Nächstenliebe

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Seit dem ChristNet-Forum im Januar 2025 ist Demokratie zum Fokusthema des Vereins geworden. An der Generalversammlung vom 8. März 2025 griff ChristNet dieses Thema im Workshop «Demokratie – wie können wir sie stärken?» nochmals auf.

Seit den US-Wahlen im November 2024 bewegt das Thema Demokratie den Verein ChristNet stark. Während beim ChristNet-Forum vom 18. Januar 2025 noch die Frage «Demokratie – gefährdet oder gefährlich?» im Raum stand, lag der Fokus an der Generalversammlung anfangs März 2025 beim individuellen Einsatz für die Stärkung der Demokratie in der Schweiz. Während eines kurzen Workshops setzten sich die Teilnehmenden mit fünf Fragen auseinander. Diese Fragen und die Antworten der Teilnehmenden möchten wir im Folgenden mit dir teilen.

Was können wir persönlich zur Stärkung der Demokratie beitragen?

Politische Rechte, wie z.B. die Möglichkeit zum Abstimmen, sollen aus Sicht der Teilnehmenden wahrgenommen nehmen. Um sich eine politische Meinung bilden zu können, braucht es nebst Informationen auch ein Grundverständnis von politischen Prozessen und Strukturen. Ist diese politische Bildung vorhanden, kann differenziert über bestimmte Themen nachgedacht und diktatorische Tendenzen innerhalb der Politik erkannt sowie aufgezeigt werden. Eine Person schlug das Kennenlernen von Politikern als Strategie vor, um Vertrauen in die Politik zu gewinnen. Das Gebet für Amtsträger betrachteten dieTeilnehmenden als sehr wichtig für die Stärkung der Demokratie. Jemand nannte zudem das Abschliessen eines Medienabonnements, um sachliche Berichterstattungen zu unterstützen. Politische Themen polarisieren stark, weshalb die Teilnehmenden es als wichtig erachteten, dass Christinnen und Christen die Rolle von Vermittlern einnehmen, anstatt die Polarisierung weiter zu verstärken.

Was macht mir Angst in Bezug auf die weltweite Schwächung der Demokratie?

Besonders besorgniserregend empfinden einige Teilnehmende die Passivität der Mehrheit der Bevölkerungvor allem der jüngeren Generation in Bezug auf die globale Schwächung der Demokratie. Sie beobachten, dass christliche Werte zusehends an den Rand gedrängt werden und die sozial Schwachen unter die Räder geraten bzw. eine Entwertung erleben. Zwei Teilnehmende sind der Meinung, dass die Schwächung der Demokratie auf globaler Ebene zu einer erhöhten Kriegsgefahr führt.

Was macht mir Mut in Bezug auf die Demokratie?

Für die Teilnehmenden gehörten gewaltloser Widerstand und die Stärke der christlichen Werte zu den Ermutigungen angesichts der weltweiten Schwächung der Demokratie. Als konkrete Beispiele nannten siepositive Entwicklungen in Ländern wie Südkorea, Senegal und Serbien, sowie die Sojourners, die in den USA mutig ihre Stimme gegen Donald Trumps Anhänger erheben.

Was möchte ich an der direkten Demokratie in der Schweiz nicht missen?

Die direkte Demokratie der Schweiz hat aus Sicht der Teilnehmenden sehr viele Vorteile. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung haben das Stimmrecht, Politiker sind Teil des Volkes und in der Kommunalpolitik kann viel bewegt werden. Die Teilnehmenden schätzen die Möglichkeit zur Meinungsbildung, die Offenlegung der Abstimmungsfinanzierung, die Vielfalt der Abstimmungsthemen sowie das Referendumsrecht und Petitionen sehr. Sie betrachten die direkte Demokratie in der Schweiz als klar antidiktatorisch.

Wie setze ich meine politische Stimme am liebsten ein?

Für die Teilnehmenden ist die Mitgliedschaft bei ChristNet eine wertvolle Möglichkeit, ihre politische Stimme aktiv für Nächstenliebe in Politik und Gesellschaft einzusetzen. Während ein Mitglied gerne Leserbriefe schreibt, publiziert ein anderes Mitglied Beiträge im Forum integriertes Christsein. Die Beteiligung an Gemeindeabstimmungen- und Gemeindeversammlungen sowie nationalen Abstimmungen und Wahlen erwähnten die Teilnehmenden ebenfalls als wichtiges Mittel, die politischen Stimmeeinzusetzen. Wer sich konkret in die Politik einbringen möchte, könnte zum Beispiel einer Partei beitreten, für den Gemeinderat kandidieren oder Unterschriften sammeln. Hierbei empfinden die Teilnehmenden die Bereitschaft zur Diskussion und das Aufarbeiten von Themen wie Nächstenliebe und sozialer Gerechtigkeit als wichtig. Als Christinnen und Christen dürfen wir uns auch auf den Heiligen Geist verlassen, der uns die richtigen Worte schenkt und den Willen Gottes offenbart.

Einsatz für christliche Werte

Der Workshop zeigte auf, dass Christinnen und Christen im Angesicht einer weltweiten Schwächung der Demokratie eine zentrale Rolle in der Bewahrung christlicher Werte einnehmen dürfen. Lasst uns mutig unsere politische Stimme für christliche Werte in der Schweizer Politik und Gesellschaft einsetzen!

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Wenn wir uns in den nächsten vier Jahren nützlich machen wollen, müssen wir der Versuchung widerstehen, in Angst, Isolation, Erschöpfung und ständiger Orientierungslosigkeit zu verharren. Als ich den Aufstieg des Rechtspopulismus weltweit wahrnahm, begann ich, Szenarien zu planen und darüber zu schreiben, was passieren könnte, wenn Donald Trump gewinnt.

Ich spielte Strategien durch, wie die Menschen sinnvoll reagieren könnten. Doch als Trump gewann, war ich immer noch tief schockiert und traurig. In den Tagen danach wandte ich mich an meine Gemeinschaft, um zu versuchen, die Lage einzuschätzen und wieder Boden unter die Füsse zu bekommen.

Es ist schwierig, den Boden unter den Füssen zu behalten, wenn die Zukunft unbekannt und voller Ängste ist. Trump hat angedeutet, was für ein Präsident er sein wird: rachsüchtig, unkontrolliert und unbelastet von den Normen der Vergangenheit und den geltenden Gesetzen. Wenn du wie ich sind, sind du bereits müde. Die Aussicht auf noch mehr Drama ist entmutigend.

Als Trainer für Gewaltfreiheit, die mit sozialen Bewegungen auf der ganzen Welt zusammenarbeitet, habe ich das Glück, mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, die unter autokratischen Regimen leben, um widerstandsfähige Aktivistengruppen aufzubauen. Meine Kollegen erinnern mich immer wieder daran, dass gute Psychologie guten sozialen Wandel bedeutet. Wenn wir in einer Welt unter Trump von Nutzen sein wollen, müssen wir auf unsere innere Verfassung achten, damit wir die Ziele der Autokraten – Angst, Isolation, Erschöpfung und ständige Orientierungslosigkeit – nicht unterstützen.

In diesem Sinne biete ich einige Möglichkeiten an, um uns für die kommenden Zeiten zu erden.

1. Vertraue dir selbst

Trump kommt in einer Zeit des grossen gesellschaftlichen Misstrauens: Das Misstrauen gegenüber den Medien, medizinischen Fachleuten, Experten, Politikern, Gemeinschaftseinrichtungen und Mitgliedergruppen ist gewachsen. Es gibt Risse im Freundes- und Familienkreis. Sogar unser Vertrauen in vorhersehbares Wetter ist geschwunden. Misstrauen schürt die Flamme der Autokratie, denn es macht es leichter, Menschen zu spalten.

Der Aufbau von Vertrauen beginnt damit, dass man seinen eigenen Augen und seinem Bauchgefühl traut. Das bedeutet, vertrauenswürdig zu sein – nicht nur mit Informationen, sondern auch mit Gefühlen. Wenn du müde bist, ruhe dich aus. Wenn du Angst hast, schliesse Frieden mit deinen Ängsten. Wenn du aufhören willst, zwanghaft auf dein Handy zu schauen, tu’ es. Wenn du diesen Artikel jetzt nicht lesen willst und lieber einen schönen Spaziergang machen möchtest, tu’ es. Beginne damit, deiner inneren Stimme zu vertrauen. Vertrauen in sich selbst ist die Grundlage für ein gesundes Bewegungsleben. Auf FindingSteadyGround.com habe ich einige Ressourcen zusammengestellt, die du vielleicht hilfreich findest.

2. Finde andere, denen du vertraust

In einer destabilisierten Gesellschaft brauchst du Menschen, die dir Halt geben. Hannah Arendt, Autorin von «The Origins of Totalitarianism», verwendet das Wort Verlassenheit – oft mit Einsamkeit übersetzt – um eine Art soziale Isolation des Geistes zu beschreiben. Die ständigen Angriffe auf die sozialen Systeme führen dazu, dass wir uns nicht mehr aneinander anlehnen, sondern ideologisch einfache Antworten suchen, die die Isolation verstärken.

Im Chile der 1970er und 80er Jahre war die Diktatur bestrebt, die Menschen in so winzigen Knotenpunkten des Vertrauens zu halten, dass jeder eine Insel für sich war. Auf Partys stellten sich die Leute in der Regel nicht mit Namen vor, aus Angst, zu sehr involviert zu werden. Furcht erzeugt Distanz. Wir müssen diese Distanz bewusst überwinden.

Finde Menschen, mit denen du regelmässig in Kontakt treten kannst. Nutze dieses Vertrauen, um dein eigenes Denken zu erforschen und euch gegenseitig zu unterstützen, damit du auf dem Boden der Tatsachen bleibst. In den letzten Monaten habe ich regelmässig eine Gruppe bei mir zu Hause eingeladen, um zu erkunden, was in diesen Zeiten los ist. Unsere Gruppe denkt unterschiedlich, investiert aber in das Vertrauen. Wir bewegen uns, weinen, singen, lachen, sitzen in der Stille und denken zusammen. Wir alle werden von aktiv organisierten Knotenpunkten profitieren, die uns helfen, uns zu stabilisieren.

3. Gib der Trauer Raum

Menschlich ist, um einen Verlust zu trauern. Wir Menschen sind auch gut darin, uns abzuschotten, zu rationalisieren, zu intellektualisieren und zu ignorieren – der Schaden, den dies unserem Körper und unserer Psyche zufügt, ist gut dokumentiert. Aber die Unfähigkeit zu trauern ist ein strategischer Fehler. Nach dem Sieg von Trump im Jahr 2016 haben wir Kollegen gesehen, die nie getrauert haben. Sie standen weiterhin unter Schock. Jahrelang sagten sie immer wieder: «Ich kann nicht glauben, dass er das tut.»

Als Trump das erste Mal gewann, blieb ich mit einer Kollegin bis 4 Uhr morgens auf, um in einer tränenreichen Nacht die Dinge zu benennen, die wir verloren hatten. Das half uns, die Traurigkeit, die Wut, die Betäubung, den Schock, die Verwirrung und die Angst in uns zu finden. Wir trauerten. Wir weinten. Wir hielten uns gegenseitig. Wir haben geatmet. Wir tauchten wieder ein, um zu benennen, was wir verloren hatten und was wir wahrscheinlich noch verlieren würden. Es ging nicht darum, Strategien zu entwickeln oder zu planen. Letztendlich half uns das, daran zu glauben – so dass wir nicht jahrelang wie benommen sagten: «Ich kann nicht glauben, dass das in diesem Land passiert.» Glauben Du es. Glauben Du es jetzt. Trauer ist ein Weg zur Akzeptanz.

4. Lass das los, was du nicht ändern kannst

An der Wand ihres Schlafzimmers hatte meine Mutter eine Kopie des Gelassenheitsgebets: «Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.» Der Theologe Reinhold Niebuhr schrieb es während des Aufstiegs von Nazi-Deutschland.

Trump hat verkündet, dass sein erster Tag alles beinhalten wird, von der Begnadigung der Aufständischen vom 6. Januar über die Umwidmung von Geldern für den Bau der Mauer bis hin zum Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und der Entlassung von mehr als 50’000 Regierungsangestellten, um sie durch loyale Mitarbeiter zu ersetzen. Es ist zweifelhaft, dass der zweite Tag viel ruhiger sein wird. Inmitten dieses Chaos’ wird es schwer zu akzeptieren sein, dass wir nicht alles schaffen können.

Ein Kollege in der Türkei sagte mir, dass jeden Tag etwas Schlimmes passiert, und wenn er auf alles reagieren würde, hätte er keine Zeit mehr zum Essen. Ein anderes Mal sah eine ältere Person, wie ich versuchte, alles auf einmal zu tun, und nahm mich zur Seite. «Das ist keine gesunde Strategie für das ganze Leben», sagte sie. Sie war in Deutschland von Holocaust-Überlebenden aufgezogen worden, die ihr sagten: «Nie wieder.» Sie hatte das Gefühl, jedes Unrecht verhindern zu müssen. Das quälte sie und trug zu mehreren längeren Krankheiten bei.

Ich habe eine Übung fürs Tagebuchschreiben entwickelt. Darin werde ich gefragt, für welche Themen ich mich in den kommenden Jahren «voll und ganz einsetzen, viel tun, wenig tun oder – obwohl sie mir am Herzen liegen – gar nichts tun würde». Die letzte Frage kann sich für viele von uns wie eine Folter anfühlen, aber der Wunsch, alles zu tun, führt zu einer schlechten Strategie.

5. Finde deinen Weg

Letzten Frühling habe ich das Buch «What Will You Do if Trump Wins» geschrieben, ein Buch im Stil eines Selbstfindungsabenteuers. Es werden sich verschiedene Wege des Widerstands abzeichnen, und es wird viele Möglichkeiten geben, sich der Sache anzuschliessen. Vielleicht fühlst du dich von einigen Wegen mehr angezogen als von anderen. Vielleicht ist dein Weg im Moment noch nicht klar. Das ist in Ordnung. Im Folgenden sind nur einige Beispiele aufgeführt. Weitere findest du unter WhatIfTrumpWins.org.

Schutz anbieten. Menschen bieten anderen Schutz an, vor allem solchen, die bedroht sind. Das könnte bedeuten, dass wir uns ausserhalb der bestehenden Systeme für die Gesundheitsversorgung engagieren und uns gegenseitige Hilfe organisieren oder Ressourcen Gemeinschaften zukommen lassen, die ins Visier geraten sind.

Zivilgesellschaftliche Institutionen verteidigen. Diese Gruppe mag sich bewusst sein oder auch nicht, dass die derzeitigen Institutionen nicht allen von uns dienen, aber sie sind sich einig, dass Trump sie zerstören will, damit er mehr Kontrolle über unser Leben ausüben kann. Die leitenden Personen in diesen Institutionen wissen, dass eine Präsidentschaft von Trump für diese eine grosse Bedrohung darstellt. Diese Insider brauchen Unterstützung von aussen, z. B. Mitgefühl dafür, dass einige unserer besten Verbündeten drinnen sind und stillen Widerstand leisten. Feiere Menschen, die gefeuert werden, weil sie das Richtige tun, und biete ihnen dann praktische Hilfe für die nächsten Schritte im Leben an.

Unterbrechen und nicht gehorchen. Um während des Zweiten Weltkriegs eine Kultur des Widerstands zu schaffen, trugen die Menschen in Norwegen harmlose Büroklammern als Zeichen dafür, dass sie nicht gehorchen würden. In Serbien begannen die Proteste gegen den Diktator mit Studentenstreiks, bevor sie zu Streiks von Rentnern und schliesslich zu dem bahnbrechenden Streik der Bergarbeiter eskalierten. Letztlich geht es darum, den Weg für eine massenhafte Verweigerung der Zusammenarbeit zu ebnen: Steuerverweigerung, landesweite Streiks, Arbeitsniederlegungen und andere gewaltfreie Taktiken des massenhaften Ungehorsams sind die wirksamsten Strategien, um autoritäre Kräfte zu verdrängen.

Alternativen aufbauen. Wir können nicht nur reagieren. Wir brauchen eine Vision, um Alternativen aufzubauen, die demokratischer, liebevoller und freundlicher sind. Dies könnte Erdungs- und Heilungsarbeit, reichhaltige Kulturarbeit, andere Formen des Nahrungsmittelanbaus und der Kinderbetreuung, partizipative Haushaltsführung oder die Einberufung von Versammlungen umfassen, um eine mehrheitsfähige Alternative zu dem Schlamassel unseres aktuellen Wahlsystems mit den Wahlmännern aufzubauen.

6. Gehorche nicht im Vornherein; zensiere dich nicht selbst

Wenn uns die Autokraten eine wertvolle Lektion erteilen, dann ist es diese: Politischen Raum, den man nicht nutzt, verliert man. Dies gilt für alle Ebenen der Gesellschaft – für Anwälte, die gemeinnützige Organisationen beraten, für Führungskräfte, die um ihre Finanzierungsbasis besorgt sind, und für Leute, die Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Damit rate ich dir nicht, dich keinesfalls selbst zu schützen. Du kannst selbst entscheiden, wann du deine Meinung äusserst. Aber wir müssen die Gefahr bekämpfen, zu früh aufzugeben. In Timothy Snyders hilfreichem Buch und seiner Videoreihe «On Tyranny» nennt er das Abtreten von Macht als erstes Problem: «Der grösste Teil der Macht des Autoritarismus wird freiwillig abgegeben. … Der Einzelne denkt im Voraus darüber nach, was eine repressivere Regierung wollen wird, und bietet sich dann ungefragt an. Ein Bürger, der sich auf diese Weise anpasst, zeigt der Macht, welche Grenzen sie überschreiten kann.»

Einfach ausgedrückt: Nutze den politischen Raum und die Stimme, die du hast.

7. Richte deine politische Landkarte neu aus

Vor ein paar Monaten sass ich in einem Raum mit pensionierten Generälen, Republikanern wie Michael Steele, ehemaligen Gouverneuren und Kongressabgeordneten. Wir planten Szenarien, wie wir Trumps Missbrauch des Insurrection Act zur Bekämpfung ziviler Demonstranten verhindern könnten. Für einen engagierten Antikriegsaktivisten beschreibt der Ausdruck «seltsame Bettgenossen» nicht annähernd die bizarre Erfahrung, die ich machte.

Eine Trump-Präsidentschaft verändert Ausrichtungen und Möglichkeiten. Es kommt darauf an, wie wir uns positionieren: Sind wir nur daran interessiert, ideologische Reinheit zu bewahren und zu unserem eigenen Chor zu predigen? Selbst wenn Du sich nicht engagieren wollen, müssen wir alle denjenigen Raum geben, die mit einer neuen Sprache experimentieren, um andere anzusprechen, die unsere Weltanschauung nicht teilen.

Einfühlungsvermögen wird hilfreich sein: Am Ende dieses Planungstages sah ich viel Schmerz bei Menschen mit grosser Macht, die eine Art Niederlage eingestehen mussten. Die Generäle sagten: «Das Militär kann Trump nicht davon abhalten, diese Befehle zu erteilen.» Die Politiker sagten: «Der Kongress kann es nicht verhindern.» Die Anwälte sagten: «Wir können es nicht verhindern.» Ich empfand Mitgefühl, das mich überraschte. Nur die linken Aktivisten sagten: «Wir haben einen Ansatz der massenhaften Nichtkooperation, der dies stoppen kann. Aber wir brauchen Ihre Hilfe.» Ich bin mir nicht sicher, ob diese projizierte Zuversicht gut ankam. Aber wenn wir diesen Ansatz umsetzen wollen (und ich bin mir keineswegs sicher, dass wir das können), müssen wir pragmatisch mit der Macht umgehen.

8. Schätze seine Macht realistisch ein

Die psychologische Erschöpfung und Verzweiflung sind gross. Wir werden Trump nicht davon überzeugen, keine Normen und Gesetze zu brechen, die ihm im Weg stehen. Märsche und symbolische Proteste werden ihn nicht umstimmen. Wir müssen erkennen, dass seine Macht instabil ist, wie ein auf dem Kopf stehendes Dreieck. Ohne Unterstützung kippt sie um. Die Macht stützt sich auf Säulen, die sie aufrecht halten. Der Stratege der Gewaltlosigkeit «Gene Sharp» beschrieb diese Säulen wie folgt:

„Allein können Herrscher keine Steuern eintreiben, repressive Gesetze und Vorschriften durchsetzen, Züge pünktlich fahren lassen, Staatshaushalte aufstellen, den Verkehr leiten, Häfen verwalten, Geld drucken, Strassen reparieren, die Märkte mit Lebensmitteln versorgen, Stahl herstellen, Raketen bauen, die Polizei und die Armee ausbilden, Briefmarken herausgeben oder auch nur eine Kuh melken. … Wenn die Menschen diese Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung stellen würden, könnte der Herrscher nicht mehr regieren.»

Die Beseitigung eines Stützpfeilers kann zu grossen, lebensrettenden Zugeständnissen führen. Die Beseitigung vieler Säulen wird zu einem systemweiten Wandel führen. Der katholische Aktivist Dick Taylor beschrieb, wie er und eine kleine Gruppe die Aussenpolitik der USA veränderten, indem sie Waffenlieferungen zur Unterstützung des pakistanischen Diktators Yahya Khan blockierten. Sie schickten wiederholt Kanus aus, um Militärlieferungen zu blockieren, die die Häfen der Ostküste verliessen, bis die «International Longshoremen’s Association» überzeugt werden konnte, sich zu weigern, sie zu verladen. Dies brach der nationalen Politik das Genick.

9. Blicke der Angst ins Gesicht

OTPOR, eine serbische Studentenorganisation, reagierte sarkastisch auf die regelmässigen Schläge der Polizei und scherzte: «Es tut nur weh, wenn man Angst hat.» Ihre Haltung war nicht leichtsinnig – sie war taktisch. Sie weigerten sich, Angst zu entwickeln. Als an einem einzigen Tag Hunderte von Menschen verprügelt wurden, war ihre Reaktion: Diese Unterdrückung wird den Widerstand nur noch verstärken. Beim Umgang mit der Angst geht es nicht darum, sie zu unterdrücken – es geht darum, sie neu zu lenken.

Der Aktivist und Intellektuelle Hardy Merriman veröffentlichte eine Studie über politische Gewalt, die mich überraschte: Physische politische Gewalt ist in den USA nach wie vor relativ selten, Gewaltandrohungen nehmen jedoch zu. CNN berichtete: «Politisch motivierte Drohungen gegen Amtsträger haben während Trumps Präsidentschaft um 178 Prozent zugenommen», vor allem von der Rechten. Er stellte fest, dass die Einschüchterung eine Schlüsselkomponente politischer Gewalt ist. Wir können uns in eine Kakophonie des «Das ist nicht fair» zurückziehen, was die Angst vor Unterdrückung schürt. Oder wir können uns ein Beispiel an dem grossen Bewegungsstrategen Bayard Rustin nehmen: Während des Busboykotts in den 1950er Jahren wurden schwarze Bürgerrechtsführer von der Regierung in Montgomery, Alabama, ins Visier genommen. Einige von ihnen wie Martin Luther King Jr. tauchten damals unter, um sich vor einer Verhaftung zu schützen. Andere taten auf Initiative von Rustin das Gegenteil: Sie gingen zum Polizeiposten und verlangten, verhaftet zu werden, da sie Anführer der Bürgerrechtsbewegung seien. Die Betroffenen hielten ihre Verhaftungspapiere inmitten einer jubelnden Menge hoch in die Luft und machten die Unterdrückung auf positive Art offensichtlich. Aus Angst wurde Tapferkeit.

10. Stelle dir eine positive Zukunft vor

Wir alle haben uns ausgemalt, wie schlimm es werden könnte. Wir würden uns selbst einen Gefallen tun, wenn wir uns eine positive Zukunft vorstellen würden. Wie die Schriftstellerin Walidah Imarisha sagt: «Das Ziel der visionären Fiktion ist es, die Welt zu verändern». Wir könnten eine gerechte Empörung hervorrufen, die zu einer massenhaften Nichtkooperation führt, die unsere Erwartungen weit übersteigt. Glaubensgemeinschaften könnten eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, moralisch aufgeladene Streiks, Steuerverweigerung und die Weigerung, ungerechte Befehle zu befolgen, anzuführen. Aufgedeckte politische Schwächen könnten viele innerhalb von Trumps Organisation schnell gegen ihn aufbringen. Das scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Aber die Möglichkeiten bleiben.

Wenn ich mich darin übe, in die Zukunft zu denken, habe ich Hoffnung und ein gewisses strategisches Gespür. An den Tagen, an denen ich mir keine guten politischen Möglichkeiten vorstellen kann, zoome ich auf die Lebensspanne von Bäumen und Felsen, um mich daran zu erinnern, dass nichts ewig währt. Die ganze Zukunft ist ungewiss. Aber eine hoffnungsvollere Zukunft ist wahrscheinlicher, wenn wir weiterhin an kreative Lösungen arbeiten.

Dieser Artikel wurde mit Genehmigung von wagingnonviolence.org in der verkürzten Form auf der Website der Sojourners übernommen, auf Deutsch übersetzt und leicht bearbeitet.

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Unsere Migrationspolitik ist unverhältnismässig restriktiv. Es wäre Zeit für eine Allianz des Anstands.

Der Wahlsieg Donald Trumps folgt einem Muster, das in immer mehr westlichen Demokratien Erfolge feiert: der gezielten Bewirtschaftung von Ängsten. Zum einen ist da die Angst vor dem Wohlstandsverlust, die viele Menschen umtreibt, und zum anderen das Übermass an gesellschaftlichen und weltweiten Krisen, die überfordern. Diese Ängste werden heute nicht verantwortungsbewusst begleitet, sondern verstärkt und instrumentalisiert.

In biblischen Zeiten gab es mit dem Sündenbock ein Ritual, um Ängste zu beruhigen. Ein Ziegenbock wurde in die Wüste geschickt, um symbolisch alles Böse, die Schuld und die Angst vor dem Zorn der Gottheit wegzutragen und so das Volk zu befreien. Stellvertretend übernehmen heute Flüchtlinge diese Rolle. Sie eignen sich ideal als Projektionsfläche für eigene Ängste und Wut. Der inzwischen verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman äusserte sich dazu wie folgt: «Asylbewerber nehmen heute die Rolle ein, die ehemals den Hexen, Kobolden und Gespenstern der Sagen zukam.»

Trump schürt Ängste gegenüber Migranten, bezeichnet sie als Ungeziefer oder Müll und macht sie für fast jedes Unheil verantwortlich. Auch die SVP als wählerstärkste Partei der Schweiz und mit ihr neuerdings die FDP folgen dieser miserablen Strategie: Mit Flüchtlingen als Sündenböcken gewinnen Parteien Wählerstimmen und erringen damit politische Macht. Der moralische Preis dafür ist jedoch hoch, denn ein solch polemischer Diskurs vergiftet eine Gesellschaft.

Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit.

Als Konsequenz dieser Sündenbock-Strategie haben wir eine mittlerweile sehr restriktive Migrationspolitik. Wer die Zahlen der Asylmigration sorgfältig analysiert – und sie nicht mit der Arbeitsmigration vermischt –, stellt fest, dass relativ wenige Flüchtlinge die Schweiz erreichen. Deshalb ist die Rede von einer angeblichen «Überflutung» reines Geschwätz, ganz nach dem Motto: «Lerne, zu klagen, ohne zu leiden.»

Eine weitere Konsequenz davon ist, dass in der Schweiz abgewiesene Asylsuchende über Monate und Jahre hinweg in Rückkehrzentren untergebracht werden, in denen ganze Familien in einzelnen Zimmern leben. Häufig handelt es sich um Personen, die aus autokratisch regierten Ländern kommen und nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Eine Studie des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind hat gezeigt, dass die in Rückkehrzentren befindlichen Kinder und Jugendlichen – rund 700 an der Zahl – in einem schlechten psychischen Zustand sind. Sie sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt. Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit. Rückkehrzentren dürfen keine Menschendeponien werden.

Es braucht in der politischen Schweiz eine Allianz des Anstands, die sich von machiavellistischem Streben verabschiedet und anerkennt, dass Geflüchtete zunächst einmal Menschen sind, die unsere Zuwendung verdienen. Es ist eine Binsenwahrheit, dass es in jeder Bevölkerungsgruppe anständige und unanständige Menschen gibt, und die Proportionen sind überall ähnlich. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass nicht alle Migranten hier in der Schweiz bleiben können. Es sei denn, es handelt sich um Oligarchen oder Milliardäre. Ihnen stehen bei uns alle Türen offen.

Dieser Artikel erschien im Dezember 2024 als Gastkommentar im «Tagesanzeiger», im «Bund» und im «Berner Landboten».

Foto von ‪Salah Darwish auf Unsplash

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Am 18. Januar 2025 findet das nächste ChristNet-Forum unter dem Thema «Demokratie – gefährdet oder gefährlich» statt. ChristNet-Präsident Markus Meury erklärt, was es mit dem Thema auf sich hat.

Mit dem 2. Weltkrieg wurde endgültig klar, welche Katastrophen der Nationalismus und Diktaturen anrichten können. Danach wurden in vielen Staaten die demokratischen Strukturen ausgebaut. Mit dem «Fall der Mauer» schien es, dass die Demokratie gesiegt hätte und dass sie und die Menschenrechte sich dank der Zunahme der Bildung und des Wohlstandes automatisch ausbreiten würde. Bis zum Jahr 2015 war dies tatsächlich der Fall, seither hat aber eine Trendwende eingesetzt. Der Demokratieindex 1 zeigt seither nach unten, und zwar in allen Regionen der Welt.

Zunehmend Machterhaltung – auch wegen der Polarisierung im Internet

In Ungarn, Polen, Israel oder El Salvador versuchen Regierungen vermehrt, ihre Macht zu zementieren, indem sie Kritik übertönen oder unterdrücken und die Kontrolle durch Gerichte abschaffen. Mexiko und Indien versuchen, demokratische Wahlen «besser zu kontrollieren». In Südkorea wurde eben ein «Putsch von oben» versucht. Auch der Sturm aufs Capitol in den USA von 2021 kann in dieser Kategorie genannt werden. Wird die Demokratie nur noch toleriert, solange das Resultat den Mächtigen dient?

Ein wichtiger Faktor hierin ist sicher die zunehmende Polarisierung der Meinungen, die durch die allgemeine Verunsicherung und die ungebremste Hetze und Verleumdung gegen die politischen Gegner in den sozialen Netzwerken (auch bewusst) gefördert wird. Durch die Algorithmen im Internet, die unsere Interessen und Meinungen spiegeln, finden wir uns in Meinungs-Bubbles wieder und werden zunehmend einseitig informiert. Wenn der politische Gegner nur noch Feind ist, wird dessen Unterdrückung zur Priorität, da sonst «das Böse überhandnimmt». Machterhaltung ist die Devise, Konsens und damit die Suche nach dem Guten für alle ist nicht mehr Ziel. Im Kampf der Guten – wir – gegen die Bösen – die anderen –, wird die Aufhebung von demokratischen Regeln gerechtfertigt.

Der Soziologe Anthony Giddens hat bereits in 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der autoritären Regierungen werde, da mehr Menschen wegen den schnellen technischen und kulturellen Veränderungen2 wieder nach Sicherheit versprechenden Führern rufen. Nur so ist es zu erklären, dass in den USA mit Donald Trump von einer Mehrheit des Volkes wiedergewählt wurde. Dies mit Elon Musk als rechte Hand, der vor einem von ihm angestrebten Sturz des bolivianischen Präsidenten meinte: «We coup against whoever we want».

«… in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.»

Erosion der Wahrheit

Das Internet mit seinem grossen Angebot an Rechtfertigungsideologien hilft uns, das zu glauben, was wir glauben wollen. Wir passen die Realität an unsere Weltsicht an. Hier ist die Frage der Wahrheit zentral: Kümmern wir uns nicht mehr um die Suche nach Wahrheit? Oder nehmen wir einfach an, was wir glauben, ist die Wahrheit. Wenn wir Facts statt Unterstellungen den Vorzug geben, entstehen weniger Feindbilder. Aber in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.

Menschenrechte, Demokratie und Nächstenliebe bedingen sich gegenseitig

In diesem Zusammenhang geraten weltweit auch die Menschenrechte unter Druck. Menschenrechte sind die Grundpfeiler der Menschenwürde: gleicher Wert jedes Menschen vor Gott heisst auch, jedem Menschen gleiche Rechte und Lebenschancen zuzugestehen. Das ist die Grundlage der Nächstenliebe. Diese bedingt die Menschenrechte und ist nur durch eine vollständige Demokratie gewährleistet. Denn nur dort, wo die Stimme der Benachteiligte hörbar ist und ihr politischer Einfluss gleichwertig ist, wo vertrauenswürdige Informationen im Vordergrund stehen und wo Mächtige abgewählt werden können, kann das Gute für alle gedeihen. Denn: wo die Mächtigen Rechenschaft abgeben müssen, wird das Wohl für alle respektiert. Umgekehrt hat die Konzentration und Zementierung von Macht in der Geschichte meist Unheil gebracht. Unterdrückung, Kriege, Tod und Zerstörung sind die Folge.

Und in der Schweiz?

Die Schweiz hat unter den Demokratien eine besondere Stellung und wird wegen seiner direktdemokratischen Instrumente als die Demokratie schlechthin angesehen. Doch auch bei uns gibt es demokratische Grundregeln, die noch mangelhaft sind. Demokratie heisst nicht einfach, «man kann ja wählen und abstimmen, wenn man will». Im Folgenden einige wichtige Voraussetzungen, die in der Schweiz unseres Erachtens im Vergleich zum Ausland Verbesserungen benötigen:

  • Zuverlässige und korrekte Information in klassischen und sozialen Medien
  • Gleich lange Spiesse im politischen Konkurrenzkampf durch Offenlegung der Politikfinanzierung
  • Unterbindung von undurchsichtigen Lobbying-Aktivitäten im Parlament
  • Die Einführung eines Verfassungsgerichts, das die Übereinstimmung von neuen Gesetzen mit der Verfassung überwacht

Zudem sind Einschränkungen von demokratischen Prozessen auch hierzulande wahrnehmbar:

  • Bei der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative waren die Wirtschaftsverbände erstaunt, dass die Zivilgesellschaft plötzlich gewichtigen Einfluss auf die Meinungsbildung hatte. Dieser Entwicklung begegneten sie mit einem Verbot der politischen Arbeit von subventionierten NGO und von Schulbesuchen durch Entwicklungshilfeorganisationen.
  • Das Parlament beschloss – trotz hängiger gegnerischer Volksinitiative – die sofortige Bestellung der FA-35-Kampfflugzeuge und begründete dies mit der zunehmenden Bedrohung durch Russland. Nun werden wir ein überteuertes und lärmiges Angriffsflugzeug haben. Dies ohne Koordination mit den umliegenden und ebenfalls bedrohten Ländern.
  • Gerade im Zuge der Nichtumsetzung der Initiative «Kinder ohne Tabak» wird einmal mehr klar, dass das Parlament sich zu weigern kann, Volksinitiativen korrekt umzusetzen. Zwar ist das Gesetz noch nicht fertig beraten, aber die vorberatenden Kommissionen setzen alles daran, dehnbare Formulierungen zu schmieden.
  • Im Kanton Schaffhausen haben sich das Parlament und die Regierung offen geweigert, die vom Volk angenommene Initiative zur Offenlegung der Parteispenden umzusetzen. Im Nachhinein wollten sie einen verwässerten Gegenvorschlag vors Volk bringen und gleichzeitig über eine Durchsetzungsinitiative der ursprünglichen Volksinitiative nicht abstimmen lassen. Das Bundesgericht hat inzwischen entschieden, dass auch über Letztere abzustimmen sei.

Wir müssen also auch hierzulande gegenüber der Erosion demokratischer Prozesse wachsam sein – auch wenn sich unsere politische Identität stark auf die Demokratie bezieht und nicht unmittelbar die Gefahr einer Diktatur droht.


1. https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex_(The_Economist)

2. s. auch Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005

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In diesem Jahr feiern wir das 75-jährige Jubiläum der Genfer Konventionen, die das Fundament des humanitären Völkerrechts bilden. Die Schweiz, stolz auf ihre Rolle als Hüterin dieser Konventionen, trägt eine besondere Verantwortung für den Schutz und die Förderung des humanitären Völkerrechts.

Doch wie vereinbart sich diese Verantwortung mit der Weigerung der Schweiz, dem Atomwaffenverbotsvertrag (Wikipedia) beizutreten? Ein Vertrag, der die unmenschlichen Folgen von Atomwaffen klar benennt und deren Einsatz sowie Androhung verbietet.

Atomwaffen widersprechen den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: Sie töten wahllos, verletzen das Gebot der Verhältnismässigkeit, verursachen unsägliches Leid und nehmen Menschen das grundlegendste Recht auf Leben und Sicherheit. Kein Land der Welt wäre vor den katastrophalen humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes gefeit.

Auch aus christlicher Sicht ist der Einsatz von Atomwaffen schwer zu rechtfertigen. Diese Form der massiven Zerstörung steht im Widerspruch zu grundlegenden christlichen Prinzipien wie Nächstenliebe, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Friedensförderung und Gewaltlosigkeit. Deshalb unterstützen viele Kirchen und internationale christliche Verbände den Atomwaffenverbotsvertrag, darunter der Ökumenische Rat der Kirchen und die katholische Kirche. Papst Franziskus hat dazu klar Stellung bezogen und spricht von einer „falschen Logik der Angst“, die dem Besitz solcher Waffen zugrunde liege. Für ihn ist nicht nur der Einsatz von Atomwaffen ein „Verbrechen“, sondern bereits ihr Besitz „unmoralisch“ 1 . Auch die Weltweite Evangelische Allianz befürwortet die Nichtverbreitung von Atomwaffen, doch herrscht keine Einigkeit über ein vollständiges Verbot.

Die Argumente der Befürworter von Atomwaffen basieren vor allem auf der Abschreckungstheorie: Der Besitz von Atomwaffen soll potenzielle Angreifer davon abhalten, einen Angriff zu starten. Ein genanntes Beispiel ist die Ukraine, die nach Ansicht einiger Analysten wohl nicht unter russischen Angriff geraten wäre, hätte sie Nukleararsenal 1994 nicht abgegeben. Diese militärische Strategie ist als Mutual Assured Destruction (MAD) bekannt und war auch ein Grund, warum es während des Kalten Krieges zu keiner direkten Konfrontation zwischen den Supermächten USA und UdSSR kam. In diesem Szenario würden Atomwaffen niemals eingesetzt werden müssen, weil niemand es wagen würde, einen Atomstaat anzugreifen.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil. Diese Strategie ist extrem riskant, da sie keinen Raum für Fehler lässt, deren Folgen katastrophal wären. Ich wünsche mir daher einen Frieden, der auf einer anderen Vision basiert: auf das Völkerrecht und auf gegenseitigem Respekt zwischen allen Völkern und Mitgliedern der menschlichen Familie – oder aus christlicher Perspektive: auf Nächstenliebe.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil.

Dass die Schweiz dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beigetreten ist, obwohl sie sich an den vorbereitenden Verhandlungen aktiv beteiligt hat, liegt wohl weniger daran, dass sie viel auf die Abschreckungstheorie gibt. Vielmehr sieht sie den Nutzen des Vertrags für die nukleare Abrüstung als ungewiss an. Ein Beitritt würde keinen konkreten Nutzen bringen und hätte aussen- und sicherheitspolitische Nachteile (siehe Bericht des Bundesrats). Diese Entscheidung ist reines realpolitisches Kalkül: Man möchte seine Verbündeten nicht unnötig verärgern.

Zwar ist es grundsätzlich sinnvoll, Bündnispartner nicht zu verärgern, doch sollte dies nicht gelten, wenn es um so grundlegende Fragen wie die nukleare Abrüstung geht. Es sollte uns egal sein, ob unsere Forderungen auf Zustimmung stossen oder nicht – wir sollten meiner Meinung nach Teil der globalen Bemühungen um ein Atomwaffenverbot sein. Gerade weil die Schweiz eine starke humanitäre Tradition hat, sollte sie hier als Vorbild vorangehen.

Die Entscheidung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beizutreten, stellt einen Bruch mit der humanitären Tradition der Schweiz dar und beschädigt unsere Glaubwürdigkeit als humanitäre Akteurin. Diese Tradition ist stark von christlichem Gedankengut geprägt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Henri Dunant, der Gründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1863) und erster Sekretär der Genfer Sektion der Evangelischen Allianz. Dunant, ein tiefgläubiger Christ, war erschüttert vom Leid der Verwundeten nach der Schlacht von Solferino (1859). Seine religiösen Überzeugungen motivierten ihn, sich für humanitäre Hilfe einzusetzen und eine Organisation zu gründen, die in Konflikten neutral und unabhängig agiert, um allen Verwundeten Hilfe zu leisten. Diese Tradition prägt bis heute das humanitäre Engagement der Schweiz und sollte uns – und besonders auch die Christinnen und Christen – weiterhin inspirieren. Ein Beitritt zum Vertrag wäre ein klares Bekenntnis zu unserer humanitären Verantwortung und eine Fortsetzung unseres langjährigen Engagements für nukleare Abrüstung.

Ich fordere mit der Allianz für ein Atomwaffenverbot die Schweiz auf, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden. Denn wer, wenn nicht die Schweiz, sollte für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einstehen?

1. https://www.swissinfo.ch/ger/papst-nennt-atomwaffen-anschlag-auf-menschheit/45388980

Photo: Flickr Commons, Public Domain (Link)

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Wie kann ich als Christin oder Christ aktiv werden?

Der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden ist tief in der christlichen Tradition verankert. Doch schauen wir heute um uns und auf die Welt, ist diese von sozialen Konflikten, Armut bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen geprägt. Wie kann ich als Christin oder Christ dazu beitragen, dem Shalom, Gottes grossem Friedensprojekt für uns Menschen, näherzukommen?

Der Prophet Micha rief bereits vor über 2500 Jahren zum sozialen Engagement zugunsten der Gerechtigkeit auf: «Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet: Gerechtigkeit üben, Gemeinschaftssinn lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.» (Micha 6,8) Diese Worte haben bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren, denn wo wir auch hinschauen, ist unsere Gesellschaften von tiefen Kluften zwischen den Menschen geprägt. Oft spielen dabei Merkmale wie soziale Herkunft, Kultur, Geschlecht, Religion, politische Überzeugung oder Eigentum eine Rolle. Diese Kluften und das Macht- und Profitstreben einzelner Gruppen führen nicht selten zu bewaffneten Konflikten, die mit unbeschreiblichem Leid für Millionen von Menschen verbunden sind. Denken wir zum Beispiel an die Sahelzone, Israel/Palästina, Syrien, die Ukraine, Haiti oder Afghanistan, um nur einige der aktuellen Krisen zu nennen.

Gleiche Chancen für alle

Im christlichen Verständnis hat Gott allen Menschen die gleiche Würde mit auf den Weg gegeben. Daraus leitet sich das Prinzip der Chancengerechtigkeit ab. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beginnt mit folgendem Artikel: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» (AEMR, 1. Artikel) Die Staaten verpflichten sich dadurch, allen Menschen die gleichen Chancen und Möglichkeitenzu bieten. Und auf individueller Ebene ist uns geboten, unseren Mitmenschen gleichberechtigt und mit Respekt gegenüberzutreten. Jesu Prinzip der Nächstenliebe stellt genauso respektvolle Beziehungen zwischen den Menschen ins Zentrum sowie das sich gegenseitige Unterstützen.

Sich für die «anderen» interessieren

Doch was kann ich als Christin oder Christ konkret gegen Ungerechtigkeit um mich herum und weltweit unternehmen? Gott sieht für jede und jeden von uns eine spezifische Rolle im Leben vor. Indem wir in uns gehen und Gott zu uns sprechen lassen, können wir herausfinden, was diese Aufgabe ist und welche Bedeutung sie für das friedliche Zusammenleben in der Gemeinschaft hat. Wenn ich mich für mein Gegenüber interessiere, hilft mir das, Vorurteile bezüglich jenen, die «anders» sind, abzubauen. Zum Beispiel kann ich mit einer Frau,die aus einem Konfliktgebiet flüchten musste, ins Gespräch kommen und so beginnen, mich mit globaler Gerechtigkeit zu befassen. Indem ich Empathie gegenüber diskriminierten Menschen zeige, beginne ich mich für eine Gesellschaft zu öffnen, in der Respekt und Liebe gelebt werden sollen und in der der Glaube und die Hoffnung nach Shalom unter den Menschen weiter gedeihen können.


Gott sieht für jede und jeden von uns eine spezifische Rolle im Leben vor. Indem wir in uns gehen und Gott zu uns sprechen lassen, können wir herausfinden, was diese Aufgabe ist und welche Bedeutung sie für das friedliche Zusammenleben in der Gemeinschaft hat.


Was haben Krisen in anderen Ländern mit mir zu tun?

Um global einen Beitrag zu leisten, hilft es sicherlich, neugierig zu sein und Menschen aus anderen Kulturen kennenzulernen, sich über das politische Geschehen anderswo zu informieren und sich zu fragen, was Krisen in anderen Ländern mit mir zu tun haben. Denn es reicht nicht, dass es uns persönlich gut geht, wir sollten uns als Christinnen und Christenauch international solidarisch zeigen. Denken wir zum Beispiel an Grosskonzerne, die ihren Sitz in derSchweiz haben und Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden aufgrund ihrer Aktivitäten im Ausland tragen. Die Koalition für Konzernverantwortung, der die Kampagne StopArmut angehört, setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass der Staat solche Konzerne für die Einhaltung der Menschenrechte und den Umweltschutz in die Pflicht nimmt. Die globale Vernetzung ist dabei eine Chance, sich gemeinsam mit anderen zu engagieren und Brücken zu bauen.

Auch ich kann Brückenbauerin oder -bauer sein

In der «Ge-Na Studie» zu Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit (www.glaubeklimahoffnung.net), an der rund 2500 Christinnen und Christen aus der Schweiz und Deutschland mitgemacht haben, stimmten über 90 Prozent der Befragten zu, dass sie der christliche Glaube motiviere, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Dieses Ergebnis ist ermutigend und fordert uns auf, diesen Weg weiterzugehen. Persönlich kann ich als Brückenbauerin oder -bauer für das friedliche Zusammenleben dienen, indem ich respektvolle Beziehungen mit meinen Nächsten pflege und wenn nötig auch für sie einstehe, egal welche Kultur sie haben oder ob sie arm oder reich sind. Der nächste Schritt ist nicht weit entfernt: sich auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene für die Menschenrechte und den Frieden auszusprechen. Denn um dem Shalom als Frucht der Gerechtigkeit näherzukommen, braucht es das gemeinsame Engagement von uns allen.


Dieser Artikel wurde von Katia Aeby, Verantwortliche für Kommunikation & Marketing bei Interaction, verfasst und stammt aus dem ERF Medien Magazin September 2024, dem monatlich erscheinenden Printmagazin von ERF Medien. www.erf-medien.ch

Foto von Azzedine Rouichi auf Unsplash

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Vor etwas mehr als 50 Jahren brachte die Banane, oder besser gesagt ihr Preis, eine Handvoll Frauen in Bewegung. Die sogenannten Bananenfrauen haben darüber sinniert, weshalb die Banane in der Schweiz trotz ihres langen Transportweges derartig günstig ist. Das Engagement dieser Frauen hat sogar die Geschäftsleitung des Detailhandels der Migros provoziert. Dies alles begann mit einer entscheidenden Frage, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat.

Die Banane gehört – wie kaum eine andere Frucht – zum Repertoire unserer Beschimpfungen. So ist es kein Kompliment, wenn jemand als eine totale Banane bezeichnet wird. Oder wenn eine Politikerin oder ein Politiker das Wort Bananenrepublik benützt, dann ist kaum eine attraktive Urlaubsdestination in der Ferne gemeint. Über die Banane wird gelegentlich auch gewitzelt: «Warum ist deine Banane krumm?» fragt die kecke 8-Jährige ihren Schulkameraden, der gerade herzhaft in die Frucht beisst. «Damit sie in die Schale passt», erwidert sie gleich selbst und grinst.

Wenn Pfarrfrauen die richtige Frage stellen

Nicht selten leiten einfache Warum-Fragen Veränderungen ein. So hat auch diese eine Frage das Schicksal der «Bananenfrauen» rund um Ursula Brunner bestimmt. Sie war durch den Film «Bananera Libertad» von Peter von Gunten ausgelöst worden1 . Das in den frühen 1970er-Jahren noch eher unbekannte Bananengeschäft wurde von Pfarrfrauen in ihren regelmässigen Frauentreffen in Frauenfeld diskutiert. Es blieb aber nicht nur beim Reden. Die Frauen schritten zur Tat: Sie schrieben auf unorthodoxe Weise den Migros-Genossenschafts-Bund an. Dieser konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass Frauen eine derartige Frage stellten.

Die Geschichte der «Bananenfrauen» ist spannend. Sie gleicht einem Abenteuer, das sie nicht selbst gewählt haben. Der Detailhandelsriese Migros liess sich damals zwar auf ein Gespräch ein, war jedoch nicht gewillt, den Bananenproduzenten einen höheren Ankaufspreis zu bezahlen. Daraufhin suchten die Frauen das Gespräch mit den Konsumentinnen und Konsumenten auf der Strasse. Sie machten so in vielen Schweizer Städten auf die erdrückende Situation bei der Produktion von Bananen aufmerksam. Diese Aktionen lösten ein breites Echo aus und brachte viele Menschen zum Nachdenken.

Hören und dem Ruf nachgehen – alles Weitere ist Zugabe

Was diese Frauen damals nicht wussten: Sie legten mit ihren Aktionen einen Grundstein für das Anliegen «Faire Produkte». Die Erklärung von Bern (heute Public Eye) war fast zeitgleich die treibende Kraft bei der Kaffee-Aktion Ujamaa – sie sprach sich für einen limitierten fairen Kaffee aus –, sowie bei der Jute-statt-Plastik-Aktion Mitte der 1970er-Jahre. Hier wurde ein Jutebeutel mit der Aufschrift «Jute statt Plastic»2 lanciert. Die Aktion wurde zum Symbol der Sensibilisierung für einen sorgfältigeren Konsumstil3 .
Ende der 1970er-Jahre gründeten dann mehrere Schweizer NGOs eine Importgesellschaft namens OS3, heute Claro Fair Trade, um Fair Trade-Produkte in der Schweiz zu verkaufen. In den 1990er-Jahren wurden schliesslich verschiedene Fair Trade-Labels eingeführt: das Bekannteste unter ihnen war 1992 das Label «Max Havelaar». Es zeichnet heute eine grosse Anzahl von Produkten im Detailhandel aus, die unter fairen Bedingungen produziert worden sind – unter anderen auch die Banane.

Als die Fair Trade-Bewegung in den 1980er-Jahren von einer breiteren Zivilbevölkerung aufgenommen wurde – allen voran von NGOs –, war der Interpretationsrahmen stets der Kalte Krieg. So argumentiert etwa der Kulturanthropologe Konrad Kuhn, dass der starke Gegenwind gegen den Verkauf von Fair-Trade-Produkten zu Teilen in der Strukturveränderung lag, welche die Bewegung beabsichtigte4 . In Zeiten des Kalten Krieges wurden Strukturveränderungen sofort politisch interpretiert, völlig unabhängig vom eigentlichen Problemfeld. Dieser hochpolitische Deutungsrahmen legte sich nach dem Ende des Kalten Krieges. Nun wurde nicht mehr jedes Wort politisch gedeutet. Ab 1991 gewannen vordergründig dann Aspekte der Wirtschaft ein höheres Gewicht.

Der Weg der «Bananenfrauen» war ähnlich mit dem, wie die Jungfrau zu ihrem Kinde kam: Der Ruf ihrer Zeit hatte diese Frauen und diese hatten ihre Berufung gefunden. Sie betrieben keine Parteipolitik, was jedoch nicht heisst, dass sie nicht politisch waren. Die fair produzierte Banane wurde 1992 von Max Havelaar übernommen. Die «Bananenfrauen» hatten aber schon zwei Jahrzehnte vorher entscheidende Impulse für den fairen Handel gegeben.

Die Warum-Frage bleibt auch heute aktuell

Heute die «Bananenfrauen» nachahmen zu wollen, würde heissen, in der Vergangenheit zu schwelgen. Der Konsum von Fair Trade-Produkten ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Rückblickend ist das Engagement der «Bananenfrauen» zweifellos beeindruckend.

Trotz und gerade wegen ihres Engagements sollten wir uns auch heute fragen, welche Probleme denn heute vorhanden sind. Wie heissen heute die brennenden Themen rund um den Konsum – und darüber hinaus? Und vor allem: Haben wir gegenwärtig überhaupt noch Orte, an denen wir diese Warum-Fragen stellen können? Oder stehen vor allem die Konzepte, durch die wir Menschen für unsere Ideen und Programme erreichen möchten, im Vordergrund?

Inspiriert von den «Bananenfrauen» möchte ich an dieser Stelle eine der heutigen Warum-Fragen aufwerfen, in der Hoffnung, dass andere in diese Frage einsteigen und die Frage weiterdenken. Meine Frage lautet: Warum sind eigentlich Kirchgemeinden und Organisationen, ja selbst unsere persönliche Karriere so stark auf Wachstum und Wirksamkeit ausgerichtet? Eine Ausrichtung nach Wachstumsindikatoren ist ja direkt oder indirekt immer mit Produzieren und Konsumieren verbunden, auch dann, wenn das äussere Erscheinungsbild unserer Aktionen trendig als «authentisch» bezeichnet wird. Warum spielen wir eigentlich dieses unauthentische Spiel in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft, inklusive Kirchen und Organisationen, mit?

Zum Beispiel Hamburg

Ein Beispiel soll Anregungen geben, wie heute Menschen statt Konsum und Programme im Vordergrund stehen können, ohne Strukturen und Planung zu diskreditieren.

Am Hamburger Bahnhof kommen auf engem Raum täglich 550‘000 Reisende an. Konflikte sind keine Seltenheit. Beispielsweise haben während der Flüchtlingskrise 2016 viele Geflüchtete u.a. vor den Einkaufsgeschäften ihre wenigen Habseligkeiten ausgebreitet, um zu schlafen, was wiederum das Einkaufen für Passanten verunmöglichte und so die Umsatzzahlen der Läden tangierte. Wie geht die Bahnhofsmission damit um?

Bei einem Besuch beim Leiter der Bahnhofsmission Hamburg, Axel Mangad, werden keine Mission Statements oder Alleinstellungsmerkmale der 140-jährigen Organisation zitiert. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, da gebe es keine genauen Ziele, die verfolgt werden, was sicherlich den einen oder anderen Geschäftsführer beunruhigen würde.

Wenn Axel Mangad erzählt, dann fällt auf, dass die Menschen im Vordergrund stehen. Er erzählt, dass die Bahnhofsmission flexibel sein will, um auf schnelle Veränderungen wie zum Beispiel eine Flüchtlingskrise reagieren zu können.

Das sind keine eingeübten Floskeln, das neu eingeweihte Gebäude bestätigt seine Erklärungen: Mitten im Raum steht eine Empfangstheke, damit die Mitarbeitenden sofort bei den Hilfesuchenden sind. Mit einer Falttür könnte der kleine Raum zum Beispiel sofort in ein kleines Café umgewandelt werden, falls nötig. Der Sanitätsraum nebenan, der mit ausgebildeten Pflegefachkräften besetzt ist, dient Menschen mit medizinischen Beschwerden, die etwa aus Scham über gewohnte Wege keinen Arzt aufsuchen würden. Ebenso können Menschen ihr mobiles Telefon zum Aufladen abgeben. Klingt banal, aber welcher fremden Person würde man heute das Telefon mit persönlichen Daten geben? Das geht nur, wenn ein hohes Grundvertrauen vorhanden ist. Das neugebaute Gebäude ist natürlich sorgfältig geplant worden. Aber das Konzept ist so ausgearbeitet worden, damit nicht der Konsum, sondern Menschen mit ihrer Not im Vordergrund stehen.

Wie wäre es, wenn wir lernen würden, zuallererst an die Menschen zu denken und erst dann an Strukturen und Zahlen? Der Inhalt kann dann völlig unterschiedlich sein, wie bei den «Bananenfrauen» vor 50 Jahren oder aktuell in der Bahnhofsmission in Hamburg. Der entscheidende Punkt liegt darin, die Fragen richtig zu stellen.


1. vgl. Brunner, Ursula: Bananenfrauen. Frauenfeld, 1999, insbesondere die Seiten 16-38

2. Der Slogan «Jute statt Plastic» steht mit Jute für die die natürlichen Materialien, «Plastic» mit einem c statt k symbolisierte das Fremde.

3. vgl. Strahm: Der aktionserprobte Achtundsechziger im Team der EvB 1974-1978, (2008), Seiten 139-140; in: Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf: Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968-1985), Zürich, 2008 (Seiten 113-166).

4. vgl. Kuhn, Konrad J.: Fairer Handel und Kalter Krieg. Selbstwahrnehmung und Positionierung der Fair-Trade-Bewegung in der Schweiz 1972-1990. Bern, 2005, Seiten 115-117

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Juni 2024 auf Forum Integriertes Christsein.

Foto von Rodrigo dos Reis auf Unsplash

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Rund um den Flüchtlingstag vom 16. Juni 2024 findet in verschiedenen Schweizer Städten die Aktion «Beim Namen nennen» statt. ChristNet gehört zu den Erstunterzeichnenden des Manifests «Menschen schützen – auch an den Grenzen» im Rahmen dieser Aktion.

Ein stilles Drama geht seit Jahren auf den Meeren und an den Grenzen Europas vor sich und schafft es nur gelegentlich in die Medien. Seit 1993 sind über 60’000 Kinder, Frauen und Männer an den EU-Aussengrenzen gestorben. Der diesjährige Flüchtlingstag gedenkt unter dem Titel «Beim Namen nennen» dieser Menschen in 10 Schweizer Städten. Es finden öffentliche Lesungen der «List of Deaths» statt. Dazu werden die Angaben jeder verstorbenen Person auf ein Stück Stoff geschrieben und an einer Installation befestigt, die dadurch zu einem Mahnmal im Gedenken an die Verstorbenen wird.

«Symptome statt Ursachen werden bekämpft»

Bereits jetzt kann das Manifest «Menschen schützen – auch an den Grenzen» zuhanden des Bundesrats unterzeichnet werden. Es kritisiert die im Dezember beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die nun umgesetzt wird. Unter anderem ruft es den Bundesrat dazu auf, sich im Rahmen der Schengen/Dublin-Assoziierung der Schweiz für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und die vollumfängliche Respektierung der Rechte von Asylsuchenden einzusetzen. «Die geplanten Massnahmen verletzen die Grundprinzipien nationaler, europäischer und internationaler Rechtsabkommen, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen», heisst es darin.
ChristNet gehört zu den Erstunterzeichnenden des Manifests und ist überzeugt, dass die Entwicklungen an den EU-Aussengrenzen auch die Schweiz etwas angehen, nicht bloss aufgrund des Schengen- und des Dublin-Abkommens, sondern auch als Geburtsstätte der Genfer Flüchtlingskonvention. Menschen müssen legal nach Europa einreisen und ein Asylgesuch stellen können.

Bitte unterzeichnen Sie das Manifest jetzt:


Weiterführende Links

Dokument, um handschriftliche Unterschriften sammeln zum Download

Weitere Informationen zu den Aktionen rund um den Flüchtlingstag vom 16. Juni 2024 Link: www.beimnamennennen.ch

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Viele Menschen spüren eine zunehmende Verunsicherung. Die Globalisierung, die Komplexität vieler Zusammenhänge und die Digitalisierung lassen immer mehr Menschen ratlos zurück. Und auch die Kriege an den Rändern Europas sind eine Realität, von der wir dachten, dass wir sie überwunden hätten.

In dieser um sich greifenden Rat- und Hilflosigkeit erstarken die Extreme, die uns Sicherheit und Klarheit versprechen. In vielen Ländern erleben die rechtspopulistischen und nationalistischen Kräfte starken Zulauf. Diktatoren haben Hochkonjunktur, weil sie einfache Lösungen für komplexe Fragestellungen anbieten. Was passiert gerade mit unserer Welt, mit unserer Kultur und unserer Gesellschaft?

Normalität

Was viele Menschen aktuell als verunsichernd und anstrengend erleben, ist der Verlust der Normalität. «Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.» (Wikipedia) Wir kommen aus einer längeren Phase gesellschaftlicher Normalitäten. Vieles war geklärt, galt als «normal» und fand breite Akzeptanz. Man musste nicht ständig überlegen, wie man in der Norm bleibt. In der normierten Normalität kann man sich unbeschwert bewegen, weil einem viele Entscheidungen abgenommen sind. Normalität schafft Sicherheit, Orientierung und Geborgenheit. Sie ist unsere Komfortzone. Normalität ist eine Art verbindende Schnittmenge der Gesellschaft.

«Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.»

Verlust der Normalität

Seit Jahren erleben wir, wie das Feld der Normalität kleiner wird – und die Verunsicherung grösser. Die Schnittmenge wird kleiner, weil die Diversität der Gesellschaft grösser wird. Was über Jahrzehnte als geklärt galt, wird neu verhandelt und infrage gestellt. Wir erleben den Verlust an Normalität in einem Tempo, wie das selten zuvor der Fall war. Im Folgenden nenne ich einige Beispiele, die diese Verunsicherung und Normverluste zum Ausdruck bringen.

Unsere Sprache

Wie dürfen wir noch reden? Plötzlich löst man durch einen Satz oder ein Wort einen Shitstorm aus. Darf ich Begriffe, die mir mein ganzes Leben lang vertraut waren, überhaupt noch gebrauchen oder diskriminiere ich damit jemanden? Darf ein Restaurant noch «Zum Mohren» heissen? Muss ein Strassenname umbenannt werden, wenn er nach einem General aus dem Ersten Weltkrieg benannt ist? Auch das Gendern bedroht die Normalität unserer Sprache. Der Sprachfluss verändert sich und neue Endungen müssen kreiert werden. Selbst in einer der neuesten Kinderbibeln wird konsequent gegendert, was das Vorlesen offen gesagt herausfordernd macht.

Kultur und Nationalität

Eine andere Verunsicherung betrifft Fragen der Kultur und Nationalität. Dürfen meine Kinder an Fasching noch als «Indianer» verkleidet in den Kindergarten gehen? Darf ich als Schweizer Dreadlocks tragen, einen Sombrero aufziehen und Paella kochen – oder ist das bereits kulturelle Aneignung? Dürfen die Kirchenglocken in einem Dorf noch läuten oder ist das jetzt Ruhestörung? Ist die klassische Familie mit Mutter, Vater und Kindern noch der Normalfall oder wird das durch alternative Familienmodelle abgelöst? Und dann hat uns zudem die Coronakrise unverhofft aus unserer Alltagsnormalität herausgerissen.

Konsequenzen

Eine Konsequenz dieses Normalitätsverlusts ist die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach der alten Normalität. Und viele, die eine Rückkehr zu den alten Normen versprechen, erleben Zulauf, egal ob radikale Partei oder fundamentalistische Religion. Eine weitere Konsequenz ist der Rückzug in die eigenen vier Wände und dadurch die Abkehr von der Verunsicherung da draussen. Es wächst das Zugehörigkeitsgefühl zu denen, die den Verlust an Normalität ebenfalls beklagen und gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung denen gegenüber, die diese neuen Klärungen einfordern. Damit vergrössert sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Die Menschen werden fremdenfeindlicher, weil es «die Fremden» sind, die mit ihrer Kultur, ihren Sitten und Werten unsere Normen bedrohen. Und gleichzeitig werden die Fremden unzufriedener, weil sie durch ihren sozialen Stand und den Mangel an Ressourcen ihre eigene vertraute Normalität nicht wieder aufbauen können. Die Anziehungskraft der eigenen Normalität ist daher auch einer der Gründe, warum Integration oft nur schwer gelingt. Integration bedeutet nämlich für fremde Menschen, ihre Normalität aufzugeben und dafür unsere Normalität zu übernehmen. Aber Normalität wächst über Jahrzehnte, über Generationen hinweg und lässt sich nicht einfach austauschen. Und wer Vertreibung, Krieg oder Flucht hinter sich hat, verspürt umso mehr das Bedürfnis nach vertrauter Normalität. Der Mangel an Integrationsbereitschaft muss nicht Ablehnung der neuen Kultur bedeuten, sondern bringt vielmehr die starke Anziehungskraft des Vertrauten zum Ausdruck, die sich in der eigenen Kultur, der eigenen Sprache, den eigenen Traditionen und Sitten zeigt. Bei alledem gibt es eine Schizophrenie in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite will man den maximalen Individualismus, die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen. Und auf der anderen Seite will man ganz viel Normalität und eine möglichst grosse Schnittmenge in der Gesellschaft. Aber man kann auf Dauer nicht beides haben. Wie gehen wir als Christen und als Gemeinden mit dem Verlust von Normalität um?

1. Die Schattenseiten der Normalität wahrnehmen

Ich habe bisher die Vorzüge von Normalität geschildert. Die Geschichte zeigt: Normalität war auch ein Machtinstrument, ein Werkzeug der Unterdrückung. Die Normalität hat Blut an ihren Fingern. Sie war der Nährboden, auf dem ausgegrenzt, ausgeschlossen, diffamiert, denunziert, kriminalisiert und eingesperrt wurde. «Arisch» galt in der Nazi-Ideologie als normal und darum wurden Juden als Ungeziefer betrachtet, die es auszurotten galt. «Weiss-Sein» galt als normal und darum durfte man dunkelhäutige Menschen als Sklaven halten. «Katholisch-Sein» galt als normal und darum durfte man Protestanten verfolgen. Der Mann als Ebenbild Gottes galt als normal und darum wurde in vielen Kirchen Frauen das Lehren und Leiten untersagt. Heterosexualität gilt in vielen Ländern als normal und darum werden in manchen davon queere Menschen mit lebenslanger Haft oder dem Tode bestraft. In Anbetracht dieser Beispiele hat der Verlust der Normalität auch etwas Gutes, denn er zerstört gewachsene Unterdrückungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen.

2. Christen haben schon lange den Bereich der Normalität verlassen

Die Geschichte der Jahwe-Religion ist im Kern die Geschichte des Auszugs und des Aufbruchs aus der Normalität. Abraham als Vater der jüdischen Religion hört von Gott: «Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!» (Gen 12,1). Land, Heimat und Verwandtschaft sind der Inbegriff der Normalität. Aber genau aus dieser Normalität musste Abraham aufbrechen in die Fremde, ins Unbekannte, ins Ungewisse. Und bis heute ist für die Juden der Exodus unter Mose ihre konstituierende Erfahrung als Volk und als Religion. Das Volk Gottes ist und bleibt ein Volk im Aufbruch, ein Volk auf Wanderschaft, ein Volk in der Fremde. Auch im Neuen Testament bestätigt Petrus diese Fremdheit der Christen: «Ihr wisst, liebe Geschwister, dass ihr in dieser Welt nur Ausländer und Fremde seid» (1Petr 2,11). Und Paulus redet davon, dass wir unser Bürgerrecht im Himmel haben (Phil 3,20). Aus der irdischen Normalität wurde für uns eine himmlische Identität. Das griechische Wort für Gemeinde (Ecclesia) heisst wörtlich «die Herausgerufenen». Wir sind herausgerufen aus den Normen der irdischen Gesellschaft. Unsere Zugehörigkeit, Heimat, Verbundenheit und Sicherheit nehmen wir nicht aus dem Bereich der irdischen Normalität, sondern aus der Kraft unserer himmlischen Identität. Was für uns Christen normal ist, orientiert sich nicht an irdischen Normen, sondern an himmlischen Werten. Nicht am gesellschaftlichen Konsens, sondern am Lebensstil Jesu. Als Bürger des Himmels hätte ich viel früher damit beginnen müssen, mich den Machtstrukturen der Normalität entgegenzustellen, mich auf die Seite der Diskriminierten, der Benachteiligten, der Fremden und der Vergessenen zu stellen und mich der betäubenden Wirkung der Normalität zu widersetzen.

3. Die Bedeutung von Solidarität

Dem Verlust der Normalität folgt der Verlust der Solidarität. Der höhere Energieverbrauch für ein Leben mit geringerer Normalität muss irgendwo kompensiert werden. Als Konsequenz konzentrieren wir uns auf uns selbst und müssen uns ganz neu zurechtfinden. Oft geht das auf Kosten der Solidarität, des Ehrenamts und der Hilfsbereitschaft. Alle wollen frische Brötchen am Sonntagmorgen, aber keiner will um 4:00 Uhr diese Brötchen backen. Alle wollen am Sonntag in die Notaufnahme gehen können, aber immer weniger Menschen sind bereit, am Wochenende zu arbeiten. Alle sind dankbar, wenn ihre Kinder im Sportverein gefördert werden, aber an vielen Orten fehlt es an ehrenamtlichen Trainern oder Trainerinnen. Ich erlebe einen dramatischen Rückgang an Solidarität in unserer Gesellschaft. Und der Grund ist nicht, dass Menschen so gottlos, böse und egozentrisch sind, sondern der Verlust der Normalität wird als so verunsichernd und anstrengend erlebt, dass keine Energie und Kapazität übrigbleiben. Als Christen werden wir keine neue Normalität erschaffen! Aber wir können eine Kultur der Solidarität prägen. Wir können unserem Umfeld auf Schritt und Tritt zeigen, was es heisst, solidarisch zu sein. Wir können vorleben, dass sich unsere Solidarität nicht aus der Normalität speist, sondern aus den Werten des Himmels und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unserem Leben. Wir können nicht erst dann wieder solidarisch sein, wenn wir in unserer Komfortzone zurückgefunden haben. Solidarität bezeichnet eine Haltung der Verbundenheit mit – und eine Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten, Bedürfnissen und Zielen anderer Menschen und Geschöpfe. Das ist nichts anderes als Nächstenliebe. Wie wäre es also, wenn wir als Kinder Gottes mithelfen würden, dort die Normalität zu hinterfragen, wo sie als Machtinstrument missbraucht wird, um Menschen oder diese Schöpfung zu dominieren, zu diskriminieren, auszubeuten oder auf ihre Kosten zu leben? Und wie wäre es, wenn wir unser eigenes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit weniger aus der Normalität um uns herum speisen, sondern viel mehr aus dem Bewusstsein, in dieser Welt Fremde zu bleiben, deren Heimat, deren Familie und deren Bürgerrecht im Reich Gottes und in unserem Vater im Himmel liegen? Und wie wäre es, wenn wir trotz dem Verlust an Normalität umso mehr um Solidarität bemüht sind? Wenn wir überall dort, wo wir sind, den Geruch der Solidarität hinterlassen und so unsere Gesellschaft inmitten des Normalitätsverlusts stärken? Diese drei Dinge wünsche ich mir für die Christen.

Dieser Artikel ist erstmals im Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2024 erschienen.

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Rechts oder links bestimmt unser politisches Denken und Agieren. Ist dies noch zeitgemäss, um den heutigen Anforderungen an die Politik zu genügen? Oder bräuchte es auch da ein Umdenken, um Lösungen für komplexe Probleme zu finden?

Die parlamentarische Rechts-Links-Sitzordnung bestimmt den politischen Diskurs der Neuzeit. Wie kam es dazu? Während der französischen Revolution wurden die räumliche Platzierung «Rechts» und «Links» politisch aufgeladen zu einem politischen Ordnungssystem, das in den revolutionären Umwälzungen ab 1791 Übersicht versprach. Die neue Nationalversammlung setzte die konservativen Aristokraten/Monarchisten auf die rechte, die fortschriftlich-revolutionären Patrioten auf die linke Seite.
Seitdem gilt diese Sitzordnung als Nomenklatur für alle Parteien im demokratischen Parlamentarismus. Sie bestimmt die politische Debatte bis heute, obwohl – und das ist der Anlass zu den folgenden Überlegungen – die Grenzlinien zwischen «links» und «rechts» programmatisch längst nicht mehr eindeutig sind.

Anachronistische Kategorien

Es mehren sich die Stimmen, welche die Kategorien «rechts und/oder links» für anachronistisch halten. Sie hinterfragen diese Zuweisungen von Parteien und Initiativen 1. .
Ich teile diesen Argwohn und reagiere besonders sensibel, wenn diese Etikettierung auch im christlichen Umfeld permanent unkritisch verwendet wird. Wenn also Einzelne oder Gruppen als «linksevangelikal» oder «rechts» tituliert werden, nur weil sie sozial und ökologisch agieren oder sich für traditionelle Werte einsetzen.

Gäbe es nicht auch ein Politisieren jenseits von links und rechts?

Diese Frage stellte Jim Wallis 1995 in seinem Buch «Die Seele der Politik» 2.
Die alten Schubladen der herrschenden politischen Ideologien von progressiv und konservativ, links und rechts seien gleichermassen unfähig, die gegenwärtige Krise klar zu benennen. Vertreten nicht Konservative und Progressive gemeinsam im Kern die grossen moralischen, sozialen und humanen Werte jüdisch-christlicher Tradition? War nicht das Auseinanderdividieren dieser Werte die Quelle für die daraus entstandenen, bis heute andauernden Polarisierungen und Grabenkämpfe?

Dass sich im 19. Jahrhundert die sozialpolitisch-progressiven Kräfte mit dem atheistischen Materialismus/Humanismus verbündeten, ist ja leider auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Christen und Kirchen den absurden Scheingegensatz von «sozialer Politik» und «Evangelium» jahrzehntelang kultiviert haben. Das zu verhindern ist den wenigen Persönlichkeiten der «Inneren Mission» (Joh. Hinrich Wichern +1881) und der religiös-sozialen Bewegung (Christoph Blumhardt +1919, Hermann Kutter +1931, Leonhard Ragaz +1945) damals leider nicht gelungen.

Das Rechts-Links-Schema franst aus

So prägt das Rechts-Links-Schema unser politisches und gesellschaftliches Bewusstsein als unverrückbares Ordnungsraster. Trotzdem scheint es nicht mehr zu passen.
Das hat das Taktieren der Parteien mit Unterlisten und Listenverbindungen für die letzte Nationalratswahl im Oktober 2023 gezeigt. Wer da mit wem wieso und warum koalierte – da konnte man nur staunen! Mutmassungen, Kopfschütteln und kritische Häme meldeten sich, denn das entsprach ganz und gar nicht unserem Bedürfnis nach verlässlichen Koordinaten.

Eine neue, ungewohnte Gemengelage entsteht global

Diese letztjährige Verwirrung in der Parteienlandschaft ist kein helvetischer Sonderfall, sondern ein europäisch-transatlantisches Phänomen. Es spiegelt einen Epochenwandel wider, der mit dem Fall der Mauer 1989 begonnen hat. Die bisherigen ideologischen Kategorien konservativ-traditionell-national und progressiv-multikulturell-global bröckeln ebenso wie das frühere Gegenüber von Kapitalismus und Kommunismus. China zeigt zum Beispiel, wie erfolgreich ein kapitalistischer Kommunismus sein kann, wenn er nicht von Korruption zersetzt würde.

Eine ideologisierte Politik wie bisher verhindert schon länger gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Multikrisen und zur Deeskalation internationaler Konflikte.
Gegenwärtig erleben wir, dass narzisstische Autokraten, selbstgefällige Oligarchen und egomanische Machtmenschen diese Ideologien nur noch propagandistisch nutzen, um Feindbilder zu kreieren und um dadurch ihre Nation – nein, sich selbst – gross zu machen. Und die Welt beginnt bedenklich zu taumeln.

In welche Richtung wird es gehen?

Die aktuellen Problemfelder «lassen sich nicht mehr so einfach auf der alten politischen Koordinatenachse zwischen rechts und links» verorten 3. Denn wir sind nicht mehr nur ökonomisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch, kulturell, sozialethisch, normativ, existentiell und neuerdings digital/medial in einer noch nie da gewesenen Intensität herausgefordert. Diese in sich autodynamische interagierende Vielfalt sprengt jede monokausale Erklärung. Ideologisch einseitiges, konservatives oder progressives Politisieren muss jetzt dringend offenlegen, welche Interessen da in Wirklichkeit noch wirkmächtig mitspielen.
Besonders bedenklich ist es in kürzester Zeit geworden, wie sich aktuell eine Intoleranz ausgerechnet bei denen radikalisiert, die für sich Toleranz einfordern. Politikerinnen und Parlamentarier, Wissenschaftler und Journalistinnen beklagen, wie seit der Pandemie eine teilweise gehässige Polarisierung und aggressiver werdende Verdächtigungskultur zunimmt, völlig jenseits der alten Rechts-Links-Gräben 4.

Politischer Gegner bleibt Mitmensch

Der christliche Glaube steht in unserer direkten Demokratie permanent in politischer Entscheidung. Umso mehr ist er jetzt gefordert, alte Polarisierungen und ideologische Gegensätze aufzubrechen und durch eine Gesamtschau zu überwinden, die wir beispielhaft bei den Propheten des Alten Testaments und natürlich bei Jesus finden: Es geht nicht um Macht, Profit und «gross sein wollen», sondern um den Dienst umfassender Mitmenschlichkeit.
Der Christliche Glaube analysiert die nationale Politik sowie die internationale und globale Wirklichkeit kritisch und merkt dann schnell, wie unzeitgemäss und perspektivlos das herkömmliche «Rechts-Links-Schema» wirkt. Es entspricht einfach nicht den biblischen Kriterien für eine Politik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung.

Was könnte eine Politik bewegen, die sich in letzter Verbindlichkeit – oder wenigstens minimal prinzipiell – an Jesu Botschaft, Gesinnung und Verhalten orientiert? Natürlich ist es enorm schwierig, Nächstenliebe von Klasse zu Klasse, Partei zu Partei, Rasse zu Rasse, Religion zu Religion und Nation zu Nation politisch umzusetzen. Aber jeder noch so gering erscheinende Versuch liesse uns eine politische Kultur «jenseits von rechts und links» entdecken, einen «dritten Weg», eine «neue Mitte», ein neues Verhalten, eine neue Freiheit von ideologischer Befangenheit.

Und es gab und gibt sie schon, die Politiker und Politikerinnen, die jenseits ihrer Parteizugehörigkeit als Brückenbauer agieren und die ihre Sachkompetenz und politische Überzeugung mit offener Dialogbereitschaft verbinden. Ihr argumentatives Ringen im Gespräch ermöglicht, einander zu verstehen und zu respektieren. Jede anständige, seriöse politische Kommunikation ohne Gehässigkeiten schafft eine Atmosphäre, in der mein politischer Gegner kein Feind ist, sondern Mitmensch bleibt! Gesprächsverweigerungen sind für eine Demokratie gefährlich, sie verhindern lösungsorientierte Sachpolitik und fördern subtile Machtpolitik.

In Schubladen denken – bitte nicht mehr!

Ich weiss: Die Sprachformel «Rechts/Links» lässt sich noch nicht aus der Welt zu schaffen.
Sie wird mir morgen und übermorgen in den Nachrichten und Medien begegnen wie eh und je. Wer aber dieses Schubladen-Denken aus seiner Denkkultur und dann auch aus seinem politischen Alltagsgeschäft verbannt, hebt sein politisches Denken und Agieren auf ein anderes – höheres – Niveau. Und das wird nachhaltige Folgen generieren.
Jeder zaghafte Versuch ist zu begrüssen und wäre unbedingt zu unterstützen!


1 Jüngst Martin Notter: «Die Einteilung in Konservative und Progressive folgt einer Parteilogik. Mit einem Zukunftsrat besteht die Chance, dass diese Logik überwunden wird (TAMagazin 34/2023)
2 Jim Wallis, Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München 1995. S.50-69
3 Robert Habeck, Von hier an anders. Köln 2021. S.68. Habeck ringt ab S.240 um eine Politik der Gemeinschaft in auszuhaltender Differenz jenseits herkömmlichen Lagerdenkens
4 Edgar Schuler, Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert. TA 9.8.2023

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Oktober 2023 auf Insist Consulting. Er wurde für ChristNet leicht überarbeitet.

Foto von Pablo García Saldaña auf Unsplash