenger App Threema gilt als sicherere Variante von WhatsApp. Sie schützt die persönlichen Daten laut Eigenwerbung «vor dem Zugriff durch Hacker, Unternehmen und Regierungen».

Die digitale Welt orientiert sich heute an Macht- und finanziellen Interessen, auch wenn sie dabei die Wahrheit opfern muss. Das soll uns nicht daran hindern, die positiven Möglichkeiten des Internets zum Verbreiten guter, faktenbasierter Inhalte zu nutzen. Gleichzeitig können wir mithelfen, dass die negativen Tendenzen aufgedeckt und bekämpft werden.

Alles beginnt bei unseren Kindern

Zu guter Letzt: Vielleicht sollten wir auch etwas Abstand zu unseren digitalen Medien gewinnen. Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf plädiert für die Neuentdeckung von zwei alten Disziplinen: Lesen und Denken. Digitale Medien gefährden aus ihrer Sicht beides. Die aktuelle Pisa-Studie habe bei 15-Jährigen weltweit einen Trend zu schlechteren Lesefähigkeiten festgestellt.

Deshalb sagt Maryanne Wolf: «Von null bis fünf Jahren sollten Kinder medienmässig von (Bilder-)Büchern umgeben sein, Eltern und Umfeld sollen ihnen jeden Tag vorlesen, Kinder sollen ihre Bücher halten, damit spielen, ja darauf herumkauen! Lesen soll eine interaktive und sinnliche Erfahrung sein.» Bildschirme könne man dann zwischen eineinhalb und fünf Jahren sehr graduell einführen. Sie sollten aber nicht ein Babysitter-Ersatz sein, weder als Ablenkung noch als Belohnung oder Bestrafung. Sobald die Kinder selbst lesen lernen könnten, mache es Sinn, Print und Digital nebeneinander laufen zu lassen, auch zur Unterstützung des Lesens. Mit vielleicht sieben oder zehn Jahren könne dann die Schule die Kinder in die Welt des vertieften Lesens einführen. «Wenn wir nur noch skimmen und Mühe damit haben, Information und Desinformation auseinanderzuhalten, gefährden wir am Ende unser demokratisches Zusammenleben»17 , glaubt die Hirnspezialistin.

Kurz und gut: Vielleicht können wir ja selber wieder mal ein Buch zur Hand nehmen. Neben der Bibel kann es durchaus auch mal ein guter Roman sein – oder ein Sachbuch über Verschwörungstheorien.


1. Da ich mich bisher nicht zum Mitmachen in sozialen Medien verführen liess, folge ich in diesem Teil meist den Gedanken der Journalistin Jessica King in «Der Bund», 12.2.24
2. dt. Gartenzaun mit dem Symbol #
3. Magazin INSIST, April 2018
4. «Der Bund», 13.2.24
5. «Der Bund», 18.9.23
6. «Der Bund», 10.2.24
7. «Der Bund», 21.2.24
8. Anna Lutz im Pro-Medienmagazin vom 10.1.24
9. «Der Bund», 11.12.23
10. Livenet, 14.11.23
11. «Der Bund», 6.1.24
12. «Der Bund», 12.10.23
13. «Der Bund», 20.10.23
14. «Der Bund», 13.1.24
15. Magazin INSIST, April 2018
16. https://www.watson.ch/digital/review/279309107-twitter-alternative-17-gruende-warum-sich-mastodon-auch-fuer-dich-lohnt
17. «Der Bund», 21.12.23


Dieser Artikel erschien erstmals am 01. März 2024 auf Forum Integriertes Christsein.
Foto von dole777 auf Unsplash

~ 5 min

~ 5 minMacht der Glaube einen Unterschied? Ja, Christinnen und Christen, die eine Verbindung zwischen Theologie, Spiritualität und Gerechtigkeit sowie Nachhaltigkeit herstellen können, verhalten sich nachhaltiger.

~ 4 min

Der Arbeitgeberverband fordert, dass wir alle mehr arbeiten sollen, um dem Fachkräftemangel beizukommen. Kann das gut gehen? Und: Brauchen wir das wirklich?

Die «betriebsübliche Arbeitszeit» hat im letzten Jahrhundert stetig abgenommen. Während die Schweizerinnen und Schweizer vor hundert Jahren noch weit über 50 Stunden pro Woche arbeiten mussten, so erreichte die durchschnittliche Arbeitszeit im Jahr 1993 42 Stunden und pendelte sich seit 2003 auf 41,7 Stunden ein. Da könnte man meinen, etwas mehr davon könne ja nicht schaden.

Arbeiten wir wirklich weniger?

Die Trendwende zu mehr Arbeit hat schon länger stattgefunden: Auf Druck der Finanzdienstleister hat Bundesrat Schneider-Ammann auf Anfang 2016 verfügt, dass Arbeitnehmende, wenn sie ein Bruttojahreseinkommen inklusive Boni von mindestens 120’000 Franken haben und weitgehend selbst über ihre Zeiteinteilung entscheiden können (und falls die Firma einem Gesamtarbeitsvertrag untersteht), ihre Arbeitszeit «nicht mehr erfassen müssen». Das heisst in den meisten Fällen, nicht mehr erfassen dürfen – und damit arbeiten müssen «bis fertig». Doch fertig ist selten, denn solange keine Schranken da sind, kann man den Angestellten problemlos noch mehr Aufgaben zuweisen. Hunderttausende von Menschen in der Schweiz arbeiteten schon vorher länger als «betriebsüblich», nun sind noch mehr dazugekommen.

Immer dichter, immer schneller

Hinzu kommt die massiv gestiegene Arbeitsintensität: In den letzten Jahrzehnten fand eine starke Verdichtung der Arbeit statt. Leerzeiten existieren kaum mehr. Immer mehr Menschen arbeiten nur noch im «Notfallmodus». Das Dringliche hat überhandgenommen. Ältere Menschen haben mir schon mehrfach gestanden, dass sie froh sind, nicht mehr arbeitstätig zu sein. Früher hätten sie zwar mehr Stunden gearbeitet, aber dafür schön stetig und «eins nach dem anderen». Heute seien alle nur noch am «seckle».

Dieser Dauerstress kommt nicht von ungefähr: Um den Return on Investment (ROI) – die Kapitalrendite – für die Aktionäre zu optimieren, streichen börsenkotierte Unternehmen regelmässig Stellen. Sie wollen dann die Arbeit auf die verbleibenden Angestellten verteilen. Wenn früher ein ROI von 5 Prozent gut war, müssen es heute 30 Prozent sein. Wir haben uns daran und an die Folgen gewöhnt und finden das einfach normal. Doch dieser Druck «von oben» zwingt in der Konkurrenzsituation auch viele andere Unternehmen zur selben «Kostensenkung», wie etwa die Migros, die innert zwei Jahrzehnten die Anzahl der Angestellten pro Ladenfläche halbiert hat.

Steuersenkungen führen in eine Spirale

Vielleicht auch unter dem Eindruck, dass wir ja hart arbeiten und «der Staat» uns nicht «alles wegnehmen» soll, haben wir in den Kantonen regelmässig weiteren Steuersenkungen zugestimmt, mit der Folge, dass danach auch in den Schulen und Spitälern Stellen gestrichen wurden, sodass der Stress in diesen Bereichen unerträglich hoch geworden ist. Grössere Klassen machen die Arbeit der Lehrkräfte noch schwieriger. Heute wollen sich immer weniger gut gebildete junge Menschen diesen Job antun, in gewissen Fächern herrscht inzwischen Lehrermangel, was wiederum zu grösseren Klassen führt. Und in den Spitälern wird längst vom Pflegenotstand gesprochen. In keiner anderen Branche gibt es so viele Aussteiger: 46 Prozent verlassen laut dem Schweizer Berufsverband für Pflegefachpersonal (SBK) ihren Beruf wieder, ein Drittel vor dem 35. Altersjahr. Oft deshalb, weil sie ausgebrannt sind.

In die Erschöpfung getrieben

Die Folge all dessen ist eine steigende Anzahl Burnouts, die aber momentan nur die Rückversicherungen stört. Zwischen 2012 und 2020 sind die Arbeitsunfähigkeiten auf Grund von psychischen Gründen um 70 Prozent gestiegen. Der Job-Stress-Index zeigt bis 2020 eine stetige Steigerung der Anzahl Menschen, die im kritischen Bereich arbeiten. Rund 30 Prozent der Menschen sind heute emotional eher oder sehr erschöpft. Auch die ständigen Umstrukturierungen und Veränderungen tragen dazu bei.

Wenn der Arbeitgeberverband unter diesen Umständen nun fordert, dass wir noch mehr und flexibler arbeiten müssten, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, dann ist dies hochgradig menschenfeindlich. Damit würden noch mehr Menschen in die Erschöpfung getrieben, und die Schäden müssten nicht einmal die Unternehmen berappen, da der Bundesrat sich ziert, Burnout als Arbeitskrankheit zu anerkennen. Die Gesundheitskosten und IV-Prämien sind auch wegen den Verschleisserscheinungen dieser Menschen gestiegen.

Die Alternative: Mehr Zeit und Beziehungen statt noch mehr «Wohlstand»

Dem «Mangel an Fachkräften» kann nur begegnet werden, indem wir unsere Ansprüche an die weitere Steigerung des Wohlstands zurückschrauben. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir wirklich einen Geländewagen (SUV) brauchen oder ein noch grösseres Heimkino.

Wenn wir weniger Fachkräfte haben, wird unsere Wirtschaft und damit unser Wohlstand tatsächlich etwas weniger schnell wachsen. Ist das wirklich ein Problem? Wir müssen innehalten und uns grundsätzlich die Frage stellen, was wir wirklich brauchen: Noch mehr «Wohlstand» oder ein weniger frenetisches Leben, in dem wir auch Zeit haben, um für unsere Kinder da zu sein oder Raum für die Kontemplation finden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu begrüssen, dass auch Akademiker Teilzeit arbeiten dürfen und nicht «zur Strafe» die Studienkosten zurückzahlen müssen. Warum sollten deren Kinder ihre Eltern kaum mehr sehen dürfen? Sollen sie in Krippen abgeschoben werden, nur weil die Eltern studiert haben?

Erziehung und Beziehung – das ist die Basis unserer Gesellschaft. Diese Grundtätigkeiten dürfen wir nicht leichtfertig opfern.


Dieser Artikel erschien erstmals am 01. März 2024 auf Insist Consulting.
Foto von Verne Ho auf Unsplash

~ 3 min

Das ChristNet-Forum vom vergangenen Samstag, 9. März 2024, in Bern wagte sich unter dem Titel „Gesundheitswesen: Zwischen Errungenschaft und Entgleisung“ an ein besonders brisantes Thema. Drei Referate mit unterschiedlichen Zugängen zum Thema mündeten in Rückfragen und Diskussionen zwischen Referierenden und Teilnehmenden.

Dass das Gesundheitswesen aus dem Ruder läuft, ist ein ständiges Thema in der Öffentlichkeit. Dies zeigt sich laut Dr. med. Severin Lüscher, Grossrat und Hausarzt im Kanton Aargau, zum Beispiel an der Anzahl Vorstössen, die von den eidgenössischen Räten behandelt werden. Waren es im Jahr 2001 noch 100, liege diese Zahl mittlerweile bei 600 pro Jahr. Als eines von vielen Problemfeldern nannte der Präsident der Sozial- und Gesundheitskommission des Aargauer Grossen Rates „Anspruchshaltung, Konsumverhalten und Masslosigkeit“. Die Gesundheitspolitik setze Fehlanreize, „jeder betrügt jeden“. Die Versicherten resp. Patientinnen benähmen sich nach der Bezahlung der Franchise wie im Selbstbedienungsladen ohne Kasse am Ausgang. Die Leistungserbringer verrechneten möglichst viele Leistungen. Daran ändere auch die Fallpauschale nichts. Die Versicherungen liessen die Tarifverhandlungen ins Leere laufen und die Politik habe sich der „Kostendämpfung“ verschrieben und sorge gleichzeitig für die Zunahme von Overheadkosten und nicht-produktiven Tätigkeiten. „Wie steht es mit der Sinnhaftigkeit und der Selbstwirksamkeit bei den Behandelnden und Behandelten?“, fragte Lüscher am Ende seines Referats. Das Gesundheitswesen könne nichts daran ändern, dass das Leben endlich sei. „Sind Spiritualität, Religiosität und Glaube im Kontext mit Gesundheit und Krankheit Privatsache oder ein Grundbedürfnis oder beides?“

Dr. Thomas Wild, Geschäftsleiter der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie (AWS) am Institut für Praktische Theologie der Uni Bern, stellte ebenfalls die „hohen Erwartungen an das Gesundheitswesen“ an den Anfang seines Referats. Sie zeigten sich auch an der gesundheitspolitischen Strategie 2020-2030 des Bundesrats. Nicht berücksichtigt würden dabei ethische Dilemmas und der Betreuungsnotstand ausserhalb der Pflege, die Auflösung der privaten Netzwerke also. Krankheit werde in der Bibel sehr umfassend definiert. Dazu gehörten sowohl körperliche Schwäche als auch seelische Verletzung, Erschöpfung und soziale Ausgrenzung – Aspekte, die heute zwar vermehrt Beachtung fänden, aber aufgrund von finanzieller und personeller Ressourcenknappheit in Zukunft durch das Gesundheitswesen kaum mehr angemessen abgedeckt werden könnten. Der frühere Spitalseelsorger am Berner Inselspital hielt fest, dass gerade christliche Seelsorge ermöglichen müsse, Themen anzusprechen, die in Gesellschaft und Institutionen ausgeblendet, übergangen oder tabuisiert werden, und plädierte für ein starkes kirchliches Engagement in Gesundheitsfragen.

Für mehr Ganzheitlichkeit in der Medizin plädierte auch Dr. med. Ursula Klopfstein. Sie zeigte anhand verschiedener Studien die Wichtigkeit von regelmässiger Bewegung im Zusammenhang mit dem Mikrobiom – der Gesamtheit der Mikroorganismen, die sich im und auf dem Menschen tummeln – auf und wie sich dessen Gesundheit nicht nur auf den Stoffwechsel oder die Entzündungsprozesse, sondern auch auf die Psyche auswirkt. Deshalb spielten nicht nur Medikamente bei der Erhaltung der Gesundheit eine grosse Rolle, sondern auch gesundes Essen und Bewegung. Für die ehemalige Pflegefachfrau und heutige Ärztin und Dozentin Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule standen deshalb folgende Fragen im Raum: „Wie kommen wir von einem Krankheits- zu einem Gesundheitswesen?“ und „Wie schaffen wir es, die Gesellschaft von einem ganzheitlichen Ansatz zu überzeugen, ohne zu einer Gesundheitsdiktatur zu werden und ohne vulnerable Gruppen zu diskriminieren?“