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Seit dem 20. Januar sitzt in den USA ein offensichtlicher Narzisst auf dem Thron, der nach dem Motto «Trump First» regiert und sein Land als Spielball für seine Machtspiele missbraucht. Und das in einem Staat, in dem sich 62% der Bevölkerung als Christen bezeichnen. Welche Show läuft hier gerade ab? Und was können wir daraus lernen?

Eigentlich war die US-Bevölkerung nach der ersten Amtszeit von Donald Trump gewarnt, spätestens nach seiner Weigerung, seine Nicht-Wiederwahl zu akzeptieren. Und seine Ankündigungen vor seiner nun gelungenen Wiederwahl hätten eigentlich stutzig machen müssen. Dabei setzt Trump nur das um, was er versprochen hat. Er hat dafür «ausschliesslich Loyalisten um sich geschart, niemand denkt mehr quer oder stellt etwas infrage. Ihr Idol sieht sich selbst von Gott für seine Aufgabe auserwählt. Was soll da noch schiefgehen1

Macht statt Ethik

Der Blick in die Medien zeigt: Da geht aber fast täglich etwas schief. Wer versucht, die politischen Checks und Balances der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative auszutricksen, mag ein guter Spieler sein, er verliert aber früher oder später das Spiel um eine gelebte Demokratie. Und das in einem Land, das mal als Leuchtturm dieser komplizierten, aber menschenfreundlichen Staatsform gegolten hat.

Wer Politik als Befriedigung der eigenen Machtgelüste missbraucht, ist gefährlich. Trumps Wirtschaftspolitik hat laut dem deutsch-amerikanischen Ökonom Rüdiger Bachmann «sadomasochistische Züge»: «Er geniesst die Macht, am Parlament vorbei Zölle erheben zu können und diese Zölle nach persönlichem Gutdünken für bestimmte Firmen und Branchen auch wieder auszusetzen2 .» Und zerstört damit «die moderne, hocharbeitsteilige und international verflochtene Wirtschaft». Die historisch vor allem auch christlich geprägten Menschenrechte gelten als ethische Grundlage der westlichen Welt. Dazu gehört etwa der Schutz des Schwächeren. «Forget it», sagt Trump. Ich bestimme selber, was recht und was unrecht ist, wem geholfen und wer verfolgt oder geschützt werden soll.

«Ihr Idol sieht sich selbst von Gott für seine Aufgabe auserwählt. Was soll da noch schiefgehen?»

Es mag in den USA eine überbordende Bürokratie geben, der eine sorgfältig durchdachte und juristisch korrekt umgesetzte Verschlankungskur guttun würde. Ja, die Demokraten haben mit ihrem Gender-Gugus nach dem Motto «Wer erfindet das nächste Geschlecht?» wohl übertrieben. Auch wer sinnvollerweise von zwei Geschlechtern, Mann und Frau, ausgeht, muss deshalb aber noch lange nicht auf Menschen mit Identitätskrisen losgehen. Laut Thomas Dummermuth (s. Interview unten) war das Genderthema für die Demokraten eigentlich immer ein untergeordnetes Thema, mehr so im Sinn: Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen sich selber sein dürfen. Und: Ja, Abtreibung à gogo geht definitiv nicht. Sie verletzt die Menschenrechte von werdenden Menschen. Vielleicht haben die Demokraten die Bedürfnisse der einfachen Menschen tatsächlich zu wenig ernst genommen. Aber: Genügt das, um einen verfassungsmässig eigentlich gut gegründeten Staat aus den Angeln zu heben?

Es braucht Aufmerksamkeit, seelische Wachheit und geistliche Klarheit

Wir haben dazu den heutigen US-Theologen Thomas Dummermuth befragt. Er ist im Emmental aufgewachsen und ist Pfarrer der Eastridge Presbyterian Church in Lincoln im US-Bundesstaat Nebraska. Seine Leidenschaft gilt dem Gespräch zwischen Kulturen, Konfessionen und Generationen – und dem Versuch, mitten im Umbruch geistlich klar zu bleiben.

Aus unserer europäischen Sicht haben wir den Eindruck, dass Donald Trump derzeit die Demokratie in den USA zerlegt. Wie würdest du die Entwicklungen seit dem 20. Januar aus deiner Wahrnehmung beschreiben?

Vorweg: Ich bin kein Politologe, sondern Theologe, Pfarrer und Seelsorger. Aber ja, «zerlegt» trifft tatsächlich mein eigenes Empfinden. Ich beobachte besonders seit der Wiederwahl Trumps eine zum Teil radikale Infragestellung von Prinzipien, die für Demokratien zentral sind: Gewaltenteilung, Respekt vor unabhängigen Institutionen, ein Mindestmass an Wahrhaftigkeit im politischen Diskurs. Es erschüttert mich, mit welcher Energie die Abrissbirne geschwungen wird. Manchmal erscheint es mir, als würde dieser Staat wie ein marodes Unternehmen übernommen, in Einzelteile zerlegt und weiterverkauft – quasi als Ressource für Spezialinteressen Einzelner.

Dazu kommt die ständige Erzeugung von Krisen – rhetorisch wie real – die zu Erschöpfung führt. Viele Menschen, auch in meinem Umfeld, fühlen sich überfordert, machtlos, abgelenkt. Das erschwert nicht nur politischen Widerstand, sondern trifft uns auch emotional und geistig. Widerstand unter diesen Bedingungen ist nicht nur eine politische, sondern auch eine spirituelle Aufgabe. Es braucht Aufmerksamkeit, seelische Wachheit, geistliche Klarheit.

Für viele war die Wiederwahl Trumps eine Überraschung. War es das auch für dich? Oder müsste man sagen: Die Demokraten haben ihre Niederlage selber verschuldet, weil sie die Anliegen der breiten Bevölkerung zu wenig ernst genommen haben?

Ich war eher ernüchtert als überrascht. Die Dynamiken, die zu Trumps Wiederwahl geführt haben, waren seit Jahren spürbar: Polarisierung, Misstrauen gegen Institutionen, soziale Verunsicherung – nicht zuletzt verstärkt durch die Nachwehen der Pandemie.

Man kann sicher kritisch fragen, ob die Demokraten genügend auf existenzielle Probleme eingegangen sind – etwa Inflation, Abstiegsängste, strukturelle Benachteiligung im ländlichen Raum oder auch die gesellschaftliche Verunsicherung im Zuge zunehmender Migration. Aber das erklärt nicht alles. Entscheidender scheint mir die bewusste Bewirtschaftung von gesellschaftlichen Ressentiments, die durch soziale Medien zusätzlich befeuert wird.

Reale Sorgen wurden nicht gelöst, sondern kulturell umgedeutet: Der gesellschaftliche Mainstream wurde als moralisch verdorben, urban, elitär dargestellt. Daraus entstand ein Kulturkampf-Narrativ: «Wir gegen die anderen.» Die Spaltung wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern aktiv betrieben.

Soziale Medien haben diese Prozesse radikalisiert. Algorithmen begünstigen Empörung, vereinfachen komplexe Realitäten und schaffen Echokammern. Im Ergebnis entsteht eine politische Arena, die eher auf Identität und Affekt reagiert als auf Fakten.

In diesem Sinn sehe ich in der Wiederwahl Trumps keinen Betriebsunfall, sondern den Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen Risses, der weit über Parteipolitik hinausgeht.

Offensichtlich wurde Trump auch von evangelikalen Christen, welche die Bibel ernst nehmen wollen, breit unterstützt. Wie kann es sein, dass sie einem selbstverliebten notorischen Lügner und Verächter der Menschenrechte mit ihren Stimmen zum Durchbruch verholfen haben?

Diese Frage beschäftigt mich sehr. Meiner Meinung nach hat vieles mit dem bereits erwähnten Kulturkampf-Narrativ zu tun. Viele Evangelikale haben in den letzten Jahren miterlebt, wie ihre kulturelle Deutungshoheit schwindet. Das erzeugt Angst, Empörung – und die Sehnsucht nach einem starken Führer.

Begriffe wie «Religionsfreiheit» werden dabei oft als Schlagworte gebraucht – gemeint ist aber häufig nicht die Freiheit aller Religionen, sondern die Verteidigung christlicher Privilegien. Ebenso wird «Lebensschutz» oft verkürzt auf die Abtreibungsfrage, ohne soziale Fragen, Armut oder Waffengewalt mitzudenken.

Trump hat es verstanden, diese Themen politisch zu instrumentalisieren und sich als Bollwerk gegen gesellschaftliche Liberalisierung zu inszenieren. Viele haben das als «Schutz des Glaubens» verstanden – nicht trotz, sondern gerade wegen seines rücksichtslosen Auftretens.

Er präsentiert sich also als Kämpfer für bedrängte Christinnen und Christen. Und gerade darin liegt die bittere Ironie: Seine Trump-Politik schadet vielen davon. Zum Beispiel Geflüchteten, die vor religiöser Verfolgung geflohen sind und als «Schmarotzer» verunglimpft werden. Oder kirchlichen Hilfswerken, die sich für diese Menschen einsetzen und unter Generalverdacht gestellt werden – als wären sie Betrugssysteme oder Verschwendungsapparate. Ein Schlag ins Gesicht all jener, die ihren Glauben durch solidarisches Handeln leben.

Um diese Diskrepanz zu erklären, wird oft auf den Perserkönig Kyros verwiesen: ein «Werkzeug Gottes» trotz unheiligem Lebenswandel. Die Historikerin Kristin Kobes Du Mez hat darüber viel geforscht. In ihrem Buch «Jesus and John Wayne» zeigt sie schlüssig auf, wie sich in evangelikalen Kreisen ein Jesusbild durchgesetzt hat, das an amerikanische Männlichkeitsmythen angelehnt ist: durchsetzungsstark, militärisch, «männlich». Dieses Bild passt erschreckend gut zu Trump.

Ich habe aber noch eine andere Theorie. Ich frage mich, ob die Theologie vieler Evangelikaler Jesus fast ausschliesslich auf seinen erlösenden Sühnetod und damit verbunden den Glauben auf ein rein individuelles Heil reduziert hat. Anders ausgedrückt: Die Lebenspraxis Jesu – seine Feindesliebe, seine Zuwendung zu Ausgegrenzten, seine Kritik an religiösem Machtmissbrauch – tritt in den Hintergrund.

In den USA gibt es auch linksevangelikale Kräfte wie etwa die Sojourners. Warum hört man so wenig von ihnen?

Diese Bewegungen gibt es durchaus – nicht nur die Sojourners, sondern auch Red Letter Christians, Faith in Public Life, The Poor People’s Campaign und viele andere. Sie engagieren sich für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Antirassismus und Friedensethik. Aber sie sind im öffentlichen Diskurs weniger sichtbar.

Das hat mehrere Gründe: Erstens setzen sie nicht auf Empörung, sondern auf Dialog und Gemeinwesenarbeit. Das ist weniger «medientauglich». Zweitens fehlt ihnen oft die mediale Infrastruktur: Sie haben keine eigenen TV-Sender und sind in Mega-Churches oder politischen Thinktanks wenig vertreten. Drittens haben sich viele progressive Christinnen und Christen in den letzten Jahrzehnten aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen – aus Abgrenzung zum politisch missbrauchten Glauben.

Ich finde, es ist an der Zeit, dass auch im deutschsprachigen Raum deutlicher wird: Glaube und gesellschaftliche Verantwortung schliessen einander nicht aus. Im Gegenteil: Sie finden in der Nachfolge Jesu eine gemeinsame Quelle.

Was müsste getan werden, damit Trump gestoppt werden kann?

Zunächst: Es gibt keinen simplen Hebel, keinen einzelnen Ausweg. Der Weg aus der gegenwärtigen Gefahr, dass die Vereinigten Staaten vollends in einen autoritären Modus kippen, ist lang. Um ihn zu gehen, braucht es die ganze Zivilgesellschaft. Dazu gehören gewaltfreie Proteste, die Teilnahme an Town Halls3 , das Gespräch mit Nachbarn und das Kontaktieren von gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten. Demokratie lebt vom Mitmachen – oder sie wird ausgehöhlt.

Gleichzeitig sehe ich die Gefahr, dass der Widerstand, wenn er aus Angst oder Empörung gespeist ist, selbst in einen Modus der Verhärtung kippt. Und dass wir die Fähigkeit verlieren, zuzuhören. Dass wir uns selbstgerecht auf die «richtige Seite» schlagen und damit am Ende genau das reproduzieren, was wir eigentlich bekämpfen wollen.

Gerade deshalb ist der spirituelle Aspekt für mich unverzichtbar. Unsere Aufmerksamkeit ist unser kostbarstes Gut: sie muss gepflegt, geschützt und immer wieder neu ausgerichtet werden. Nicht auf den nächsten Skandal, nicht auf die nächste Panikwelle, sondern auf das, was trägt: Würde. Wahrheit. Mitgefühl.

Resilienz ist keine private Leistung – sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Ich erlebe das ganz konkret in einem kirchlichen Netzwerk hier vor Ort, dem 24 Gemeinden angehören. Jedes Jahr führen wir sogenannte Listening Sessions durch – Gesprächsabende, bei denen gefragt wird: «Was hält dich nachts wach?» Aus diesen Erzählungen entstehen Themen, gemeinsames Engagement, neue Netzwerke. Das mag klein wirken. Aber ich glaube: Veränderung beginnt genau dort. Wenn Menschen sich gegenseitig ernst nehmen, sich organisieren, ihre Aufmerksamkeit bündeln und ihre Kraft teilen.

Trump kann – und muss – politisch gestoppt werden. Aber es braucht mehr als juristische Verfahren oder Wahlstrategien. Es braucht eine Kultur, die sich nicht von Angst und Zynismus bestimmen lässt. Und es braucht eine erneuerte Vorstellungskraft von dem, was möglich ist, wenn Menschen sich nicht im Misstrauen verlieren, sondern füreinander einstehen. Von Gemeinschaften, die einander tragen. Von einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit nicht abstrakt bleibt, sondern im Alltag erfahrbar wird.

Diese Hoffnung ist kein naiver Optimismus. Sie ist eine Entscheidung – gespeist aus Glaube, Erinnerung, Begegnung. Und sie beginnt dort, wo Menschen zusammenkommen, zuhören und sich nicht voneinander trennen lassen.


1. Christof Münger in «Der Bund» vom 26. März

2. «Der Bund», 24. März

3. Die Town Hall basiert auf dem politischen Verständnis der US-Demokratie, wonach (zumindest theoretisch!) Amtsträger nicht ihre eigene Meinung repräsentieren sollen, sondern die der Bürgerinnen und Bürger, die sie vertreten. Insofern spielen die Town Halls (wie auch Briefe und Anrufe an Abgeordnete) eine wichtige Rolle.  Ein «Town Hall Meeting» ist ein ein öffentliches Treffen, bei dem Politikerinnen und Politiker mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen. Ziel ist es, Fragen zu beantworten, Sorgen anzuhören und über aktuelle Themen zu sprechen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Insist.

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Wenn wir uns in den nächsten vier Jahren nützlich machen wollen, müssen wir der Versuchung widerstehen, in Angst, Isolation, Erschöpfung und ständiger Orientierungslosigkeit zu verharren. Als ich den Aufstieg des Rechtspopulismus weltweit wahrnahm, begann ich, Szenarien zu planen und darüber zu schreiben, was passieren könnte, wenn Donald Trump gewinnt.

Ich spielte Strategien durch, wie die Menschen sinnvoll reagieren könnten. Doch als Trump gewann, war ich immer noch tief schockiert und traurig. In den Tagen danach wandte ich mich an meine Gemeinschaft, um zu versuchen, die Lage einzuschätzen und wieder Boden unter die Füsse zu bekommen.

Es ist schwierig, den Boden unter den Füssen zu behalten, wenn die Zukunft unbekannt und voller Ängste ist. Trump hat angedeutet, was für ein Präsident er sein wird: rachsüchtig, unkontrolliert und unbelastet von den Normen der Vergangenheit und den geltenden Gesetzen. Wenn du wie ich sind, sind du bereits müde. Die Aussicht auf noch mehr Drama ist entmutigend.

Als Trainer für Gewaltfreiheit, die mit sozialen Bewegungen auf der ganzen Welt zusammenarbeitet, habe ich das Glück, mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, die unter autokratischen Regimen leben, um widerstandsfähige Aktivistengruppen aufzubauen. Meine Kollegen erinnern mich immer wieder daran, dass gute Psychologie guten sozialen Wandel bedeutet. Wenn wir in einer Welt unter Trump von Nutzen sein wollen, müssen wir auf unsere innere Verfassung achten, damit wir die Ziele der Autokraten – Angst, Isolation, Erschöpfung und ständige Orientierungslosigkeit – nicht unterstützen.

In diesem Sinne biete ich einige Möglichkeiten an, um uns für die kommenden Zeiten zu erden.

1. Vertraue dir selbst

Trump kommt in einer Zeit des grossen gesellschaftlichen Misstrauens: Das Misstrauen gegenüber den Medien, medizinischen Fachleuten, Experten, Politikern, Gemeinschaftseinrichtungen und Mitgliedergruppen ist gewachsen. Es gibt Risse im Freundes- und Familienkreis. Sogar unser Vertrauen in vorhersehbares Wetter ist geschwunden. Misstrauen schürt die Flamme der Autokratie, denn es macht es leichter, Menschen zu spalten.

Der Aufbau von Vertrauen beginnt damit, dass man seinen eigenen Augen und seinem Bauchgefühl traut. Das bedeutet, vertrauenswürdig zu sein – nicht nur mit Informationen, sondern auch mit Gefühlen. Wenn du müde bist, ruhe dich aus. Wenn du Angst hast, schliesse Frieden mit deinen Ängsten. Wenn du aufhören willst, zwanghaft auf dein Handy zu schauen, tu’ es. Wenn du diesen Artikel jetzt nicht lesen willst und lieber einen schönen Spaziergang machen möchtest, tu’ es. Beginne damit, deiner inneren Stimme zu vertrauen. Vertrauen in sich selbst ist die Grundlage für ein gesundes Bewegungsleben. Auf FindingSteadyGround.com habe ich einige Ressourcen zusammengestellt, die du vielleicht hilfreich findest.

2. Finde andere, denen du vertraust

In einer destabilisierten Gesellschaft brauchst du Menschen, die dir Halt geben. Hannah Arendt, Autorin von «The Origins of Totalitarianism», verwendet das Wort Verlassenheit – oft mit Einsamkeit übersetzt – um eine Art soziale Isolation des Geistes zu beschreiben. Die ständigen Angriffe auf die sozialen Systeme führen dazu, dass wir uns nicht mehr aneinander anlehnen, sondern ideologisch einfache Antworten suchen, die die Isolation verstärken.

Im Chile der 1970er und 80er Jahre war die Diktatur bestrebt, die Menschen in so winzigen Knotenpunkten des Vertrauens zu halten, dass jeder eine Insel für sich war. Auf Partys stellten sich die Leute in der Regel nicht mit Namen vor, aus Angst, zu sehr involviert zu werden. Furcht erzeugt Distanz. Wir müssen diese Distanz bewusst überwinden.

Finde Menschen, mit denen du regelmässig in Kontakt treten kannst. Nutze dieses Vertrauen, um dein eigenes Denken zu erforschen und euch gegenseitig zu unterstützen, damit du auf dem Boden der Tatsachen bleibst. In den letzten Monaten habe ich regelmässig eine Gruppe bei mir zu Hause eingeladen, um zu erkunden, was in diesen Zeiten los ist. Unsere Gruppe denkt unterschiedlich, investiert aber in das Vertrauen. Wir bewegen uns, weinen, singen, lachen, sitzen in der Stille und denken zusammen. Wir alle werden von aktiv organisierten Knotenpunkten profitieren, die uns helfen, uns zu stabilisieren.

3. Gib der Trauer Raum

Menschlich ist, um einen Verlust zu trauern. Wir Menschen sind auch gut darin, uns abzuschotten, zu rationalisieren, zu intellektualisieren und zu ignorieren – der Schaden, den dies unserem Körper und unserer Psyche zufügt, ist gut dokumentiert. Aber die Unfähigkeit zu trauern ist ein strategischer Fehler. Nach dem Sieg von Trump im Jahr 2016 haben wir Kollegen gesehen, die nie getrauert haben. Sie standen weiterhin unter Schock. Jahrelang sagten sie immer wieder: «Ich kann nicht glauben, dass er das tut.»

Als Trump das erste Mal gewann, blieb ich mit einer Kollegin bis 4 Uhr morgens auf, um in einer tränenreichen Nacht die Dinge zu benennen, die wir verloren hatten. Das half uns, die Traurigkeit, die Wut, die Betäubung, den Schock, die Verwirrung und die Angst in uns zu finden. Wir trauerten. Wir weinten. Wir hielten uns gegenseitig. Wir haben geatmet. Wir tauchten wieder ein, um zu benennen, was wir verloren hatten und was wir wahrscheinlich noch verlieren würden. Es ging nicht darum, Strategien zu entwickeln oder zu planen. Letztendlich half uns das, daran zu glauben – so dass wir nicht jahrelang wie benommen sagten: «Ich kann nicht glauben, dass das in diesem Land passiert.» Glauben Du es. Glauben Du es jetzt. Trauer ist ein Weg zur Akzeptanz.

4. Lass das los, was du nicht ändern kannst

An der Wand ihres Schlafzimmers hatte meine Mutter eine Kopie des Gelassenheitsgebets: «Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.» Der Theologe Reinhold Niebuhr schrieb es während des Aufstiegs von Nazi-Deutschland.

Trump hat verkündet, dass sein erster Tag alles beinhalten wird, von der Begnadigung der Aufständischen vom 6. Januar über die Umwidmung von Geldern für den Bau der Mauer bis hin zum Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und der Entlassung von mehr als 50’000 Regierungsangestellten, um sie durch loyale Mitarbeiter zu ersetzen. Es ist zweifelhaft, dass der zweite Tag viel ruhiger sein wird. Inmitten dieses Chaos’ wird es schwer zu akzeptieren sein, dass wir nicht alles schaffen können.

Ein Kollege in der Türkei sagte mir, dass jeden Tag etwas Schlimmes passiert, und wenn er auf alles reagieren würde, hätte er keine Zeit mehr zum Essen. Ein anderes Mal sah eine ältere Person, wie ich versuchte, alles auf einmal zu tun, und nahm mich zur Seite. «Das ist keine gesunde Strategie für das ganze Leben», sagte sie. Sie war in Deutschland von Holocaust-Überlebenden aufgezogen worden, die ihr sagten: «Nie wieder.» Sie hatte das Gefühl, jedes Unrecht verhindern zu müssen. Das quälte sie und trug zu mehreren längeren Krankheiten bei.

Ich habe eine Übung fürs Tagebuchschreiben entwickelt. Darin werde ich gefragt, für welche Themen ich mich in den kommenden Jahren «voll und ganz einsetzen, viel tun, wenig tun oder – obwohl sie mir am Herzen liegen – gar nichts tun würde». Die letzte Frage kann sich für viele von uns wie eine Folter anfühlen, aber der Wunsch, alles zu tun, führt zu einer schlechten Strategie.

5. Finde deinen Weg

Letzten Frühling habe ich das Buch «What Will You Do if Trump Wins» geschrieben, ein Buch im Stil eines Selbstfindungsabenteuers. Es werden sich verschiedene Wege des Widerstands abzeichnen, und es wird viele Möglichkeiten geben, sich der Sache anzuschliessen. Vielleicht fühlst du dich von einigen Wegen mehr angezogen als von anderen. Vielleicht ist dein Weg im Moment noch nicht klar. Das ist in Ordnung. Im Folgenden sind nur einige Beispiele aufgeführt. Weitere findest du unter WhatIfTrumpWins.org.

Schutz anbieten. Menschen bieten anderen Schutz an, vor allem solchen, die bedroht sind. Das könnte bedeuten, dass wir uns ausserhalb der bestehenden Systeme für die Gesundheitsversorgung engagieren und uns gegenseitige Hilfe organisieren oder Ressourcen Gemeinschaften zukommen lassen, die ins Visier geraten sind.

Zivilgesellschaftliche Institutionen verteidigen. Diese Gruppe mag sich bewusst sein oder auch nicht, dass die derzeitigen Institutionen nicht allen von uns dienen, aber sie sind sich einig, dass Trump sie zerstören will, damit er mehr Kontrolle über unser Leben ausüben kann. Die leitenden Personen in diesen Institutionen wissen, dass eine Präsidentschaft von Trump für diese eine grosse Bedrohung darstellt. Diese Insider brauchen Unterstützung von aussen, z. B. Mitgefühl dafür, dass einige unserer besten Verbündeten drinnen sind und stillen Widerstand leisten. Feiere Menschen, die gefeuert werden, weil sie das Richtige tun, und biete ihnen dann praktische Hilfe für die nächsten Schritte im Leben an.

Unterbrechen und nicht gehorchen. Um während des Zweiten Weltkriegs eine Kultur des Widerstands zu schaffen, trugen die Menschen in Norwegen harmlose Büroklammern als Zeichen dafür, dass sie nicht gehorchen würden. In Serbien begannen die Proteste gegen den Diktator mit Studentenstreiks, bevor sie zu Streiks von Rentnern und schliesslich zu dem bahnbrechenden Streik der Bergarbeiter eskalierten. Letztlich geht es darum, den Weg für eine massenhafte Verweigerung der Zusammenarbeit zu ebnen: Steuerverweigerung, landesweite Streiks, Arbeitsniederlegungen und andere gewaltfreie Taktiken des massenhaften Ungehorsams sind die wirksamsten Strategien, um autoritäre Kräfte zu verdrängen.

Alternativen aufbauen. Wir können nicht nur reagieren. Wir brauchen eine Vision, um Alternativen aufzubauen, die demokratischer, liebevoller und freundlicher sind. Dies könnte Erdungs- und Heilungsarbeit, reichhaltige Kulturarbeit, andere Formen des Nahrungsmittelanbaus und der Kinderbetreuung, partizipative Haushaltsführung oder die Einberufung von Versammlungen umfassen, um eine mehrheitsfähige Alternative zu dem Schlamassel unseres aktuellen Wahlsystems mit den Wahlmännern aufzubauen.

6. Gehorche nicht im Vornherein; zensiere dich nicht selbst

Wenn uns die Autokraten eine wertvolle Lektion erteilen, dann ist es diese: Politischen Raum, den man nicht nutzt, verliert man. Dies gilt für alle Ebenen der Gesellschaft – für Anwälte, die gemeinnützige Organisationen beraten, für Führungskräfte, die um ihre Finanzierungsbasis besorgt sind, und für Leute, die Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Damit rate ich dir nicht, dich keinesfalls selbst zu schützen. Du kannst selbst entscheiden, wann du deine Meinung äusserst. Aber wir müssen die Gefahr bekämpfen, zu früh aufzugeben. In Timothy Snyders hilfreichem Buch und seiner Videoreihe «On Tyranny» nennt er das Abtreten von Macht als erstes Problem: «Der grösste Teil der Macht des Autoritarismus wird freiwillig abgegeben. … Der Einzelne denkt im Voraus darüber nach, was eine repressivere Regierung wollen wird, und bietet sich dann ungefragt an. Ein Bürger, der sich auf diese Weise anpasst, zeigt der Macht, welche Grenzen sie überschreiten kann.»

Einfach ausgedrückt: Nutze den politischen Raum und die Stimme, die du hast.

7. Richte deine politische Landkarte neu aus

Vor ein paar Monaten sass ich in einem Raum mit pensionierten Generälen, Republikanern wie Michael Steele, ehemaligen Gouverneuren und Kongressabgeordneten. Wir planten Szenarien, wie wir Trumps Missbrauch des Insurrection Act zur Bekämpfung ziviler Demonstranten verhindern könnten. Für einen engagierten Antikriegsaktivisten beschreibt der Ausdruck «seltsame Bettgenossen» nicht annähernd die bizarre Erfahrung, die ich machte.

Eine Trump-Präsidentschaft verändert Ausrichtungen und Möglichkeiten. Es kommt darauf an, wie wir uns positionieren: Sind wir nur daran interessiert, ideologische Reinheit zu bewahren und zu unserem eigenen Chor zu predigen? Selbst wenn Du sich nicht engagieren wollen, müssen wir alle denjenigen Raum geben, die mit einer neuen Sprache experimentieren, um andere anzusprechen, die unsere Weltanschauung nicht teilen.

Einfühlungsvermögen wird hilfreich sein: Am Ende dieses Planungstages sah ich viel Schmerz bei Menschen mit grosser Macht, die eine Art Niederlage eingestehen mussten. Die Generäle sagten: «Das Militär kann Trump nicht davon abhalten, diese Befehle zu erteilen.» Die Politiker sagten: «Der Kongress kann es nicht verhindern.» Die Anwälte sagten: «Wir können es nicht verhindern.» Ich empfand Mitgefühl, das mich überraschte. Nur die linken Aktivisten sagten: «Wir haben einen Ansatz der massenhaften Nichtkooperation, der dies stoppen kann. Aber wir brauchen Ihre Hilfe.» Ich bin mir nicht sicher, ob diese projizierte Zuversicht gut ankam. Aber wenn wir diesen Ansatz umsetzen wollen (und ich bin mir keineswegs sicher, dass wir das können), müssen wir pragmatisch mit der Macht umgehen.

8. Schätze seine Macht realistisch ein

Die psychologische Erschöpfung und Verzweiflung sind gross. Wir werden Trump nicht davon überzeugen, keine Normen und Gesetze zu brechen, die ihm im Weg stehen. Märsche und symbolische Proteste werden ihn nicht umstimmen. Wir müssen erkennen, dass seine Macht instabil ist, wie ein auf dem Kopf stehendes Dreieck. Ohne Unterstützung kippt sie um. Die Macht stützt sich auf Säulen, die sie aufrecht halten. Der Stratege der Gewaltlosigkeit «Gene Sharp» beschrieb diese Säulen wie folgt:

„Allein können Herrscher keine Steuern eintreiben, repressive Gesetze und Vorschriften durchsetzen, Züge pünktlich fahren lassen, Staatshaushalte aufstellen, den Verkehr leiten, Häfen verwalten, Geld drucken, Strassen reparieren, die Märkte mit Lebensmitteln versorgen, Stahl herstellen, Raketen bauen, die Polizei und die Armee ausbilden, Briefmarken herausgeben oder auch nur eine Kuh melken. … Wenn die Menschen diese Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung stellen würden, könnte der Herrscher nicht mehr regieren.»

Die Beseitigung eines Stützpfeilers kann zu grossen, lebensrettenden Zugeständnissen führen. Die Beseitigung vieler Säulen wird zu einem systemweiten Wandel führen. Der katholische Aktivist Dick Taylor beschrieb, wie er und eine kleine Gruppe die Aussenpolitik der USA veränderten, indem sie Waffenlieferungen zur Unterstützung des pakistanischen Diktators Yahya Khan blockierten. Sie schickten wiederholt Kanus aus, um Militärlieferungen zu blockieren, die die Häfen der Ostküste verliessen, bis die «International Longshoremen’s Association» überzeugt werden konnte, sich zu weigern, sie zu verladen. Dies brach der nationalen Politik das Genick.

9. Blicke der Angst ins Gesicht

OTPOR, eine serbische Studentenorganisation, reagierte sarkastisch auf die regelmässigen Schläge der Polizei und scherzte: «Es tut nur weh, wenn man Angst hat.» Ihre Haltung war nicht leichtsinnig – sie war taktisch. Sie weigerten sich, Angst zu entwickeln. Als an einem einzigen Tag Hunderte von Menschen verprügelt wurden, war ihre Reaktion: Diese Unterdrückung wird den Widerstand nur noch verstärken. Beim Umgang mit der Angst geht es nicht darum, sie zu unterdrücken – es geht darum, sie neu zu lenken.

Der Aktivist und Intellektuelle Hardy Merriman veröffentlichte eine Studie über politische Gewalt, die mich überraschte: Physische politische Gewalt ist in den USA nach wie vor relativ selten, Gewaltandrohungen nehmen jedoch zu. CNN berichtete: «Politisch motivierte Drohungen gegen Amtsträger haben während Trumps Präsidentschaft um 178 Prozent zugenommen», vor allem von der Rechten. Er stellte fest, dass die Einschüchterung eine Schlüsselkomponente politischer Gewalt ist. Wir können uns in eine Kakophonie des «Das ist nicht fair» zurückziehen, was die Angst vor Unterdrückung schürt. Oder wir können uns ein Beispiel an dem grossen Bewegungsstrategen Bayard Rustin nehmen: Während des Busboykotts in den 1950er Jahren wurden schwarze Bürgerrechtsführer von der Regierung in Montgomery, Alabama, ins Visier genommen. Einige von ihnen wie Martin Luther King Jr. tauchten damals unter, um sich vor einer Verhaftung zu schützen. Andere taten auf Initiative von Rustin das Gegenteil: Sie gingen zum Polizeiposten und verlangten, verhaftet zu werden, da sie Anführer der Bürgerrechtsbewegung seien. Die Betroffenen hielten ihre Verhaftungspapiere inmitten einer jubelnden Menge hoch in die Luft und machten die Unterdrückung auf positive Art offensichtlich. Aus Angst wurde Tapferkeit.

10. Stelle dir eine positive Zukunft vor

Wir alle haben uns ausgemalt, wie schlimm es werden könnte. Wir würden uns selbst einen Gefallen tun, wenn wir uns eine positive Zukunft vorstellen würden. Wie die Schriftstellerin Walidah Imarisha sagt: «Das Ziel der visionären Fiktion ist es, die Welt zu verändern». Wir könnten eine gerechte Empörung hervorrufen, die zu einer massenhaften Nichtkooperation führt, die unsere Erwartungen weit übersteigt. Glaubensgemeinschaften könnten eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, moralisch aufgeladene Streiks, Steuerverweigerung und die Weigerung, ungerechte Befehle zu befolgen, anzuführen. Aufgedeckte politische Schwächen könnten viele innerhalb von Trumps Organisation schnell gegen ihn aufbringen. Das scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Aber die Möglichkeiten bleiben.

Wenn ich mich darin übe, in die Zukunft zu denken, habe ich Hoffnung und ein gewisses strategisches Gespür. An den Tagen, an denen ich mir keine guten politischen Möglichkeiten vorstellen kann, zoome ich auf die Lebensspanne von Bäumen und Felsen, um mich daran zu erinnern, dass nichts ewig währt. Die ganze Zukunft ist ungewiss. Aber eine hoffnungsvollere Zukunft ist wahrscheinlicher, wenn wir weiterhin an kreative Lösungen arbeiten.

Dieser Artikel wurde mit Genehmigung von wagingnonviolence.org in der verkürzten Form auf der Website der Sojourners übernommen, auf Deutsch übersetzt und leicht bearbeitet.

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Verunsicherung prägt unsere Zeit: Krisen, Unwägbarkeiten und Überforderung lassen uns oft ratlos zurück. Doch schon die biblischen Propheten mahnten, solche Momente als Aufruf zum Umdenken und Vertrauen auf Gottes Heilshandeln zu nutzen. Denn der Glaube bietet Halt und eine Perspektive, die über das Zeitliche und Sichtbare hinausgeht.

«Sind wir sicher?» So titelt der «Spiegel» seine Ausgabe 49/2024 auf knallrotem Untergrund zum 2. Advent.

Ja, die Verunsicherung in letzter Zeit liess den Zürcher Tagesanzeiger (TA 19.11.2024) die Fachpsychologin Sabina Pedroli fragen: «Was kann man tun, wenn man die Weltlage nicht mehr aushält?» Und sie antwortet: «Das Gefühl globaler Unsicherheit und Ungewissheit ist eine Folge nicht beeinflussbarer Stressoren. Unser Gehirn ist aber nicht dafür geschaffen, das ganze Leid dieser Welt in Echtzeit wahrzunehmen und zu verarbeiten.»

Wir stecken offensichtlich in einem unauflösbaren Dilemma fest: Wir können uns nicht mehr gegen diese Verunsicherung versichern. Uns, die wir gegen alle möglichen Schadensfälle versichert sind, verunsichert das zutiefst.

Es geschieht nichts Neues unter der Sonne (Prediger 1,9-10)

Seit Beginn der Menschheitsgeschichte waren die Lebensbedingungen auf unserer Erde «jenseits von Eden» nie sicher. Bedrohungen und Gefahren durch Natur und Mensch erfahren alle Völker und Kulturen bis heute. Quelle der Verunsicherung und Angst ist die Fragilität und Vergänglichkeit allen Lebens. Die gesamte Kreatur stöhnt und ächzt unter diesem Verdikt. Wir Menschen nehmen das als einzige Wesen bewusst wahr. Wir leiden mit Leib, Seele und Geist an dem Gefühl, Schicksal spielenden Mächten und Gewalten unberechenbar ausgeliefert zu sein. Wir sind verunsichert, weil es kein Denksystem, kein Naturgesetz, keine Gesetzmässigkeit und keine Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt, an denen sich ablesen liesse, wen es wann und wo und wie trifft.

Diese Unberechenbarkeit und Zufälligkeit, ja dieser Kontrollverlust machen oft ratlos. Wenn ein Unfall, der Tod oder sonst ein Schicksal in junge Familien einschlägt, verstört das zutiefst. Warum sterben wir eigentlich nicht altersgerecht schön der Reihe nach?

Keine Antwort, dafür bleierne Unsicherheit. Gegen viele Risiken können wir uns versichern, um den Fall ins Bodenlose wenigstens materiell abzufangen. Aber die Gefühle der Unsicherheit, Verlustangst und Zukunftssorge – sie bleiben.

Die nachmoderne Verunsicherung – doch etwas Neues?

Aktuell steigert sich unsere verunsicherte, verstörte und ängstlich sich sorgende Gesellschaft immer mehr in den Modus der Empörung und Aggression hinein. In diesem Modus kann Demokratie nicht mehr funktionieren. Emotionen ersetzen Argumente. Immer öfter wird ein undifferenzierter Widerstand provokant gegen «das politische System» in Szene gesetzt, das angeblich «an allem» schuld sei.

Ja, es stimmt: Wir haben eine Energiekrise, eine Klimakrise, eine Schuldenkrise und über 50 kriegerische Auseinandersetzungen. Die Hiobsbotschaften führen zu einem kollektiven Verlust an Lebensqualität. Dank medialer Vernetzung erleben wir in Echtzeit mit, was unser Gehirn nicht mehr packt! Deshalb haben wir nun auch noch eine Demokratiekrise!

Die unterschiedlichen Gründe all dieser Krisen zeugen von einer Störung des Menschen im Umgang mit sich, mit anderen und mit seiner Umwelt. Diese Störung ist nicht neu. Im AT lesen wir von Propheten, die unablässig verkehrte, gott-lose Lebensprinzipien aufgedeckt, gebrandmarkt und deren unausweichliche Negativfolgen angekündigt haben: Eine Gesellschaft würde zerfallen und sich schaden, wenn sie in ihrer masslosen Hab-, Geld- und Machtgier Ungerechtigkeit, Korruption und Ausbeutung toleriert, pseudoreligiös legalisiert und juristisch reinwäscht. Und wenn sich dann im Kulturverfall Verunsicherung, Angst und Furcht einstellen, seien das die logischen Folgen eigener Schuld. Die Propheten (z. B. Jesaja 2–3) deuten diese Schreckensmomente sogar als Gericht Gottes. Es soll verunsichern, um dadurch ein Aufwachen und Umdenken zu provozieren!

Das unauflösbare Dilemma der Nachmoderne

Seit Jahren lese ich im Buch «Apokalypse jetzt. Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit». Der Theologe, Philosoph und Journalist Gregor Taxacher bedauert angesichts «himmelschreiender Sünden der Ungerechtigkeiten» den Mangel an Propheten zutiefst und will die Kirchen zu einem «geistes-gegenwärtigen prophetischen Einsatz» motivieren (Kap. 5). Er reflektiert den katastrophalen Zustand unserer Welt im Horizont biblischer Prophetie und Eschatologie und postuliert: Die Gegenwart – inzwischen als Anthropozän und «permanente Endzeit» etikettiert – braucht dringend eine vertiefte theologische Qualifikation.

Immerhin weisen seit fünf Jahrzehnten unzählige Fachleute verschiedenster Wissenschaften hin auf die Fortschrittslüge «Wachstum bringt Wohlstand», auf die Grenzen des Wachstums und auf die Notwendigkeit, das bisherige Wachstum zu begrenzen. Sie charakterisieren die Neuzeit als «permanente Endzeit» mit apokalyptischem Charakter. Das meinen sie nicht nur prognostisch, sondern wirklich grundsätzlich unumkehrbar, weil niemand weiss, wie eine tiefgreifende Abkehr vom Wachstumswahn der Moderne geschehen kann!

Deshalb fragen sich viele resigniert: Lohnt sich überhaupt noch der Einsatz für eine lebenswerte Zukunft? Wenn z. B. trotz aller ökologischer und soziologischer Verwerfungen Konferenzergebnisse oft nur halbherzig zu Absichtserklärungen weichgespült und in der Umsetzung abgeschwächt werden? Der Mensch erweist sich mit seiner ungebremst wachsenden Konsumlust als grösster Risikofaktor!

Prophetische Klarheit statt banal-fromme Hoffnungseuphorie

Die Skepsis nimmt rasant zu. Im Blick auf die Zukunft wanken jetzt nicht nur alle irdischen Hoffnungen, auch die christliche Hoffnung steht auf dem Prüfstand. Zu Recht, wenn man nur Sätze wie «Gott ist gut und deshalb wird schon alles wieder gut» zu hören bekommt. Solche banal-zynisch fromme Euphorie ist tatsächlich schädliches «Opium für das Volk».

Es stellt sich vielmehr unerbittlich die Frage: Gibt es überhaupt noch Hoffnung, wenn alle Sicherheiten brechen, Grenzwerte überschritten sind und unser Globus schon gefährlich taumelt? Ist inzwischen jede Hoffnung illusionär, utopisch und realitätsfremd?

Die Erfahrungen des 20. und bisherigen 21. Jahrhunderts belegen unmissverständlich: Der Fortschrittsglaube der Aufklärung kann keine Hoffnung mehr geben. Sich ohne Gott allein auf die menschliche Vernunft zu verlassen, hat sich nicht bewährt.

Der Zauberlehrling hat recht, den J. W. von Goethe in entsetzlich steigender Wasserflut zum von ihm ignorierten Meister rufen lässt: «Herr, die Not ist gross. Die ICH rief, die Geister, werde ICH nun nicht mehr los!»

Jahrzehnte später lässt F. W. Nietzsche den «Tollen Menschen» in bestürzend prophetischer Klarheit sagen, was den Menschen übrigbleibt, nachdem sie Gott getötet und den Horizont weggewischt haben: «Ist nicht die Grösse dieser Tat zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden?»

Wenn der Horizont der Ewigkeit weggewischt ist, entwirft diese Autonomie ohne Gott inhumane Ideologien. Die Überforderung, Gott zu spielen, vernichtet dann jegliche Verantwortung. Der Holocaust und die ersten Atombomben markieren den Beginn einer nachmodernen Verunsicherung: Der Vernunft entgleitet die Kontrolle über das von ihr Gewollte und Erreichte.

Insofern ist unsere Verunsicherung in sich paradox: Wissenschaftlich-technologisch wurde ein Standard erreicht, der beeindruckt und von dem wir alle gerne profitieren. Jetzt lässt uns die Digitalisierung zur globalen Familie werden, wir bereiten Mond- und Marsbesiedelungen vor und mit Künstlicher Intelligenz erreichen wir neue Horizonte – doch wozu denn eigentlich? Wozu, wenn wir zeitgleich die Welt so zurichten, dass sie einem sozial-ökonomischen und ökologischen Kollaps entgegenwankt? Und zeitgleich nehmen Ratlosigkeit, Überforderung, Ohnmacht und Wut zu. Eine globale Verantwortungsgemeinschaft ist nicht in Sicht!

Jetzt muss die biblische Theologie der Hoffnung (Eschatologie) in prophetischer Klarheit wieder neu sagen, was sie immer schon gesagt hat: GOTT markiert in Jesus Christus den Widerspruch gegen die Sünde des Menschen und den Tod. Eine umfassende Heilszukunft hat begonnen. Seine Liebe ist die neue Kraft, die alle Masslosigkeit vernichtet und Heil schafft.

Gerade die Kirchen könnten so die allgemeine, globale und regionale sowie die persönlich-private Verunsicherung seelsorgerlich begleiten und unsere Zeit eschatologisch einordnen.

Verunsicherung betrifft uns alle

Die Welt ist zerbrechlich, die Schöpfung leidet und der Mensch ist oft des Menschen Wolf. Die Bibel redet das nicht schön.

Viele Psalmen und persönliche Bekenntnisse alttestamentlicher Propheten schildern die Achterbahn der Gefühle und Empfindungen, den grübelnden Zweifel und die deprimierende Hoffnungslosigkeit, die Anfechtungen von innen und aussen sowie das Ausgeliefertsein an schlimme Umstände und traurige Zustände.

Auch Jesus hat dieses Verunsichert- und Getrennt-Sein von Gott als Passion erlebt. Mühsal und Trübsal sind bittere Realitäten menschlicher Existenz. Sie begleiten auch die Jesus nachfolgenden Kirchen und Gemeinden zunehmend in einer Weltgeschichte, die trotz weltweiter Evangelisation, Mission und Ausdehnung christlichen Lebens durch des Menschen Selbstbezogenheit dramatisch enden wird.

Prophetisch klare Sicht auf die Realität

Die durch den Menschen schuldhaft verursachten Zerstörungen an Gottes Schöpfung nehmen zu. Gericht ereignet sich in Gottes Abwesenheit, wo er den Menschen seine Freiheit ausleben lässt.

Diese Zusammenhänge zeigt Jesus in seinen «Endzeitreden» (Matthäus 24,1–36; Markus 13,1–32; Lukas 21,5–36) und seine Apostel in ihren Briefen und Sendschreiben auf. Es gilt also, die «Zeichen der Zeit» zu beobachten und sie permanent theologisch zu qualifizieren. Denn dadurch gewinnen wir eine spannungsvolle Perspektive auf das Kommen des Reiches Gottes, Hoffnung auf die nahende Erlösung, einen hoffnungsvollen Lebensstil «in Freiheit von der Welt und in Erwartung der Neuen Welt» (1. Korinther 7,29ff).

Weil das österliche Heilsdatum den Blick auf den auferstandenen Christus lenkt, kann ich in allen Verunsicherungen «meine ganze Gegenwart annehmen und Freude nicht nur in der Freude, sondern auch im Leide, Glück nicht nur im Glück, sondern auch im Schmerz finden. So geht diese Hoffnung durch Glück und Schmerz hindurch, weil sie Zukunft auch für das Vergehende, Sterbende und Tote an den Verheissungen Gottes erblicken kann.» (Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, 27).

Nüchternheit in einer unsicheren Übergangszeit

Im NT finden wir eine heilsgeschichtliche Einordnung dessen, dass es in der gegenwärtigen Welt keine Sicherheit gibt. Persönliche Krisen, politische Verwerfungen und irrende Ratlosigkeit gehören zu dieser Übergangszeit. Paulus fragt einmal: «Wo sind denn die Weisen und die Klugen dieser Welt? Hat nicht Gott selbst die Weisheit dieser Welt als Torheit entlarvt und uns in Christus die wahre Weisheit und Gerechtigkeit geschenkt?» (1. Korinther 1,20.30) Seit Ostern leben wir in einer Übergangszeit. Es gilt das «Es ist schon vollbracht» ebenso wie das «Es ist noch nicht erschienen, was sein wird». Die Utopie einer sicheren schönen Welt mögen wir als Sehnsucht träumen! Aber der Heilige Geist kann diese menschlich so verständliche Sehnsucht in Vertrauen, Liebe und Hoffnung verwandeln.

Deshalb gilt es, allen Utopien pseudomessianischer Autokraten – Jesus nennt sie falsche Propheten (Matthäus 24,11) – zu widerstehen anstatt sie zu wählen, damit sich die Dramatik des 20. Jahrhunderts nicht wiederholt.

Christliche Hoffnung bleibt nüchtern, weil sie um den vorletzten Charakter der Jetztzeit weiss: «Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Aber über dir strahlt Gott der Herr auf als Licht und seine Herrlichkeit erscheint über dir.» (Jesaja 60,1-2)

In dieser aktiven Hoffnungsperspektive erfährt die Gemeinde Jesu hier und da, je und dann den Frieden Gottes wie das «Auge im Sturm». Deswegen verfällt sie nicht in fatalistischer Resignation der Weltflucht, sondern folgt der Aufforderung Jesus: «Handelt, bis ich wiederkomme!» (Lukas 19,13) So entwickelt sich unaufhaltsam seit Pfingsten das Reich Gottes in dieser Übergangszeit, die Jesus mit den Geburtswehen am Ende einer schwierigen Schwangerschaft vergleicht.

Hoffnungsvolle Gewissheit

Zu Beginn habe ich Sabina Pedroli erwähnt mit ihrer Feststellung, unser Gehirn sei nicht dafür geschaffen, das ganze Leid dieser Welt – also die schweren Geburtswehen – zu verarbeiten. Um trotzdem zu überleben, empfiehlt sie eine moderate Medienverweigerung sowie Auszeiten zur Selbstfürsorge und Selbsterhaltung.

Ergänzend möchte ich noch auf das Raum- und Zeitkonzept jüdischen und christlichen Glaubens hinweisen: «Meine Zeit steht in Gottes Händen. Du stellst meine Füsse auf weiten Raum. Deshalb befehle ich meinen ängstlich aufgeregten Geist und meine angefochtene matt gewordene Seele in Deine Hände. Denn du hast mich erlöst, Herr, mein treuer Gott.» Dieser Psalm 31 zeigt uns den sicheren Ort inmitten aller Verunsicherung: Geborgenheit im dreifaltigen Gott und in seiner Heilsgeschichte. Glaube heisst: Meine Biografie einbinden lassen in den ewigen Bund, den Gott in Jesus Christus anbietet: «Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein» – auch wenn es bedrängend wird.

Wer diesen Anruf und Zuruf aus Jesaja 43,1+2 für sich hört, lebt in einer das irdisch Unsichere, Dunkle und Finstere überwindenden Dimension.

Dieser Artikel erschien erstmals in der Zeitschrift «meinTDS» und auf der Website www.tdsaarau.ch

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Das ChristNet-Forum vom vergangenen Samstag unter dem Thema «Demokratie – gefährdet oder gefährlich?» zeigte auf, dass erste Anzeichen dieser Staatsform durchaus im Neuen Testament ausgemacht werden können.

Bei der Begrüssung wies ChristNet-Präsident Markus Meury auf die Dringlichkeit des Themas hin. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele Staaten ihre demokratischen Strukturen ausgebaut. Heute zeige der Demokratieindex, der von der britischen Zeitschrift The Economist jährlich berechnet wird, in allen Regionen der Welt nach unten. Die Schweizer Demokratie werde zwar wegen ihrer direktdemokratischen Instrumente als vorbildlich wahrgenommen, sei aber ebenfalls vor Angriffen nicht gefeit.

So käme es immer wieder vor, dass sich Parlamente auf Kantons- und Bundesebene weigerten, vom Volk angenommene Initiativen auch wirklich umzusetzen. Ein Beispiel seien die F-35-Jagdflugzeuge, die die Bundesversammlung «wegen der zunehmenden Bedrohung durch Russland» bestellt hat, obwohl eine Initiative dagegen hängig ist.

Jesus trat für «innere Theokratie ein»

Simon Grebasch, evangelisch-reformierter Pfarrer in Münsingen und ehemaliger Präsident der EVP Kanton Freiburg, setzte sich mit den Herrschaftsformen in der Bibel auseinander. Jesus habe keine bestimmte Staatsform unterstützt, sondern das Reich Gottes realisieren wollen mit dem Ethos der Liebe und Gottes guter Geistkraft im Herzen als Zentrum. Das komme einer Art «innerer Theokratie» (griech. Theos, kratos = Gott herrscht) gleich – mit Auswirkungen auf die äussere Lebensführung. Die Herrschaftsform im künftigen Reich Gottes, die auch äusserlich gemeint sei, könne als «demokratische Theokratie» gesehen werden: «Wo der Gott von Jesus Christus regiert, da sind auch Freiheit und Mitbestimmung garantiert. Man liegt also falsch, wenn man sich eine Theokratie bloss autokratisch vorstellt. In der Bibel ist das nicht der Fall», betonte Grebasch. Auch die Jesus-Nachfolge selbst sei ja freiwillig.

Was hat Demokratie mit dem christlichen Glauben zu tun?

Das Miteinander der ersten Christen sei «aussergewöhnlich partizipativ, egalitär und sozial» gewesen. Dabei wäre die «Koinonia» wichtig gewesen – die Gemeinschaft als Teilhabe und Teilnahme. Die kirchliche Selbstbezeichnung «Ekklesia» hätte auf die politische Volksversammlung im alten Griechenland verwiesen. Das Bild vom Leib Christi und das Wirken des Geistes in allen Gliedern – auch in den Frauen, Sklaven und Kindern – sei revolutionär demokratisch gewesen. Auch die Dreieinigkeit Gottes könne als «in der Gottheit selbst inhärentes demokratisches Prinzip verstanden werden», schloss Grebasch seine Überlegungen ab.

Josef (Jo) Lang, ehemaliger Zuger Nationalrat und Verfasser des Buches «Demokratie in der Schweiz», unterstrich die Direkte Demokratie als Stärke der Schweiz. Das Recht, eine Initiative oder ein Referendum zu ergreifen, werde in Zukunft noch wichtiger werden, was auch dasvergangene Jahr eindrücklich aufgezeigt habe.

Konkrete Fragen gegen MAGA-Slogans

Während der US-amerikanische Wahlkampf vom ideologischen Schlagwort «Make America Great Again» (MAGA) geprägt gewesen sei, «ging es bei den letztjährigen Urnengängen in der Schweiz um konkrete Fragen wie Sozial- und Krankenversicherung, Mietrecht oder Klima- und Landschaftsschutz». In der Direkten Demokratie seien Politiker und Politikerinnen gezwungen, Fragen zu konkretisieren, während in den USA ein Vertreter des Grosskapitals mit einem nationalistischen Slogan die Mehrheit der Arbeiterklasse habe hinter sich bringen können.

Lang zeigte anhand der Abstimmungen zur Gleichberechtigung der Juden und zum Frauenstimmrecht auf, dass die Schweiz seit den ersten Volksabstimmungen nach der Gründung des Bundesstaates bis heute dreigeteilt sei in die progressive Romandie, die urbane Deutschschweiz und die ländliche Deutschschweiz und plädierte in diesem Zusammenhang für die Abschaffung des Ständemehrs. Dieses ermögliche es, die die Mehrheiten in der Romandie durch die konservative Innerschweiz auszubremsen, ein Phänomen, das unter anderem zur Ablehnung der Konzernverantwortungsinitiative geführt hat.

Die aktuell grösste Gefahr drohe „der Schweizer Demokratie bei einem Versagen in der Klimafrage“. Der Klimawandel werde nicht nur ein Chaos in der Natur auslösen. Wenn es nicht gelinge, Mehrheiten für klimapoltische Massnahmen zu finden, sehe es düster aus.

Meinungsvielfalt nicht immer gewährleistet

Markus Dütschler, langjähriger Lokalredaktor der Berner Tageszeitung «Der Bund» und heutiger Co-Leiter des Kommunikationsdienstes der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, kritisierte, dass in den aktuelle (Bezahl-)Medien die Meinungsvielfalt nicht immer gewährleistet sei. Eine Befragung von Journalistinnen und Journalisten durch das Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW zeige, dass das Personal auf den Redaktionen nicht sehr divers zusammengesetzt sei. Es sei daher auch kein Wunder, dass gewisse Themen sehr breit und andere überhaupt nicht transportiert würden. So interessierten sich Journalisten oft nicht für religiöse Themen und deren Botschaft, weil die meisten von ihnen einen konfessionslosen Hintergrund hätten. Zudem würden zu gewissen Themen immer wieder die gleichen Experten befragt.

Im Internet hingegen kämen Leute zu Wort, die bislang nicht gehört worden seien, was nicht nur schlecht sei. Durch die neuen Medien könne unter Umständen die „Schweigespirale“ durchbrochen werden, die auf einer Theorie fusst, die in den 70er-Jahren von Elisabeth Noelle-Neumann formuliert wurde: Menschen sind gehemmt, sich öffentlich zu ihrer Meinung zu bekennen, wenn sie davon ausgehen, dass diese von der vorherrschenden abweicht, was für die Meinungsvielfalt in einer Demokratie eine Gefahr darstellen könne.

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Unsere Migrationspolitik ist unverhältnismässig restriktiv. Es wäre Zeit für eine Allianz des Anstands.

Der Wahlsieg Donald Trumps folgt einem Muster, das in immer mehr westlichen Demokratien Erfolge feiert: der gezielten Bewirtschaftung von Ängsten. Zum einen ist da die Angst vor dem Wohlstandsverlust, die viele Menschen umtreibt, und zum anderen das Übermass an gesellschaftlichen und weltweiten Krisen, die überfordern. Diese Ängste werden heute nicht verantwortungsbewusst begleitet, sondern verstärkt und instrumentalisiert.

In biblischen Zeiten gab es mit dem Sündenbock ein Ritual, um Ängste zu beruhigen. Ein Ziegenbock wurde in die Wüste geschickt, um symbolisch alles Böse, die Schuld und die Angst vor dem Zorn der Gottheit wegzutragen und so das Volk zu befreien. Stellvertretend übernehmen heute Flüchtlinge diese Rolle. Sie eignen sich ideal als Projektionsfläche für eigene Ängste und Wut. Der inzwischen verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman äusserte sich dazu wie folgt: «Asylbewerber nehmen heute die Rolle ein, die ehemals den Hexen, Kobolden und Gespenstern der Sagen zukam.»

Trump schürt Ängste gegenüber Migranten, bezeichnet sie als Ungeziefer oder Müll und macht sie für fast jedes Unheil verantwortlich. Auch die SVP als wählerstärkste Partei der Schweiz und mit ihr neuerdings die FDP folgen dieser miserablen Strategie: Mit Flüchtlingen als Sündenböcken gewinnen Parteien Wählerstimmen und erringen damit politische Macht. Der moralische Preis dafür ist jedoch hoch, denn ein solch polemischer Diskurs vergiftet eine Gesellschaft.

Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit.

Als Konsequenz dieser Sündenbock-Strategie haben wir eine mittlerweile sehr restriktive Migrationspolitik. Wer die Zahlen der Asylmigration sorgfältig analysiert – und sie nicht mit der Arbeitsmigration vermischt –, stellt fest, dass relativ wenige Flüchtlinge die Schweiz erreichen. Deshalb ist die Rede von einer angeblichen «Überflutung» reines Geschwätz, ganz nach dem Motto: «Lerne, zu klagen, ohne zu leiden.»

Eine weitere Konsequenz davon ist, dass in der Schweiz abgewiesene Asylsuchende über Monate und Jahre hinweg in Rückkehrzentren untergebracht werden, in denen ganze Familien in einzelnen Zimmern leben. Häufig handelt es sich um Personen, die aus autokratisch regierten Ländern kommen und nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Eine Studie des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind hat gezeigt, dass die in Rückkehrzentren befindlichen Kinder und Jugendlichen – rund 700 an der Zahl – in einem schlechten psychischen Zustand sind. Sie sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt. Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit. Rückkehrzentren dürfen keine Menschendeponien werden.

Es braucht in der politischen Schweiz eine Allianz des Anstands, die sich von machiavellistischem Streben verabschiedet und anerkennt, dass Geflüchtete zunächst einmal Menschen sind, die unsere Zuwendung verdienen. Es ist eine Binsenwahrheit, dass es in jeder Bevölkerungsgruppe anständige und unanständige Menschen gibt, und die Proportionen sind überall ähnlich. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass nicht alle Migranten hier in der Schweiz bleiben können. Es sei denn, es handelt sich um Oligarchen oder Milliardäre. Ihnen stehen bei uns alle Türen offen.

Dieser Artikel erschien im Dezember 2024 als Gastkommentar im «Tagesanzeiger», im «Bund» und im «Berner Landboten».

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Am 18. Januar 2025 findet das nächste ChristNet-Forum unter dem Thema «Demokratie – gefährdet oder gefährlich» statt. ChristNet-Präsident Markus Meury erklärt, was es mit dem Thema auf sich hat.

Mit dem 2. Weltkrieg wurde endgültig klar, welche Katastrophen der Nationalismus und Diktaturen anrichten können. Danach wurden in vielen Staaten die demokratischen Strukturen ausgebaut. Mit dem «Fall der Mauer» schien es, dass die Demokratie gesiegt hätte und dass sie und die Menschenrechte sich dank der Zunahme der Bildung und des Wohlstandes automatisch ausbreiten würde. Bis zum Jahr 2015 war dies tatsächlich der Fall, seither hat aber eine Trendwende eingesetzt. Der Demokratieindex 1 zeigt seither nach unten, und zwar in allen Regionen der Welt.

Zunehmend Machterhaltung – auch wegen der Polarisierung im Internet

In Ungarn, Polen, Israel oder El Salvador versuchen Regierungen vermehrt, ihre Macht zu zementieren, indem sie Kritik übertönen oder unterdrücken und die Kontrolle durch Gerichte abschaffen. Mexiko und Indien versuchen, demokratische Wahlen «besser zu kontrollieren». In Südkorea wurde eben ein «Putsch von oben» versucht. Auch der Sturm aufs Capitol in den USA von 2021 kann in dieser Kategorie genannt werden. Wird die Demokratie nur noch toleriert, solange das Resultat den Mächtigen dient?

Ein wichtiger Faktor hierin ist sicher die zunehmende Polarisierung der Meinungen, die durch die allgemeine Verunsicherung und die ungebremste Hetze und Verleumdung gegen die politischen Gegner in den sozialen Netzwerken (auch bewusst) gefördert wird. Durch die Algorithmen im Internet, die unsere Interessen und Meinungen spiegeln, finden wir uns in Meinungs-Bubbles wieder und werden zunehmend einseitig informiert. Wenn der politische Gegner nur noch Feind ist, wird dessen Unterdrückung zur Priorität, da sonst «das Böse überhandnimmt». Machterhaltung ist die Devise, Konsens und damit die Suche nach dem Guten für alle ist nicht mehr Ziel. Im Kampf der Guten – wir – gegen die Bösen – die anderen –, wird die Aufhebung von demokratischen Regeln gerechtfertigt.

Der Soziologe Anthony Giddens hat bereits in 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der autoritären Regierungen werde, da mehr Menschen wegen den schnellen technischen und kulturellen Veränderungen2 wieder nach Sicherheit versprechenden Führern rufen. Nur so ist es zu erklären, dass in den USA mit Donald Trump von einer Mehrheit des Volkes wiedergewählt wurde. Dies mit Elon Musk als rechte Hand, der vor einem von ihm angestrebten Sturz des bolivianischen Präsidenten meinte: «We coup against whoever we want».

«… in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.»

Erosion der Wahrheit

Das Internet mit seinem grossen Angebot an Rechtfertigungsideologien hilft uns, das zu glauben, was wir glauben wollen. Wir passen die Realität an unsere Weltsicht an. Hier ist die Frage der Wahrheit zentral: Kümmern wir uns nicht mehr um die Suche nach Wahrheit? Oder nehmen wir einfach an, was wir glauben, ist die Wahrheit. Wenn wir Facts statt Unterstellungen den Vorzug geben, entstehen weniger Feindbilder. Aber in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.

Menschenrechte, Demokratie und Nächstenliebe bedingen sich gegenseitig

In diesem Zusammenhang geraten weltweit auch die Menschenrechte unter Druck. Menschenrechte sind die Grundpfeiler der Menschenwürde: gleicher Wert jedes Menschen vor Gott heisst auch, jedem Menschen gleiche Rechte und Lebenschancen zuzugestehen. Das ist die Grundlage der Nächstenliebe. Diese bedingt die Menschenrechte und ist nur durch eine vollständige Demokratie gewährleistet. Denn nur dort, wo die Stimme der Benachteiligte hörbar ist und ihr politischer Einfluss gleichwertig ist, wo vertrauenswürdige Informationen im Vordergrund stehen und wo Mächtige abgewählt werden können, kann das Gute für alle gedeihen. Denn: wo die Mächtigen Rechenschaft abgeben müssen, wird das Wohl für alle respektiert. Umgekehrt hat die Konzentration und Zementierung von Macht in der Geschichte meist Unheil gebracht. Unterdrückung, Kriege, Tod und Zerstörung sind die Folge.

Und in der Schweiz?

Die Schweiz hat unter den Demokratien eine besondere Stellung und wird wegen seiner direktdemokratischen Instrumente als die Demokratie schlechthin angesehen. Doch auch bei uns gibt es demokratische Grundregeln, die noch mangelhaft sind. Demokratie heisst nicht einfach, «man kann ja wählen und abstimmen, wenn man will». Im Folgenden einige wichtige Voraussetzungen, die in der Schweiz unseres Erachtens im Vergleich zum Ausland Verbesserungen benötigen:

  • Zuverlässige und korrekte Information in klassischen und sozialen Medien
  • Gleich lange Spiesse im politischen Konkurrenzkampf durch Offenlegung der Politikfinanzierung
  • Unterbindung von undurchsichtigen Lobbying-Aktivitäten im Parlament
  • Die Einführung eines Verfassungsgerichts, das die Übereinstimmung von neuen Gesetzen mit der Verfassung überwacht

Zudem sind Einschränkungen von demokratischen Prozessen auch hierzulande wahrnehmbar:

  • Bei der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative waren die Wirtschaftsverbände erstaunt, dass die Zivilgesellschaft plötzlich gewichtigen Einfluss auf die Meinungsbildung hatte. Dieser Entwicklung begegneten sie mit einem Verbot der politischen Arbeit von subventionierten NGO und von Schulbesuchen durch Entwicklungshilfeorganisationen.
  • Das Parlament beschloss – trotz hängiger gegnerischer Volksinitiative – die sofortige Bestellung der FA-35-Kampfflugzeuge und begründete dies mit der zunehmenden Bedrohung durch Russland. Nun werden wir ein überteuertes und lärmiges Angriffsflugzeug haben. Dies ohne Koordination mit den umliegenden und ebenfalls bedrohten Ländern.
  • Gerade im Zuge der Nichtumsetzung der Initiative «Kinder ohne Tabak» wird einmal mehr klar, dass das Parlament sich zu weigern kann, Volksinitiativen korrekt umzusetzen. Zwar ist das Gesetz noch nicht fertig beraten, aber die vorberatenden Kommissionen setzen alles daran, dehnbare Formulierungen zu schmieden.
  • Im Kanton Schaffhausen haben sich das Parlament und die Regierung offen geweigert, die vom Volk angenommene Initiative zur Offenlegung der Parteispenden umzusetzen. Im Nachhinein wollten sie einen verwässerten Gegenvorschlag vors Volk bringen und gleichzeitig über eine Durchsetzungsinitiative der ursprünglichen Volksinitiative nicht abstimmen lassen. Das Bundesgericht hat inzwischen entschieden, dass auch über Letztere abzustimmen sei.

Wir müssen also auch hierzulande gegenüber der Erosion demokratischer Prozesse wachsam sein – auch wenn sich unsere politische Identität stark auf die Demokratie bezieht und nicht unmittelbar die Gefahr einer Diktatur droht.


1. https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex_(The_Economist)

2. s. auch Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005

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In der Wintersession im Bundeshaus wurde bei der Armee aufgestockt und bei der Umsetzung des Klimaschutz-Gesetzes massiv gekürzt. Klimalösungen sind aber trotz bremsender Mehrheiten weiterhin gefragt. Wenn sogar kleine Schritte blockiert werden, wie sollen dann die grossen Schritte eine Chance haben?

Wenn sogar ein Land wie die Schweiz beim Klimaschutz spart, wer soll dann vorangehen? Wenn sogar kleine Schritte blockiert werden, wie sollen dann die grossen Schritte eine Chance haben?

Ein Gedankenexperiment kann uns mit diesen Fragen helfen. Stellen wir uns vor, wir können mit einer Zeitmaschine ins Jahr 2100 reisen. Dort angekommen, stellen wir überrascht fest, dass die Welt das Klimaproblem doch noch gelöst hat. Wir fragen die Menschen der Zukunft: «Wie ist denn das bloss gegangen?» Wahrscheinlich wären wir von jeder möglichen Antwort überrascht. Die grosse Frage ist aber: Welche Antwort auf diese Frage würde uns am wenigsten überraschen?

Dem Nächsten wirkungsvoll dienen

Diese Frage ist zentral – und zwar ganz besonders, wenn sich die Klima-Politik anderen Prioriäten unterordnen muss. Wir müssen nicht nur voll heiligem Zorn die Bremser in der Klimapolitik anprangern. Sondern: wir müssen mit der gleichen Leidenschaft fragen, was denn unsere Nachfahren auch dann vor Klimagefahren schützen würde, wenn diese Bremser weiterhin in der Mehrheit bleiben.

Das ist letztlich eine sehr christliche Perspektive: wir rechnen fix mit dem Bösen in dieser Welt und richten unsere ganze Energie darauf, wie wir unseren Nächsten auch unter diesen Umständen wirkungsvoll dienen können.

Wenn ich im Jahr 2100 hören würde, dass die Menschheit die Klimakurve doch noch gekriegt hat, würde mich folgende Erklärung am wenigsten überraschen: Es gab ein paar Länder und Individuen, die mit grossem Einsatz saubere Technologien so sehr verbilligt haben, dass alle andern freiwillig auf diese sauberen Technologien umgestellt haben.

Null Emissionen

Die Anforderungen an eine Klimalösung sind ja schliesslich enorm: die Emissionen müssen auf Null. Wie aber sollen sie auf Null sinken, ohne dass sie jedes einzelne Land und jede einzelne Person auf Null senkt? Die Tatsache, dass es genaugenommen Netto-Null ist, lässt zwar ein bisschen Spielraum, aber über den Daumen gepeilt ist das immer noch Null. Wenn aber nicht mal ein Land wie die Schweiz zu kleinen Schritten bereit ist, wie soll dann ein Land wie Rumänien oder gar Indien zu grossen Schritten bereit sein?

Die Tragödie scheint perfekt: alle müssen auf Null – aber eine Lösung, bei der alle mitmachen, werden wir nie finden. Der Beweis dafür ist, dass nicht mal diejenigen mitziehen, die für grosse Schritte prädestiniert wären – wie unser eigenes Land.

Zeichen der Hoffnung

Doch es gibt Hoffnung. Es müssen zwar tatsächlich alle das gleiche Null-Ziel erreichen. Das heisst aber nicht, dass alle den gleichen Effort machen müssen. Emissionsreduktionen ≠ Effort. Willige Länder und Individuen können den Effort anstelle von andern übernehmen – sogar, wenn sie in der Minderheit sind.

Wie geht das konkret, dass im globalen Klimaschutz «einer des andern Last trägt»? Der erste – und weniger wichtige – Weg besteht darin, Emissionsreduktionen im Ausland zu finanzieren. Der zweite – und viel wichtigere – Weg besteht darin, enorm viel Geld, Zeit, Energie und politisches Kapital in die Verbilligung von emissionsfreien Technologien zu stecken, damit diese so attraktiv werden, dass sie alle andern freiwillig einsetzen. In einigen Bereichen sind saubere Technologien zwar einsatzbereit, aber noch so teuer, so dass sie wieder von Menschen, die in Armut leben, noch von jenen, die in Geiz leben, in grossem Ausmass verwendet werden. In anderen Bereichen sind unverzichtbare Technologien noch kaum einsatzbereit, so zum Beispiel im Bereich Stahl, Zement, Flugverkehr, kultiviertes Fleisch oder negative Emissionen.

Saubere Technologien attraktiv machen

Wer auf eine Klimalösung brennt, sollte nicht lange um die Frage kreisen, ob man seinen fairen Anteil auch dann beitragen sollte, wenn die anderen nicht mitziehen. Die zentrale Frage lautet vielmehr: Wie kann ich über meinen fairen Anteil hinaus dazu beitragen, die Mitmenschen in Armut vor Klimakatastrophen zu schützen? Die eigenen Emissionen immer tiefer unter Null zu drücken, führt nicht ans Ziel – damit können die Verzichtsbereiten die Emissionen der Unwilligen niemals wettmachen. Der indirekte Weg hingegen könnte funktionieren: die sauberen Technologien so attraktiv machen, dass sich diese Technologien von selbst in reichen und armen Ländern verbreiten. Bei reichen Ländern ist das Hindernis zur Verwendung der jetzt schon vorhandenen sauberen Technologien ein materialistischer Egoismus, bei armen Ländern ist es hingegen der berechtigte Willen dank den billigstmöglichen Technologien der Armut schneller zu entkommen. In beiden Fällen können wir das Hindernis zu überwinden helfen.

Bei den Armen und Geizigen ansetzen

Das wäre zwar in vieler Hinsicht unfair für die Verzichtsbereiten, die den ganzen technologischen Fortschritt finanzieren. Aber es ist eine der wenigen Strategien, die letztlich auch ohne Mehrheiten Resultate liefern könnte. Wir müssen aufhören, Klimaschutz primär als die Verringerung des eigenen Fussabdrucks zu sehen. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, dort anzusetzen, wo wir Hebelwirkung haben: nämlich andern – den Menschen in Armut und den Geizigen – die Verringerung ihres Fussabdrucks zu vereinfachen.

Dieser Artikel erschien erstmals in den oeku-Nachrichten 2/2021 und wurde von ChristNet aktualisiert, da das Thema an sich nichts an Aktualität eingebüsst hat.

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In diesem Jahr feiern wir das 75-jährige Jubiläum der Genfer Konventionen, die das Fundament des humanitären Völkerrechts bilden. Die Schweiz, stolz auf ihre Rolle als Hüterin dieser Konventionen, trägt eine besondere Verantwortung für den Schutz und die Förderung des humanitären Völkerrechts.

Doch wie vereinbart sich diese Verantwortung mit der Weigerung der Schweiz, dem Atomwaffenverbotsvertrag (Wikipedia) beizutreten? Ein Vertrag, der die unmenschlichen Folgen von Atomwaffen klar benennt und deren Einsatz sowie Androhung verbietet.

Atomwaffen widersprechen den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: Sie töten wahllos, verletzen das Gebot der Verhältnismässigkeit, verursachen unsägliches Leid und nehmen Menschen das grundlegendste Recht auf Leben und Sicherheit. Kein Land der Welt wäre vor den katastrophalen humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes gefeit.

Auch aus christlicher Sicht ist der Einsatz von Atomwaffen schwer zu rechtfertigen. Diese Form der massiven Zerstörung steht im Widerspruch zu grundlegenden christlichen Prinzipien wie Nächstenliebe, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Friedensförderung und Gewaltlosigkeit. Deshalb unterstützen viele Kirchen und internationale christliche Verbände den Atomwaffenverbotsvertrag, darunter der Ökumenische Rat der Kirchen und die katholische Kirche. Papst Franziskus hat dazu klar Stellung bezogen und spricht von einer „falschen Logik der Angst“, die dem Besitz solcher Waffen zugrunde liege. Für ihn ist nicht nur der Einsatz von Atomwaffen ein „Verbrechen“, sondern bereits ihr Besitz „unmoralisch“ 1 . Auch die Weltweite Evangelische Allianz befürwortet die Nichtverbreitung von Atomwaffen, doch herrscht keine Einigkeit über ein vollständiges Verbot.

Die Argumente der Befürworter von Atomwaffen basieren vor allem auf der Abschreckungstheorie: Der Besitz von Atomwaffen soll potenzielle Angreifer davon abhalten, einen Angriff zu starten. Ein genanntes Beispiel ist die Ukraine, die nach Ansicht einiger Analysten wohl nicht unter russischen Angriff geraten wäre, hätte sie Nukleararsenal 1994 nicht abgegeben. Diese militärische Strategie ist als Mutual Assured Destruction (MAD) bekannt und war auch ein Grund, warum es während des Kalten Krieges zu keiner direkten Konfrontation zwischen den Supermächten USA und UdSSR kam. In diesem Szenario würden Atomwaffen niemals eingesetzt werden müssen, weil niemand es wagen würde, einen Atomstaat anzugreifen.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil. Diese Strategie ist extrem riskant, da sie keinen Raum für Fehler lässt, deren Folgen katastrophal wären. Ich wünsche mir daher einen Frieden, der auf einer anderen Vision basiert: auf das Völkerrecht und auf gegenseitigem Respekt zwischen allen Völkern und Mitgliedern der menschlichen Familie – oder aus christlicher Perspektive: auf Nächstenliebe.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil.

Dass die Schweiz dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beigetreten ist, obwohl sie sich an den vorbereitenden Verhandlungen aktiv beteiligt hat, liegt wohl weniger daran, dass sie viel auf die Abschreckungstheorie gibt. Vielmehr sieht sie den Nutzen des Vertrags für die nukleare Abrüstung als ungewiss an. Ein Beitritt würde keinen konkreten Nutzen bringen und hätte aussen- und sicherheitspolitische Nachteile (siehe Bericht des Bundesrats). Diese Entscheidung ist reines realpolitisches Kalkül: Man möchte seine Verbündeten nicht unnötig verärgern.

Zwar ist es grundsätzlich sinnvoll, Bündnispartner nicht zu verärgern, doch sollte dies nicht gelten, wenn es um so grundlegende Fragen wie die nukleare Abrüstung geht. Es sollte uns egal sein, ob unsere Forderungen auf Zustimmung stossen oder nicht – wir sollten meiner Meinung nach Teil der globalen Bemühungen um ein Atomwaffenverbot sein. Gerade weil die Schweiz eine starke humanitäre Tradition hat, sollte sie hier als Vorbild vorangehen.

Die Entscheidung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beizutreten, stellt einen Bruch mit der humanitären Tradition der Schweiz dar und beschädigt unsere Glaubwürdigkeit als humanitäre Akteurin. Diese Tradition ist stark von christlichem Gedankengut geprägt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Henri Dunant, der Gründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1863) und erster Sekretär der Genfer Sektion der Evangelischen Allianz. Dunant, ein tiefgläubiger Christ, war erschüttert vom Leid der Verwundeten nach der Schlacht von Solferino (1859). Seine religiösen Überzeugungen motivierten ihn, sich für humanitäre Hilfe einzusetzen und eine Organisation zu gründen, die in Konflikten neutral und unabhängig agiert, um allen Verwundeten Hilfe zu leisten. Diese Tradition prägt bis heute das humanitäre Engagement der Schweiz und sollte uns – und besonders auch die Christinnen und Christen – weiterhin inspirieren. Ein Beitritt zum Vertrag wäre ein klares Bekenntnis zu unserer humanitären Verantwortung und eine Fortsetzung unseres langjährigen Engagements für nukleare Abrüstung.

Ich fordere mit der Allianz für ein Atomwaffenverbot die Schweiz auf, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden. Denn wer, wenn nicht die Schweiz, sollte für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einstehen?

1. https://www.swissinfo.ch/ger/papst-nennt-atomwaffen-anschlag-auf-menschheit/45388980

Photo: Flickr Commons, Public Domain (Link)

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Drei Viertel der Evangelikalen Christinnen und Christen wählten bei den letzten zwei Präsidentschaftswahlen Donald Trump. Eine Auseinandersetzung damit, warum viele amerikanische Evangelikale den derzeitigen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner unterstützen, obwohl er sich gegen ihre moralischen Werte verhält.

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Nach der Nomination von Kamala Harris am kürzlichen Parteikongress der US-Demokraten ist die Ausgangslage für die Präsidentschaftswahlen vom kommenden November klar. Für die Demokratische Partei treten die Baptistin Kamala Harris zusammen mit dem Lutheraner Tim Walz als nominiertem Vizepräsidenten an, während Donald Trump, der als «Freund der Christen» bezeichnet wird, zusammen mit seinem katholischen potenziellen Vizepräsidenten James David Vance ins Rennen steigen wird. Für Christen also eine ausgeglichene Auswahlsendung? Höchstens auf den ersten Blick. Es gibt gute Gründe, den frommen Verpackungen nicht zu trauen und nach der mitgelieferten politischen Kultur sowie dem politischen Programm zu fragen. Und gleich auch noch zu prüfen, ob und wie weit der eigene christliche Glaube die persönliche politische Agenda prägt.

Nehmen wir als Ausgangspunkt das verwerfliche Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump am Parteitag der US-Republikaner im vergangenen Juli (Korrektur: der Anschlag fand kurz vor dem Parteitag der US-Republikaner statt. Die ChristNet-Redaktion). Für Trump war die Deutung nach dem ersten Schock klar: Er habe den Anschlag auf sein Leben nur «dank der Gnade des allmächtigen Gottes» überlebt: «In gewisser Weise fühlte ich mich sehr sicher, denn ich hatte Gott auf meiner Seite1

Beten für Donald Trump?

Der Evangelist Franklin Graham sagte am selben Parteitag zum Anschlag gegen Trump, Gott habe dessen Leben verschont und betete für den möglichen zukünftigen Präsidenten. Robert Jeffress, Leiter der «First Baptist» Megachurch in Dallas, soll Gott gedankt haben, dass «er das Leben dieses mutigen Anführers, der ein Krieger für die Wahrheit und Freund der Christen weltweit ist, geschützt hat2 .» Auch Joe Biden erklärte öffentlich, dass er für Donald Trump beten wolle.

Das ging dem US-Theologen William Schweiker dann doch zu weit. Der Dozent für christliche Ethik an der Universität Chicago meinte, es wäre ihm lieber gewesen, wenn Biden alle aufgefordert hätte, sich für Frieden und Einheit einzusetzen, «statt eine höhere Macht anzurufen». Auf die Frage, ob das knappe Überleben Trumps ein Werk Gottes sei, antwortete er: «Kann sein. Ich weiss das nicht.» Schweiker kritisierte in einem Interview mit der «Zeit» Trump dafür, dass er den christlichen Glauben missbrauche, obwohl er weder für seine Frömmigkeit noch als bibelfester Kirchgänger bekannt sei. «Wenn jemand sich als Christ bezeichnet, dann muss es auf der persönlichen Ebene irgendeine Übereinstimmung zwischen seinem Glauben und seinem Tun geben. Aber ich erkenne bei Trump einfach keinerlei Demut3

Wie weit reicht der christliche Glaube?

Ich würde noch einen Schritt weitergehen. Politikerinnen und Politiker, die sich als Christen bezeichnen oder sich auf den christlichen Glauben berufen, müssten ihren Glauben nicht nur im persönlichen Umfeld ein Stück weit unter Beweis stellen, sondern auch bei ihrer politischen Agenda und in ihrer politischen Kultur. Der nominierte Trump-Vize J.D. Vance ist vor 5 Jahren zum Katholizismus konvertiert. Ob allerdings seine Ansichten über Politik und darüber, wie ein optimaler Staat aussehen sollte, wirklich «ziemlich genau mit der katholischen Soziallehre übereinstimmen»4 , wie er behauptet, muss bezweifelt werden.

Die wenigen Republikaner vom «Lincoln Project», die kritisch gegenüber Donald Trump eingestellt sind, nehmen hier kein Blatt vor den Mund. Im weiteren Umfeld des Parteitags der Republikaner zeigten sie in Endlosschleife Clips, welche an Trumps Skandale erinnern. An den Sturm seiner Anhänger auf das Capitol. An seine Verurteilung wegen Betrugs, nachdem er Schweigegeld an einen Pornostar in seinen Geschäftsunterlagen als Anwaltskosten verschleiert hatte. «Er ist kein Christ, er ist kein Anführer», betonten sie. «Lasst euch nicht verarschen.» Und: «Geht wählen, um seinen Lügen ein Ende zu setzen»5 : eine Anti-Empfehlung für Trump.

Wenn das so ist, warum fallen trotzdem so viele, gerade auch ernsthafte Christen auf Trump herein? Erstens weiss Trump, welche Themen er bespielen muss, um bibelnahe Christen für sich zu gewinnen: beispielsweise die Abtreibung und den Patriotismus. Zweitens folgen manche US-Christen einem individuellen Glauben, den sie in der sonntäglichen Anbetung feiern, ohne ihre angestammte politische Agenda im Lichte des Evangeliums zu hinterfragen. Oft ist diese Haltung auch noch kombiniert mit einer Vorliebe zu Persönlichkeiten, die den Leuten predigen, was Sache ist. Bekanntlich lernt man das Hinterfragen oder Überprüfen von präsentierten Fakten nicht unbedingt im Gottesdienst, dazu wären vertiefende Gespräche nötig. Ist diesen gläubigen Christen nicht aufgefallen, dass Trump für eine gehässige politische Kultur steht? Diesen Wermutstropfen sehen sie ihm offensichtlich nach. Schliesslich sind wir alle Sünder.

Abtreibung als Symptomhandlung

Nun, kein ernsthafter Christ kann ein Befürworter des (Un-)Rechts auf Abtreibung sein. Leben muss geschützt werden, auch wenn es erst im Mutterleib heranwächst. Nur gegen die Abtreibung zu sein, genügt aber nicht. Gesellschaftlich muss ein Umfeld geschaffen werden, das Abtreibungen unnötig macht bzw. höchstens noch als ethisches Dilemma6 zulässt.

Den Demokraten müsste gesagt werden, dass das (Un-)Recht auf Abtreibung nur scheinbar ein feministisches Anliegen ist. Es mag zwar Frauen geben, die eine Abtreibung als Mittel zur Familienplanung einsetzen. Das ist aber eine grobe Gedankenlosigkeit, denn dafür gibt es gescheitere Wege. Wer genau hinschaut, wird sehen, dass es in der Regel nicht die Schwangere ist, die abtreiben will, sondern der Mann, dem diese Schwangerschaft ungelegen kommt oder der Mann, der sich bereits aus dem Staub gemacht hat. Oder dann ist es der Druck, der auf heutigen Frauen lastet, möglichst uneingeschränkt der Arbeitswelt zur Verfügung zu stehen.

Mit anderen Worten: Abtreibungen sind in der Regel reine Symptomhandlungen. Dahinter stehen Fragen und Probleme, die angegangen werden müssten, damit eine Abtreibung gar nicht notwendig wird. Dafür bräuchte es aber entsprechende soziale und gesellschaftliche Voraussetzungen, die meist zu einer linken politischen Agenda gehören. Ich habe deshalb in einem früheren Beitrag für eine Zusammenarbeit zwischen rechts- und linksevangelikalen Christen plädiert, um das (Un-)Recht auf Abtreibung glaubwürdig anzugehen7 .

Die Grenzen des Patriotismus

Gott möge Amerika segnen, heisst es in der inoffiziellen Hymne der USA8 . In diesem eindrücklichen Lied werden die schönen Landschaften und die in diesem Land herrschende Freiheit gefeiert. Auch aus christlicher Sicht völlig zurecht, schliesslich wurden die USA stark vom Calvinismus und Pietismus geprägt. Menschenrechte und Demokratie sind der logische Ausdruck eines biblisch-christlichen Menschenbildes. Die USA gelten als die grösste moderne Demokratie der Welt. Gegen die Liebe zu diesen Werten ist nichts auszusetzen.

Wer aber die Bibel etwas genauer liest, wird sehen, dass Gott nicht nur die USA segnen möchte, sondern alle Völker der Erde. Auch sie sollen mit schönen Landschaften, die nicht ausgebeutet, mit Freiheit, Menschenrechten und Demokratie für alle Teile der Bevölkerung gesegnet werden. Schliesslich sind alle Menschen von Gott geschaffen worden. Bei Gott gibt es kein Amerika zuerst. Auch wenn sich jeder Staat selber organisieren, gut für seine Bürgerinnen und Bürger sorgen und ihre Eigeninitiative fördern soll und darf, möchte unser Schöpfer mehr: Er will unseren Blick für das Ganze fördern. Aus seiner Sicht ist die Welt ein Dorf, in dem alle füreinander sorgen sollten sollten.

Diese Sichtweise müsste auch in unsere Migrationspolitik einfliessen, um ein weiteres Steckenpferd von Donald Trump ins Spiel zu bringen. Wie eine ganzheitliche Migrationspolitik aussehen könnte, wurde im Forum in zwei längeren Beiträgen thematisiert9 . Zumindest die Christen müssten die Vorschläge der beiden US-Parteien nach diesen Kriterien messen. An der Grenze Mauern hochzuziehen, das genügt nicht.

Dass viele Menschen sich Sorgen um die Demokratie in den USA machen, hat seine Berechtigung. Im Project 2025 des konservativen Thinktanks Heritage Foundation wird u.a. gezeigt, wie Trump die Macht des Präsidenten markant erweitern könnte. Ein ehemaliger Berater und ein weiterer Verbündeter von Trump haben an diesem Plan mitgearbeitet. Sie gehören zu den Hauptautoren seines neuen Wahlprogramms110 . Ist die Ankündigung Trumps, dass er nach seiner Wiederwahl für einen Tag als Diktator regieren wolle, vielleicht mehr als ein Spass? Kommt es dann zur «sofortigen Massendeportation» der Asylsuchenden, wie das seine Fans beim Parteitag auf Kartonschildern gefordert hatten?

Im US-Wahlkampf wird unterdessen auf beiden Seiten mit harten Bandagen gekämpft. Bisher galt aber: Die Kandidaten respektieren die Verfassung und selbst erbitterte politische Gegner bewahren sich ein Minimum an Anstand. Und bei der Amtseinführung vor dem Capitol gibt man sich die Hand. Zur Amtseinführung von Donald Trump seien sie und ihr Mann im Januar 2017 trotz ihrer Wut erschienen, weil sie die Demokratie und ihre Werte ehren wollte, schrieb Hillary Clinton im Rückblick11 . Dieses Prinzip wurde 2020 von Trump nach seiner Abwahl in Frage gestellt. Kamala Harris kämpft nach den bewährten demokratischen Regeln, Donald Trump ignoriert sie. Den Ausgang der kommenden Wahl dürfte er nur anerkennen, wenn er gewinnt12 . An einer Wahlveranstaltung im März hatte Trump gesagt: «Wenn ich nicht gewählt werde, wird es ein Blutbad geben13

Trump bewundert starke Männer in undemokratischen Regimes: so Wladimir Putin, Viktor Orban und den Nordkoreaner Kim Jong-un. Schon während seiner Amtszeit sprach er davon, dass er eine dritte und vierte Amtszeit anstreben würde – im Scherz. «Liebäugelt Trump mit einer Verfassungsänderung à la Putin oder Hugo Chavez … um seine Amtszeit zu verlängern14 ? Der Bund-Kommentator Christoph Münger kommt zu Schluss: «Es geht bei diesem Wahlkampf nicht um politische Programme, sondern darum, ein Comeback von Donald Trump im Weissen Haus zu verhindern. Egal, wie man zu Kamala Harris steht, ob man ihre Pläne zur Aussen-, Innen- und Wirtschaftspolitik gutheisst oder nicht – man kann ihr nur viel Glück wünschen im Boxkampf für die Demokratie.»

Die beiden Politologie-Experten Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus bezeichnen in einem Vergleich die «dunkle Persönlichkeit» von populistischen Politikern und benutzen dabei die Kriterien Narzissmus (Selbstverliebtheit), Psychopathie (psychische Störungen) und Machiavellismus (unbedingtes Machtstreben). An der Spitze15 liegen Donald Trump, Aleksandar Vucic (Serbien) und Jean-Luc Mélanchon (Frankreich). Die Probleme gibt es also nicht nur in den USA, sondern auch ganz in unserer Nähe.

Trump ist eine Offenbarung

Nochmals: Wie können Christen dazu kommen, Donald Trump zu wählen? Lassen Sie mich zum Schluss eine provozierende These aufstellen.

Zusammen mit dem Neutestamentler Adolf Pohl bin ich der Meinung, dass der Antichrist nicht (nur) eine bestimmte Person ist, die am Schluss der Endzeit auftauchen und den Weltuntergang herbeiführen wird. Pohl schildert ihn in seiner zweibändigen Auslegung der Offenbarung16 als politische und/oder kirchliche Führerfigur, die antichristliche Züge aufweist und zu unterschiedlichen Zeiten aufgetreten ist bzw. auftreten wird. Als die «Offenbarung des Johannes» in den urchristlichen Gemeinden vorgelesen wurde, war es der römische Kaiser Nero, der sich als Antichrist gebärdete. Wichtig: Das letzte Buch der Bibel wurde damals nicht als Drohkulisse für die Zukunft verstanden, sondern als Trostbuch, das den Sieg der Guten Botschaft über das Böse und den Bösen verhiess.

So sollten auch wir die «Offenbarung» lesen. Und damit rechnen, dass immer wieder Führergestalten auftreten, die Züge des Antichristen verkörpern. Sie werden als Messias-Gestalten gefeiert, verbunden mit der Erwartung, dass sie das Volk vom Bösen erlösen können. In Wirklichkeit aber lügen und betrügen sie, verbreiten Irrlehren, verführen ihre Anhänger und schmieden Koalitionen, um ihre Macht zu steigern. Wer vor diesem Hintergrund das Reden und Handeln des Kandidaten Donald Trump analysiert, müsste eigentlich stutzig werden. Trump hat die Lüge in der grössten Demokratie der Welt zu seinem politischen Werkzeug gemacht.

Integriertes Christsein wäre hier ein guter Schutzfaktor. Nicht nur die evangelikale, auch die liberale Theologie ist verführbar. Wie auch eine charismatische «Theologie», die vor allem auf Gefühlen beruht. Zusammen mit den US-Christen brauchen wir auch heute als Schutzfaktor eine Theologie, die den Glauben konsequent von Jesus Christus, dem einzigen Herrn der Welt und seinem Wort an uns prägen lässt, verknüpft mit einem ganzheitlichen Glauben, der von diesem Zentrum aus alle Bereiche des Lebens umfasst.

Vielleicht wurde Donald Trump beim kürzlichen Anschlag darum von Gott bewahrt, damit wir dies neu lernen können.


1. idea Magazin Nr. 30/31 2024
2. Medienmagazin PRO vom 15.7.24
3. Medienmagazin PRO vom 18.7.24
4. idea Magazin Nr. 30/31 2024
5. Der Bund, 18.7.24
6. Bei einem ethischen Dilemma stehen zwei ethisch fragwürdige Positionen einander gegenüber. Es geht dann darum, die weniger fragwürdige Lösung zu wählen.
7. https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/22-8-1-wie-weiter-mit-dem-un-recht-auf-abtreibung.html
8. https://www.youtube.com/watch?v=N-CCBaPxGaY
9. https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/23-9-1-die-migration-neu-denken-lernen-teil-1.html / https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/23-10-1-die-migration-neu-denken-lernen-teil-2.html
10. Der Bund, 11.7.24
11. Der Bund, 19.8.24
12. Der Bund, 3.8.24
13. Der Bund, 9.8.24
14. Der Bund, 3.8.24
15. Der Bund, 12.8.24
16. «Die Offenbarung des Johannes» der Wuppertaler Studienbibel, 1977, Wuppertal, R. Brockhaus-Verlag


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Dieser Artikel erschien zuerst auf INSIST.