Am 18. Januar 2025 findet das nächste ChristNet-Forum unter dem Thema «Demokratie – gefährdet oder gefährlich» statt. ChristNet-Präsident Markus Meury erklärt, was es mit dem Thema auf sich hat.
Mit dem 2. Weltkrieg wurde endgültig klar, welche Katastrophen der Nationalismus und Diktaturen anrichten können. Danach wurden in vielen Staaten die demokratischen Strukturen ausgebaut. Mit dem «Fall der Mauer» schien es, dass die Demokratie gesiegt hätte und dass sie und die Menschenrechte sich dank der Zunahme der Bildung und des Wohlstandes automatisch ausbreiten würde. Bis zum Jahr 2015 war dies tatsächlich der Fall, seither hat aber eine Trendwende eingesetzt. Der Demokratieindex 1 zeigt seither nach unten, und zwar in allen Regionen der Welt.
Zunehmend Machterhaltung – auch wegen der Polarisierung im Internet
In Ungarn, Polen, Israel oder El Salvador versuchen Regierungen vermehrt, ihre Macht zu zementieren, indem sie Kritik übertönen oder unterdrücken und die Kontrolle durch Gerichte abschaffen. Mexiko und Indien versuchen, demokratische Wahlen «besser zu kontrollieren». In Südkorea wurde eben ein «Putsch von oben» versucht. Auch der Sturm aufs Capitol in den USA von 2021 kann in dieser Kategorie genannt werden. Wird die Demokratie nur noch toleriert, solange das Resultat den Mächtigen dient?
Ein wichtiger Faktor hierin ist sicher die zunehmende Polarisierung der Meinungen, die durch die allgemeine Verunsicherung und die ungebremste Hetze und Verleumdung gegen die politischen Gegner in den sozialen Netzwerken (auch bewusst) gefördert wird. Durch die Algorithmen im Internet, die unsere Interessen und Meinungen spiegeln, finden wir uns in Meinungs-Bubbles wieder und werden zunehmend einseitig informiert. Wenn der politische Gegner nur noch Feind ist, wird dessen Unterdrückung zur Priorität, da sonst «das Böse überhandnimmt». Machterhaltung ist die Devise, Konsens und damit die Suche nach dem Guten für alle ist nicht mehr Ziel. Im Kampf der Guten – wir – gegen die Bösen – die anderen –, wird die Aufhebung von demokratischen Regeln gerechtfertigt.
Der Soziologe Anthony Giddens hat bereits in 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der autoritären Regierungen werde, da mehr Menschen wegen den schnellen technischen und kulturellen Veränderungen2 wieder nach Sicherheit versprechenden Führern rufen. Nur so ist es zu erklären, dass in den USA mit Donald Trump von einer Mehrheit des Volkes wiedergewählt wurde. Dies mit Elon Musk als rechte Hand, der vor einem von ihm angestrebten Sturz des bolivianischen Präsidenten meinte: «We coup against whoever we want».
«… in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.»
Erosion der Wahrheit
Das Internet mit seinem grossen Angebot an Rechtfertigungsideologien hilft uns, das zu glauben, was wir glauben wollen. Wir passen die Realität an unsere Weltsicht an. Hier ist die Frage der Wahrheit zentral: Kümmern wir uns nicht mehr um die Suche nach Wahrheit? Oder nehmen wir einfach an, was wir glauben, ist die Wahrheit. Wenn wir Facts statt Unterstellungen den Vorzug geben, entstehen weniger Feindbilder. Aber in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.
Menschenrechte, Demokratie und Nächstenliebe bedingen sich gegenseitig
In diesem Zusammenhang geraten weltweit auch die Menschenrechte unter Druck. Menschenrechte sind die Grundpfeiler der Menschenwürde: gleicher Wert jedes Menschen vor Gott heisst auch, jedem Menschen gleiche Rechte und Lebenschancen zuzugestehen. Das ist die Grundlage der Nächstenliebe. Diese bedingt die Menschenrechte und ist nur durch eine vollständige Demokratie gewährleistet. Denn nur dort, wo die Stimme der Benachteiligte hörbar ist und ihr politischer Einfluss gleichwertig ist, wo vertrauenswürdige Informationen im Vordergrund stehen und wo Mächtige abgewählt werden können, kann das Gute für alle gedeihen. Denn: wo die Mächtigen Rechenschaft abgeben müssen, wird das Wohl für alle respektiert. Umgekehrt hat die Konzentration und Zementierung von Macht in der Geschichte meist Unheil gebracht. Unterdrückung, Kriege, Tod und Zerstörung sind die Folge.
Und in der Schweiz?
Die Schweiz hat unter den Demokratien eine besondere Stellung und wird wegen seiner direktdemokratischen Instrumente als die Demokratie schlechthin angesehen. Doch auch bei uns gibt es demokratische Grundregeln, die noch mangelhaft sind. Demokratie heisst nicht einfach, «man kann ja wählen und abstimmen, wenn man will». Im Folgenden einige wichtige Voraussetzungen, die in der Schweiz unseres Erachtens im Vergleich zum Ausland Verbesserungen benötigen:
- Zuverlässige und korrekte Information in klassischen und sozialen Medien
- Gleich lange Spiesse im politischen Konkurrenzkampf durch Offenlegung der Politikfinanzierung
- Unterbindung von undurchsichtigen Lobbying-Aktivitäten im Parlament
- Die Einführung eines Verfassungsgerichts, das die Übereinstimmung von neuen Gesetzen mit der Verfassung überwacht
Zudem sind Einschränkungen von demokratischen Prozessen auch hierzulande wahrnehmbar:
- Bei der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative waren die Wirtschaftsverbände erstaunt, dass die Zivilgesellschaft plötzlich gewichtigen Einfluss auf die Meinungsbildung hatte. Dieser Entwicklung begegneten sie mit einem Verbot der politischen Arbeit von subventionierten NGO und von Schulbesuchen durch Entwicklungshilfeorganisationen.
- Das Parlament beschloss – trotz hängiger gegnerischer Volksinitiative – die sofortige Bestellung der FA-35-Kampfflugzeuge und begründete dies mit der zunehmenden Bedrohung durch Russland. Nun werden wir ein überteuertes und lärmiges Angriffsflugzeug haben. Dies ohne Koordination mit den umliegenden und ebenfalls bedrohten Ländern.
- Gerade im Zuge der Nichtumsetzung der Initiative «Kinder ohne Tabak» wird einmal mehr klar, dass das Parlament sich zu weigern kann, Volksinitiativen korrekt umzusetzen. Zwar ist das Gesetz noch nicht fertig beraten, aber die vorberatenden Kommissionen setzen alles daran, dehnbare Formulierungen zu schmieden.
- Im Kanton Schaffhausen haben sich das Parlament und die Regierung offen geweigert, die vom Volk angenommene Initiative zur Offenlegung der Parteispenden umzusetzen. Im Nachhinein wollten sie einen verwässerten Gegenvorschlag vors Volk bringen und gleichzeitig über eine Durchsetzungsinitiative der ursprünglichen Volksinitiative nicht abstimmen lassen. Das Bundesgericht hat inzwischen entschieden, dass auch über Letztere abzustimmen sei.
Wir müssen also auch hierzulande gegenüber der Erosion demokratischer Prozesse wachsam sein – auch wenn sich unsere politische Identität stark auf die Demokratie bezieht und nicht unmittelbar die Gefahr einer Diktatur droht.
1. https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex_(The_Economist)
2. s. auch Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005