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In diesem Jahr feiern wir das 75-jährige Jubiläum der Genfer Konventionen, die das Fundament des humanitären Völkerrechts bilden. Die Schweiz, stolz auf ihre Rolle als Hüterin dieser Konventionen, trägt eine besondere Verantwortung für den Schutz und die Förderung des humanitären Völkerrechts.

Doch wie vereinbart sich diese Verantwortung mit der Weigerung der Schweiz, dem Atomwaffenverbotsvertrag (Wikipedia) beizutreten? Ein Vertrag, der die unmenschlichen Folgen von Atomwaffen klar benennt und deren Einsatz sowie Androhung verbietet.

Atomwaffen widersprechen den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: Sie töten wahllos, verletzen das Gebot der Verhältnismässigkeit, verursachen unsägliches Leid und nehmen Menschen das grundlegendste Recht auf Leben und Sicherheit. Kein Land der Welt wäre vor den katastrophalen humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes gefeit.

Auch aus christlicher Sicht ist der Einsatz von Atomwaffen schwer zu rechtfertigen. Diese Form der massiven Zerstörung steht im Widerspruch zu grundlegenden christlichen Prinzipien wie Nächstenliebe, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Friedensförderung und Gewaltlosigkeit. Deshalb unterstützen viele Kirchen und internationale christliche Verbände den Atomwaffenverbotsvertrag, darunter der Ökumenische Rat der Kirchen und die katholische Kirche. Papst Franziskus hat dazu klar Stellung bezogen und spricht von einer „falschen Logik der Angst“, die dem Besitz solcher Waffen zugrunde liege. Für ihn ist nicht nur der Einsatz von Atomwaffen ein „Verbrechen“, sondern bereits ihr Besitz „unmoralisch“ 1 . Auch die Weltweite Evangelische Allianz befürwortet die Nichtverbreitung von Atomwaffen, doch herrscht keine Einigkeit über ein vollständiges Verbot.

Die Argumente der Befürworter von Atomwaffen basieren vor allem auf der Abschreckungstheorie: Der Besitz von Atomwaffen soll potenzielle Angreifer davon abhalten, einen Angriff zu starten. Ein genanntes Beispiel ist die Ukraine, die nach Ansicht einiger Analysten wohl nicht unter russischen Angriff geraten wäre, hätte sie Nukleararsenal 1994 nicht abgegeben. Diese militärische Strategie ist als Mutual Assured Destruction (MAD) bekannt und war auch ein Grund, warum es während des Kalten Krieges zu keiner direkten Konfrontation zwischen den Supermächten USA und UdSSR kam. In diesem Szenario würden Atomwaffen niemals eingesetzt werden müssen, weil niemand es wagen würde, einen Atomstaat anzugreifen.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil. Diese Strategie ist extrem riskant, da sie keinen Raum für Fehler lässt, deren Folgen katastrophal wären. Ich wünsche mir daher einen Frieden, der auf einer anderen Vision basiert: auf das Völkerrecht und auf gegenseitigem Respekt zwischen allen Völkern und Mitgliedern der menschlichen Familie – oder aus christlicher Perspektive: auf Nächstenliebe.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil.

Dass die Schweiz dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beigetreten ist, obwohl sie sich an den vorbereitenden Verhandlungen aktiv beteiligt hat, liegt wohl weniger daran, dass sie viel auf die Abschreckungstheorie gibt. Vielmehr sieht sie den Nutzen des Vertrags für die nukleare Abrüstung als ungewiss an. Ein Beitritt würde keinen konkreten Nutzen bringen und hätte aussen- und sicherheitspolitische Nachteile (siehe Bericht des Bundesrats). Diese Entscheidung ist reines realpolitisches Kalkül: Man möchte seine Verbündeten nicht unnötig verärgern.

Zwar ist es grundsätzlich sinnvoll, Bündnispartner nicht zu verärgern, doch sollte dies nicht gelten, wenn es um so grundlegende Fragen wie die nukleare Abrüstung geht. Es sollte uns egal sein, ob unsere Forderungen auf Zustimmung stossen oder nicht – wir sollten meiner Meinung nach Teil der globalen Bemühungen um ein Atomwaffenverbot sein. Gerade weil die Schweiz eine starke humanitäre Tradition hat, sollte sie hier als Vorbild vorangehen.

Die Entscheidung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beizutreten, stellt einen Bruch mit der humanitären Tradition der Schweiz dar und beschädigt unsere Glaubwürdigkeit als humanitäre Akteurin. Diese Tradition ist stark von christlichem Gedankengut geprägt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Henri Dunant, der Gründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1863) und erster Sekretär der Genfer Sektion der Evangelischen Allianz. Dunant, ein tiefgläubiger Christ, war erschüttert vom Leid der Verwundeten nach der Schlacht von Solferino (1859). Seine religiösen Überzeugungen motivierten ihn, sich für humanitäre Hilfe einzusetzen und eine Organisation zu gründen, die in Konflikten neutral und unabhängig agiert, um allen Verwundeten Hilfe zu leisten. Diese Tradition prägt bis heute das humanitäre Engagement der Schweiz und sollte uns – und besonders auch die Christinnen und Christen – weiterhin inspirieren. Ein Beitritt zum Vertrag wäre ein klares Bekenntnis zu unserer humanitären Verantwortung und eine Fortsetzung unseres langjährigen Engagements für nukleare Abrüstung.

Ich fordere mit der Allianz für ein Atomwaffenverbot die Schweiz auf, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden. Denn wer, wenn nicht die Schweiz, sollte für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einstehen?

1. https://www.swissinfo.ch/ger/papst-nennt-atomwaffen-anschlag-auf-menschheit/45388980

Photo: Flickr Commons, Public Domain (Link)

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Drei Viertel der Evangelikalen Christinnen und Christen wählten bei den letzten zwei Präsidentschaftswahlen Donald Trump. Eine Auseinandersetzung damit, warum viele amerikanische Evangelikale den derzeitigen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner unterstützen, obwohl er sich gegen ihre moralischen Werte verhält.

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Nach der Nomination von Kamala Harris am kürzlichen Parteikongress der US-Demokraten ist die Ausgangslage für die Präsidentschaftswahlen vom kommenden November klar. Für die Demokratische Partei treten die Baptistin Kamala Harris zusammen mit dem Lutheraner Tim Walz als nominiertem Vizepräsidenten an, während Donald Trump, der als «Freund der Christen» bezeichnet wird, zusammen mit seinem katholischen potenziellen Vizepräsidenten James David Vance ins Rennen steigen wird. Für Christen also eine ausgeglichene Auswahlsendung? Höchstens auf den ersten Blick. Es gibt gute Gründe, den frommen Verpackungen nicht zu trauen und nach der mitgelieferten politischen Kultur sowie dem politischen Programm zu fragen. Und gleich auch noch zu prüfen, ob und wie weit der eigene christliche Glaube die persönliche politische Agenda prägt.

Nehmen wir als Ausgangspunkt das verwerfliche Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump am Parteitag der US-Republikaner im vergangenen Juli (Korrektur: der Anschlag fand kurz vor dem Parteitag der US-Republikaner statt. Die ChristNet-Redaktion). Für Trump war die Deutung nach dem ersten Schock klar: Er habe den Anschlag auf sein Leben nur «dank der Gnade des allmächtigen Gottes» überlebt: «In gewisser Weise fühlte ich mich sehr sicher, denn ich hatte Gott auf meiner Seite1

Beten für Donald Trump?

Der Evangelist Franklin Graham sagte am selben Parteitag zum Anschlag gegen Trump, Gott habe dessen Leben verschont und betete für den möglichen zukünftigen Präsidenten. Robert Jeffress, Leiter der «First Baptist» Megachurch in Dallas, soll Gott gedankt haben, dass «er das Leben dieses mutigen Anführers, der ein Krieger für die Wahrheit und Freund der Christen weltweit ist, geschützt hat2 .» Auch Joe Biden erklärte öffentlich, dass er für Donald Trump beten wolle.

Das ging dem US-Theologen William Schweiker dann doch zu weit. Der Dozent für christliche Ethik an der Universität Chicago meinte, es wäre ihm lieber gewesen, wenn Biden alle aufgefordert hätte, sich für Frieden und Einheit einzusetzen, «statt eine höhere Macht anzurufen». Auf die Frage, ob das knappe Überleben Trumps ein Werk Gottes sei, antwortete er: «Kann sein. Ich weiss das nicht.» Schweiker kritisierte in einem Interview mit der «Zeit» Trump dafür, dass er den christlichen Glauben missbrauche, obwohl er weder für seine Frömmigkeit noch als bibelfester Kirchgänger bekannt sei. «Wenn jemand sich als Christ bezeichnet, dann muss es auf der persönlichen Ebene irgendeine Übereinstimmung zwischen seinem Glauben und seinem Tun geben. Aber ich erkenne bei Trump einfach keinerlei Demut3

Wie weit reicht der christliche Glaube?

Ich würde noch einen Schritt weitergehen. Politikerinnen und Politiker, die sich als Christen bezeichnen oder sich auf den christlichen Glauben berufen, müssten ihren Glauben nicht nur im persönlichen Umfeld ein Stück weit unter Beweis stellen, sondern auch bei ihrer politischen Agenda und in ihrer politischen Kultur. Der nominierte Trump-Vize J.D. Vance ist vor 5 Jahren zum Katholizismus konvertiert. Ob allerdings seine Ansichten über Politik und darüber, wie ein optimaler Staat aussehen sollte, wirklich «ziemlich genau mit der katholischen Soziallehre übereinstimmen»4 , wie er behauptet, muss bezweifelt werden.

Die wenigen Republikaner vom «Lincoln Project», die kritisch gegenüber Donald Trump eingestellt sind, nehmen hier kein Blatt vor den Mund. Im weiteren Umfeld des Parteitags der Republikaner zeigten sie in Endlosschleife Clips, welche an Trumps Skandale erinnern. An den Sturm seiner Anhänger auf das Capitol. An seine Verurteilung wegen Betrugs, nachdem er Schweigegeld an einen Pornostar in seinen Geschäftsunterlagen als Anwaltskosten verschleiert hatte. «Er ist kein Christ, er ist kein Anführer», betonten sie. «Lasst euch nicht verarschen.» Und: «Geht wählen, um seinen Lügen ein Ende zu setzen»5 : eine Anti-Empfehlung für Trump.

Wenn das so ist, warum fallen trotzdem so viele, gerade auch ernsthafte Christen auf Trump herein? Erstens weiss Trump, welche Themen er bespielen muss, um bibelnahe Christen für sich zu gewinnen: beispielsweise die Abtreibung und den Patriotismus. Zweitens folgen manche US-Christen einem individuellen Glauben, den sie in der sonntäglichen Anbetung feiern, ohne ihre angestammte politische Agenda im Lichte des Evangeliums zu hinterfragen. Oft ist diese Haltung auch noch kombiniert mit einer Vorliebe zu Persönlichkeiten, die den Leuten predigen, was Sache ist. Bekanntlich lernt man das Hinterfragen oder Überprüfen von präsentierten Fakten nicht unbedingt im Gottesdienst, dazu wären vertiefende Gespräche nötig. Ist diesen gläubigen Christen nicht aufgefallen, dass Trump für eine gehässige politische Kultur steht? Diesen Wermutstropfen sehen sie ihm offensichtlich nach. Schliesslich sind wir alle Sünder.

Abtreibung als Symptomhandlung

Nun, kein ernsthafter Christ kann ein Befürworter des (Un-)Rechts auf Abtreibung sein. Leben muss geschützt werden, auch wenn es erst im Mutterleib heranwächst. Nur gegen die Abtreibung zu sein, genügt aber nicht. Gesellschaftlich muss ein Umfeld geschaffen werden, das Abtreibungen unnötig macht bzw. höchstens noch als ethisches Dilemma6 zulässt.

Den Demokraten müsste gesagt werden, dass das (Un-)Recht auf Abtreibung nur scheinbar ein feministisches Anliegen ist. Es mag zwar Frauen geben, die eine Abtreibung als Mittel zur Familienplanung einsetzen. Das ist aber eine grobe Gedankenlosigkeit, denn dafür gibt es gescheitere Wege. Wer genau hinschaut, wird sehen, dass es in der Regel nicht die Schwangere ist, die abtreiben will, sondern der Mann, dem diese Schwangerschaft ungelegen kommt oder der Mann, der sich bereits aus dem Staub gemacht hat. Oder dann ist es der Druck, der auf heutigen Frauen lastet, möglichst uneingeschränkt der Arbeitswelt zur Verfügung zu stehen.

Mit anderen Worten: Abtreibungen sind in der Regel reine Symptomhandlungen. Dahinter stehen Fragen und Probleme, die angegangen werden müssten, damit eine Abtreibung gar nicht notwendig wird. Dafür bräuchte es aber entsprechende soziale und gesellschaftliche Voraussetzungen, die meist zu einer linken politischen Agenda gehören. Ich habe deshalb in einem früheren Beitrag für eine Zusammenarbeit zwischen rechts- und linksevangelikalen Christen plädiert, um das (Un-)Recht auf Abtreibung glaubwürdig anzugehen7 .

Die Grenzen des Patriotismus

Gott möge Amerika segnen, heisst es in der inoffiziellen Hymne der USA8 . In diesem eindrücklichen Lied werden die schönen Landschaften und die in diesem Land herrschende Freiheit gefeiert. Auch aus christlicher Sicht völlig zurecht, schliesslich wurden die USA stark vom Calvinismus und Pietismus geprägt. Menschenrechte und Demokratie sind der logische Ausdruck eines biblisch-christlichen Menschenbildes. Die USA gelten als die grösste moderne Demokratie der Welt. Gegen die Liebe zu diesen Werten ist nichts auszusetzen.

Wer aber die Bibel etwas genauer liest, wird sehen, dass Gott nicht nur die USA segnen möchte, sondern alle Völker der Erde. Auch sie sollen mit schönen Landschaften, die nicht ausgebeutet, mit Freiheit, Menschenrechten und Demokratie für alle Teile der Bevölkerung gesegnet werden. Schliesslich sind alle Menschen von Gott geschaffen worden. Bei Gott gibt es kein Amerika zuerst. Auch wenn sich jeder Staat selber organisieren, gut für seine Bürgerinnen und Bürger sorgen und ihre Eigeninitiative fördern soll und darf, möchte unser Schöpfer mehr: Er will unseren Blick für das Ganze fördern. Aus seiner Sicht ist die Welt ein Dorf, in dem alle füreinander sorgen sollten sollten.

Diese Sichtweise müsste auch in unsere Migrationspolitik einfliessen, um ein weiteres Steckenpferd von Donald Trump ins Spiel zu bringen. Wie eine ganzheitliche Migrationspolitik aussehen könnte, wurde im Forum in zwei längeren Beiträgen thematisiert9 . Zumindest die Christen müssten die Vorschläge der beiden US-Parteien nach diesen Kriterien messen. An der Grenze Mauern hochzuziehen, das genügt nicht.

Dass viele Menschen sich Sorgen um die Demokratie in den USA machen, hat seine Berechtigung. Im Project 2025 des konservativen Thinktanks Heritage Foundation wird u.a. gezeigt, wie Trump die Macht des Präsidenten markant erweitern könnte. Ein ehemaliger Berater und ein weiterer Verbündeter von Trump haben an diesem Plan mitgearbeitet. Sie gehören zu den Hauptautoren seines neuen Wahlprogramms110 . Ist die Ankündigung Trumps, dass er nach seiner Wiederwahl für einen Tag als Diktator regieren wolle, vielleicht mehr als ein Spass? Kommt es dann zur «sofortigen Massendeportation» der Asylsuchenden, wie das seine Fans beim Parteitag auf Kartonschildern gefordert hatten?

Im US-Wahlkampf wird unterdessen auf beiden Seiten mit harten Bandagen gekämpft. Bisher galt aber: Die Kandidaten respektieren die Verfassung und selbst erbitterte politische Gegner bewahren sich ein Minimum an Anstand. Und bei der Amtseinführung vor dem Capitol gibt man sich die Hand. Zur Amtseinführung von Donald Trump seien sie und ihr Mann im Januar 2017 trotz ihrer Wut erschienen, weil sie die Demokratie und ihre Werte ehren wollte, schrieb Hillary Clinton im Rückblick11 . Dieses Prinzip wurde 2020 von Trump nach seiner Abwahl in Frage gestellt. Kamala Harris kämpft nach den bewährten demokratischen Regeln, Donald Trump ignoriert sie. Den Ausgang der kommenden Wahl dürfte er nur anerkennen, wenn er gewinnt12 . An einer Wahlveranstaltung im März hatte Trump gesagt: «Wenn ich nicht gewählt werde, wird es ein Blutbad geben13

Trump bewundert starke Männer in undemokratischen Regimes: so Wladimir Putin, Viktor Orban und den Nordkoreaner Kim Jong-un. Schon während seiner Amtszeit sprach er davon, dass er eine dritte und vierte Amtszeit anstreben würde – im Scherz. «Liebäugelt Trump mit einer Verfassungsänderung à la Putin oder Hugo Chavez … um seine Amtszeit zu verlängern14 ? Der Bund-Kommentator Christoph Münger kommt zu Schluss: «Es geht bei diesem Wahlkampf nicht um politische Programme, sondern darum, ein Comeback von Donald Trump im Weissen Haus zu verhindern. Egal, wie man zu Kamala Harris steht, ob man ihre Pläne zur Aussen-, Innen- und Wirtschaftspolitik gutheisst oder nicht – man kann ihr nur viel Glück wünschen im Boxkampf für die Demokratie.»

Die beiden Politologie-Experten Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus bezeichnen in einem Vergleich die «dunkle Persönlichkeit» von populistischen Politikern und benutzen dabei die Kriterien Narzissmus (Selbstverliebtheit), Psychopathie (psychische Störungen) und Machiavellismus (unbedingtes Machtstreben). An der Spitze15 liegen Donald Trump, Aleksandar Vucic (Serbien) und Jean-Luc Mélanchon (Frankreich). Die Probleme gibt es also nicht nur in den USA, sondern auch ganz in unserer Nähe.

Trump ist eine Offenbarung

Nochmals: Wie können Christen dazu kommen, Donald Trump zu wählen? Lassen Sie mich zum Schluss eine provozierende These aufstellen.

Zusammen mit dem Neutestamentler Adolf Pohl bin ich der Meinung, dass der Antichrist nicht (nur) eine bestimmte Person ist, die am Schluss der Endzeit auftauchen und den Weltuntergang herbeiführen wird. Pohl schildert ihn in seiner zweibändigen Auslegung der Offenbarung16 als politische und/oder kirchliche Führerfigur, die antichristliche Züge aufweist und zu unterschiedlichen Zeiten aufgetreten ist bzw. auftreten wird. Als die «Offenbarung des Johannes» in den urchristlichen Gemeinden vorgelesen wurde, war es der römische Kaiser Nero, der sich als Antichrist gebärdete. Wichtig: Das letzte Buch der Bibel wurde damals nicht als Drohkulisse für die Zukunft verstanden, sondern als Trostbuch, das den Sieg der Guten Botschaft über das Böse und den Bösen verhiess.

So sollten auch wir die «Offenbarung» lesen. Und damit rechnen, dass immer wieder Führergestalten auftreten, die Züge des Antichristen verkörpern. Sie werden als Messias-Gestalten gefeiert, verbunden mit der Erwartung, dass sie das Volk vom Bösen erlösen können. In Wirklichkeit aber lügen und betrügen sie, verbreiten Irrlehren, verführen ihre Anhänger und schmieden Koalitionen, um ihre Macht zu steigern. Wer vor diesem Hintergrund das Reden und Handeln des Kandidaten Donald Trump analysiert, müsste eigentlich stutzig werden. Trump hat die Lüge in der grössten Demokratie der Welt zu seinem politischen Werkzeug gemacht.

Integriertes Christsein wäre hier ein guter Schutzfaktor. Nicht nur die evangelikale, auch die liberale Theologie ist verführbar. Wie auch eine charismatische «Theologie», die vor allem auf Gefühlen beruht. Zusammen mit den US-Christen brauchen wir auch heute als Schutzfaktor eine Theologie, die den Glauben konsequent von Jesus Christus, dem einzigen Herrn der Welt und seinem Wort an uns prägen lässt, verknüpft mit einem ganzheitlichen Glauben, der von diesem Zentrum aus alle Bereiche des Lebens umfasst.

Vielleicht wurde Donald Trump beim kürzlichen Anschlag darum von Gott bewahrt, damit wir dies neu lernen können.


1. idea Magazin Nr. 30/31 2024
2. Medienmagazin PRO vom 15.7.24
3. Medienmagazin PRO vom 18.7.24
4. idea Magazin Nr. 30/31 2024
5. Der Bund, 18.7.24
6. Bei einem ethischen Dilemma stehen zwei ethisch fragwürdige Positionen einander gegenüber. Es geht dann darum, die weniger fragwürdige Lösung zu wählen.
7. https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/22-8-1-wie-weiter-mit-dem-un-recht-auf-abtreibung.html
8. https://www.youtube.com/watch?v=N-CCBaPxGaY
9. https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/23-9-1-die-migration-neu-denken-lernen-teil-1.html / https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/23-10-1-die-migration-neu-denken-lernen-teil-2.html
10. Der Bund, 11.7.24
11. Der Bund, 19.8.24
12. Der Bund, 3.8.24
13. Der Bund, 9.8.24
14. Der Bund, 3.8.24
15. Der Bund, 12.8.24
16. «Die Offenbarung des Johannes» der Wuppertaler Studienbibel, 1977, Wuppertal, R. Brockhaus-Verlag


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Dieser Artikel erschien zuerst auf INSIST.

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Gott fordert uns auf, uns für die Nächsten und für Gerechtigkeit einzusetzen, was bei strukturellen Ursachen für Elend und Ungerechtigkeit auch ein politisches Engagement erfordert. Die Kirchen nehmen dabei eine wichtige Rolle als Sprachrohr und als ethische Autorität ein.

Die Kirchen sind in den letzten Jahren unter Druck gekommen, wenn sie in politischen Belangen die Stimme erhoben. Sie wagen es kaum noch, sich politisch zu äussern. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese ethische Autorität mundtot gemacht wird, und müssen sie stützen und ermutigen. Daniel Winkler, der sich als Pfarrer in Riggisberg für Flüchtlinge engagiert, unterstrich am 5. Juni 2024 in seiner Kolumne «Maulkörbe helfen nicht aus der Krise» in der Zeitung «Der Bund»: «Es gehört zum Kernauftrag der Kirchen, sich für die Schwächsten einzusetzen.»1

Kirchen haben seit jeher die Rolle, die Stimme zu erheben, wenn die zentralen Werte des Christentums in Gefahr sind. Nach Jesus ist das zentrale Gesetz, an dem alles hängt: Du sollst deinen Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn unsere Nächsten in Gefahr sind oder ihre Rechte gebeugt werden, dann sind wir aufgefordert, Unrecht anzuprangern. Die Kirche, als Organisation der Christen, hat deshalb auch die Pflicht, die Stimme zu erheben. Dies hat sie in der Vergangenheit immer wieder getan, so z. B. wenn das Recht auf Asyl für verfolgte Menschen in Gefahr war, oder wenn Schuldknechtschaft der Länder im Süden Not und Elend zur Folge hatte.

Die Stimme stösst auf Widerstand und wird zurückgedrängt

Die Konzernverantwortungsinitiative hatte ebenfalls das Anliegen, die Rechte und das Wohl von benachteiligten Menschen im Süden zu schützen und ethische Standards einzufordern. Doch betroffenen wirtschaftlichen Kreisen und deren Vertretern – sowie Menschen, die mit der Initiative nicht einverstanden waren – ging dies zu weit, und sie organisierten ein Kesseltreiben gegen die Kirchen mit der Forderung, dass sie sich nicht mehr einmischen sollen. Kirchlichen Hilfswerken wurde daraufhin Entwicklungshilfegeld verweigert, wenn sie nicht nur Hilfsprojekte organisierten, sondern sich auch für Veränderung der strukturellen Ursachen des Elends einsetzen, also politische Forderungen stellten.2 Der Sensibilisierungkampagne StopArmut zum Beispiel wurde daraufhin die Unterstützung durch das DEZA gestrichen. Auch die diesbezügliche Aufklärung in den Schulen wurde fortan verboten. Wer unsere gesellschaftliche Mitverantwortung für Ausbeutung anspricht, wird also zensuriert. Kirchen und Hilfswerke sowie christliche Medien zögern heute, sich noch politisch zu äussern. Sie haben Angst vor der Verminderung der Spendeneinnahmen und praktizieren damit eine Selbstzensur. 2022, in der Folge der Konzernverantwortungsinitiative, wehrte sich die landeskirchliche Gruppierung «Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung»3 mit einem bedenkenswerten Manifest «Gegen das Schweigen der Kirchen»4 gegen diese Entwicklung.

Die ethische Autorität stützen – und im Dialog bleiben

Wir dürfen nicht zulassen, dass die letzte ethische Autorität, die grenzenlose Machtausübung behindert, mundtot gemacht wird. Das ist genau die Voraussage des ersten Beschreibers des Postmodernismus, Jean-François Lyotard, der sagte, wenn keine Wahrheit und keine gemeinsame Ethik mehr akzeptiert werden und alles beliebig wird, dann wird Macht nicht mehr eingeschränkt und bleibt einziges Kriterium für die Entscheidungsfindung.
Die biblischen Forderungen und ethischen Standards sind klar. Wir dürfen nicht erst dann die Stimme erheben, wenn sich alle Christen einig sind. Es ist klar, dass wir auch auf Widerstand unter Christen stossen, wenn es für das Gewissen unangenehm wird oder wenn unser Wohlstand in Frage gestellt wird. Wenn wir aufdecken und Umkehr fordern, wo Mammon vor Gott herrscht, dann müssen wir immer mit heftigen Reaktionen rechnen, zum Teil auch aus christlichen Kreisen. Unsere Aufgabe ist es, im Dialog zu bleiben, Gegenargumenten zuzuhören, Befindlichkeiten zu validieren und wo möglich gemeinsame Visionen zu entwickeln. Wir dürfen uns aber nicht davon abhalten lassen, Leben zu schützen, uns für die Schwächsten einzusetzen und Gerechtigkeit herzustellen – auch in der Politik. Es darf nicht so weit kommen wie in vielen Ländern, wo Christen und Kirchen aus einem Minderheitsreflex heraus, sichvor der «bösen Welt» abschotten und nur noch einen Kampf für ihre eigene Gruppe führen. Dabei werfen sie sich Führern an den Hals, die Hass säen und die Rechte der Nächsten mit Füssen treten.

Stützen wir also die Kirchen und christlichen Medien, die sich für christliche Werte und Nächstenliebe auch politisch äussern.


1. Kirche unter Druck: Maulkörbe helfen nicht aus der Krise | Der Bund

2. https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-verschaerft-regeln-fuer-entwicklungshilfe-staatsgelder-duerfen-nicht-in-polit-kampagnen-fliessen-ld.1604901

3. Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung – Kirche?

4. Stimme_der_Kirchen_Manifest_Pierre Buehler_dt_fr


Foto von Hansjörg Keller auf Unsplash

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Viele Menschen spüren eine zunehmende Verunsicherung. Die Globalisierung, die Komplexität vieler Zusammenhänge und die Digitalisierung lassen immer mehr Menschen ratlos zurück. Und auch die Kriege an den Rändern Europas sind eine Realität, von der wir dachten, dass wir sie überwunden hätten.

In dieser um sich greifenden Rat- und Hilflosigkeit erstarken die Extreme, die uns Sicherheit und Klarheit versprechen. In vielen Ländern erleben die rechtspopulistischen und nationalistischen Kräfte starken Zulauf. Diktatoren haben Hochkonjunktur, weil sie einfache Lösungen für komplexe Fragestellungen anbieten. Was passiert gerade mit unserer Welt, mit unserer Kultur und unserer Gesellschaft?

Normalität

Was viele Menschen aktuell als verunsichernd und anstrengend erleben, ist der Verlust der Normalität. «Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.» (Wikipedia) Wir kommen aus einer längeren Phase gesellschaftlicher Normalitäten. Vieles war geklärt, galt als «normal» und fand breite Akzeptanz. Man musste nicht ständig überlegen, wie man in der Norm bleibt. In der normierten Normalität kann man sich unbeschwert bewegen, weil einem viele Entscheidungen abgenommen sind. Normalität schafft Sicherheit, Orientierung und Geborgenheit. Sie ist unsere Komfortzone. Normalität ist eine Art verbindende Schnittmenge der Gesellschaft.

«Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.»

Verlust der Normalität

Seit Jahren erleben wir, wie das Feld der Normalität kleiner wird – und die Verunsicherung grösser. Die Schnittmenge wird kleiner, weil die Diversität der Gesellschaft grösser wird. Was über Jahrzehnte als geklärt galt, wird neu verhandelt und infrage gestellt. Wir erleben den Verlust an Normalität in einem Tempo, wie das selten zuvor der Fall war. Im Folgenden nenne ich einige Beispiele, die diese Verunsicherung und Normverluste zum Ausdruck bringen.

Unsere Sprache

Wie dürfen wir noch reden? Plötzlich löst man durch einen Satz oder ein Wort einen Shitstorm aus. Darf ich Begriffe, die mir mein ganzes Leben lang vertraut waren, überhaupt noch gebrauchen oder diskriminiere ich damit jemanden? Darf ein Restaurant noch «Zum Mohren» heissen? Muss ein Strassenname umbenannt werden, wenn er nach einem General aus dem Ersten Weltkrieg benannt ist? Auch das Gendern bedroht die Normalität unserer Sprache. Der Sprachfluss verändert sich und neue Endungen müssen kreiert werden. Selbst in einer der neuesten Kinderbibeln wird konsequent gegendert, was das Vorlesen offen gesagt herausfordernd macht.

Kultur und Nationalität

Eine andere Verunsicherung betrifft Fragen der Kultur und Nationalität. Dürfen meine Kinder an Fasching noch als «Indianer» verkleidet in den Kindergarten gehen? Darf ich als Schweizer Dreadlocks tragen, einen Sombrero aufziehen und Paella kochen – oder ist das bereits kulturelle Aneignung? Dürfen die Kirchenglocken in einem Dorf noch läuten oder ist das jetzt Ruhestörung? Ist die klassische Familie mit Mutter, Vater und Kindern noch der Normalfall oder wird das durch alternative Familienmodelle abgelöst? Und dann hat uns zudem die Coronakrise unverhofft aus unserer Alltagsnormalität herausgerissen.

Konsequenzen

Eine Konsequenz dieses Normalitätsverlusts ist die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach der alten Normalität. Und viele, die eine Rückkehr zu den alten Normen versprechen, erleben Zulauf, egal ob radikale Partei oder fundamentalistische Religion. Eine weitere Konsequenz ist der Rückzug in die eigenen vier Wände und dadurch die Abkehr von der Verunsicherung da draussen. Es wächst das Zugehörigkeitsgefühl zu denen, die den Verlust an Normalität ebenfalls beklagen und gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung denen gegenüber, die diese neuen Klärungen einfordern. Damit vergrössert sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Die Menschen werden fremdenfeindlicher, weil es «die Fremden» sind, die mit ihrer Kultur, ihren Sitten und Werten unsere Normen bedrohen. Und gleichzeitig werden die Fremden unzufriedener, weil sie durch ihren sozialen Stand und den Mangel an Ressourcen ihre eigene vertraute Normalität nicht wieder aufbauen können. Die Anziehungskraft der eigenen Normalität ist daher auch einer der Gründe, warum Integration oft nur schwer gelingt. Integration bedeutet nämlich für fremde Menschen, ihre Normalität aufzugeben und dafür unsere Normalität zu übernehmen. Aber Normalität wächst über Jahrzehnte, über Generationen hinweg und lässt sich nicht einfach austauschen. Und wer Vertreibung, Krieg oder Flucht hinter sich hat, verspürt umso mehr das Bedürfnis nach vertrauter Normalität. Der Mangel an Integrationsbereitschaft muss nicht Ablehnung der neuen Kultur bedeuten, sondern bringt vielmehr die starke Anziehungskraft des Vertrauten zum Ausdruck, die sich in der eigenen Kultur, der eigenen Sprache, den eigenen Traditionen und Sitten zeigt. Bei alledem gibt es eine Schizophrenie in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite will man den maximalen Individualismus, die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen. Und auf der anderen Seite will man ganz viel Normalität und eine möglichst grosse Schnittmenge in der Gesellschaft. Aber man kann auf Dauer nicht beides haben. Wie gehen wir als Christen und als Gemeinden mit dem Verlust von Normalität um?

1. Die Schattenseiten der Normalität wahrnehmen

Ich habe bisher die Vorzüge von Normalität geschildert. Die Geschichte zeigt: Normalität war auch ein Machtinstrument, ein Werkzeug der Unterdrückung. Die Normalität hat Blut an ihren Fingern. Sie war der Nährboden, auf dem ausgegrenzt, ausgeschlossen, diffamiert, denunziert, kriminalisiert und eingesperrt wurde. «Arisch» galt in der Nazi-Ideologie als normal und darum wurden Juden als Ungeziefer betrachtet, die es auszurotten galt. «Weiss-Sein» galt als normal und darum durfte man dunkelhäutige Menschen als Sklaven halten. «Katholisch-Sein» galt als normal und darum durfte man Protestanten verfolgen. Der Mann als Ebenbild Gottes galt als normal und darum wurde in vielen Kirchen Frauen das Lehren und Leiten untersagt. Heterosexualität gilt in vielen Ländern als normal und darum werden in manchen davon queere Menschen mit lebenslanger Haft oder dem Tode bestraft. In Anbetracht dieser Beispiele hat der Verlust der Normalität auch etwas Gutes, denn er zerstört gewachsene Unterdrückungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen.

2. Christen haben schon lange den Bereich der Normalität verlassen

Die Geschichte der Jahwe-Religion ist im Kern die Geschichte des Auszugs und des Aufbruchs aus der Normalität. Abraham als Vater der jüdischen Religion hört von Gott: «Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!» (Gen 12,1). Land, Heimat und Verwandtschaft sind der Inbegriff der Normalität. Aber genau aus dieser Normalität musste Abraham aufbrechen in die Fremde, ins Unbekannte, ins Ungewisse. Und bis heute ist für die Juden der Exodus unter Mose ihre konstituierende Erfahrung als Volk und als Religion. Das Volk Gottes ist und bleibt ein Volk im Aufbruch, ein Volk auf Wanderschaft, ein Volk in der Fremde. Auch im Neuen Testament bestätigt Petrus diese Fremdheit der Christen: «Ihr wisst, liebe Geschwister, dass ihr in dieser Welt nur Ausländer und Fremde seid» (1Petr 2,11). Und Paulus redet davon, dass wir unser Bürgerrecht im Himmel haben (Phil 3,20). Aus der irdischen Normalität wurde für uns eine himmlische Identität. Das griechische Wort für Gemeinde (Ecclesia) heisst wörtlich «die Herausgerufenen». Wir sind herausgerufen aus den Normen der irdischen Gesellschaft. Unsere Zugehörigkeit, Heimat, Verbundenheit und Sicherheit nehmen wir nicht aus dem Bereich der irdischen Normalität, sondern aus der Kraft unserer himmlischen Identität. Was für uns Christen normal ist, orientiert sich nicht an irdischen Normen, sondern an himmlischen Werten. Nicht am gesellschaftlichen Konsens, sondern am Lebensstil Jesu. Als Bürger des Himmels hätte ich viel früher damit beginnen müssen, mich den Machtstrukturen der Normalität entgegenzustellen, mich auf die Seite der Diskriminierten, der Benachteiligten, der Fremden und der Vergessenen zu stellen und mich der betäubenden Wirkung der Normalität zu widersetzen.

3. Die Bedeutung von Solidarität

Dem Verlust der Normalität folgt der Verlust der Solidarität. Der höhere Energieverbrauch für ein Leben mit geringerer Normalität muss irgendwo kompensiert werden. Als Konsequenz konzentrieren wir uns auf uns selbst und müssen uns ganz neu zurechtfinden. Oft geht das auf Kosten der Solidarität, des Ehrenamts und der Hilfsbereitschaft. Alle wollen frische Brötchen am Sonntagmorgen, aber keiner will um 4:00 Uhr diese Brötchen backen. Alle wollen am Sonntag in die Notaufnahme gehen können, aber immer weniger Menschen sind bereit, am Wochenende zu arbeiten. Alle sind dankbar, wenn ihre Kinder im Sportverein gefördert werden, aber an vielen Orten fehlt es an ehrenamtlichen Trainern oder Trainerinnen. Ich erlebe einen dramatischen Rückgang an Solidarität in unserer Gesellschaft. Und der Grund ist nicht, dass Menschen so gottlos, böse und egozentrisch sind, sondern der Verlust der Normalität wird als so verunsichernd und anstrengend erlebt, dass keine Energie und Kapazität übrigbleiben. Als Christen werden wir keine neue Normalität erschaffen! Aber wir können eine Kultur der Solidarität prägen. Wir können unserem Umfeld auf Schritt und Tritt zeigen, was es heisst, solidarisch zu sein. Wir können vorleben, dass sich unsere Solidarität nicht aus der Normalität speist, sondern aus den Werten des Himmels und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unserem Leben. Wir können nicht erst dann wieder solidarisch sein, wenn wir in unserer Komfortzone zurückgefunden haben. Solidarität bezeichnet eine Haltung der Verbundenheit mit – und eine Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten, Bedürfnissen und Zielen anderer Menschen und Geschöpfe. Das ist nichts anderes als Nächstenliebe. Wie wäre es also, wenn wir als Kinder Gottes mithelfen würden, dort die Normalität zu hinterfragen, wo sie als Machtinstrument missbraucht wird, um Menschen oder diese Schöpfung zu dominieren, zu diskriminieren, auszubeuten oder auf ihre Kosten zu leben? Und wie wäre es, wenn wir unser eigenes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit weniger aus der Normalität um uns herum speisen, sondern viel mehr aus dem Bewusstsein, in dieser Welt Fremde zu bleiben, deren Heimat, deren Familie und deren Bürgerrecht im Reich Gottes und in unserem Vater im Himmel liegen? Und wie wäre es, wenn wir trotz dem Verlust an Normalität umso mehr um Solidarität bemüht sind? Wenn wir überall dort, wo wir sind, den Geruch der Solidarität hinterlassen und so unsere Gesellschaft inmitten des Normalitätsverlusts stärken? Diese drei Dinge wünsche ich mir für die Christen.

Dieser Artikel ist erstmals im Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2024 erschienen.

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Vor rund einem Monat haben in Senegal Wahlen mit einem hoffnungsvollen Ausgang stattgefunden. Alain Schaeffer, der seit Anfang 2023 im Senegal tätig ist, erklärt im Artikel die Hintergründe. Er erlebt diesen Machtwechsel als Zeichen göttlicher Führung.

Innerhalb von 20 Tagen vom politischen Gefangenen zum Präsidenten bzw. Premierminister aufsteigen: Dies wurde im Senegal dank einer historischen Wahl möglich, die die Opposition im ersten Wahlgang gewann. Bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten Bassirou Diomaye Faye waren Worte wie «Versöhnung der Herzen», «Wunder» und «Hoffnung» zu hören; in den Wochen vor der Wahl erlebten wir, wie der autokratische Kurs des Landes korrigiert wurde. Diese Machtübergabe an Bassirou Diomaye Faye als Präsident und Ousmane Sonko als Premierminister kann als Wunder bezeichnet werden. In den letzten Wochen erlebte der Senegal einen Traum, der von Idealen durchdrungen ist und Begeisterung hervorruft. Wie könnte man dieses Wunder nicht als göttliches Eingreifen sehen, als Antwort auf die Gebete, die im Land und ausserhalb des Landes für einen politischen Neuanfang im Senegal formuliert wurden?

Eine Vision integrer Männer

Das Programm der neuen Regierung kündigt einen Bruch mit der früheren politischen Elite auf mehreren Ebenen an: mit der Korruption, mit dem, was man als Neokolonialismus bezeichnen kann, und mit den alten politischen Praktiken im Senegal, die ihn bislang daran gehindert haben, voll und ganz Demokratie zu werden. Dies weckt die Hoffnung nach einem tatsächlichen gesellschaftlichen Wandel durch den Regierungswechsel.

Aber wer sind diese beiden Führungspersönlichkeiten, die sich einer solchen Herausforderung stellen? Nach ihrem Studium an der senegalesischen Verwaltungshochschule nach französischem Vorbild arbeiteten beide als Steuerbeamte im Dienste ihres Landes. Dabei liessen sie sich nicht auf die allgemein praktizierte Korruption ein. Sie prangerten stattdessen die bestehende Praxis an und gründeten eine Gewerkschaft, um sowohl eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor zu fordern als diesem auch ein anderes Image als der allgemein üblichen persönlichen Bereicherung zu geben – bis sie vom vorherigen Präsidenten Macky Sall wegen ihres Engagements aus dem öffentlichen Dienst entfernt wurden.

Die ersten Schritte der neuen Regierung geben den Ton für den Richtungswechsel an: Der ehemalige Generalstabschef wurde zum neuen Innenminister ernannt. Dieser hatte 2021 den Einsatz der Armee zur Niederschlagung von Demonstrationen von Oppositionellen abgelehnt, worauf er von seinem Amt zurücktreten musste und auf ein Abstellgleis geschoben wurde. Der Justizminister ist der ehemalige Leiter der Staatsanwaltschaft, der einer Klage des damaligen Oppositionsführers Ousman Sonko wegen fehlerhafter Verfahren stattgeben wollte und daher von seinem Posten entfernt und versetzt wurde. Bereits in den ersten Tagen nach dem Regierungswechsel erhielt die gesamte Verwaltung einschliesslich der Minister einen Brief, in dem die neue Regierung die Schlüsselwörter ihres Programms in Wolof, der wichtigsten lokalen Sprache, verkündete: «Jub Jubal Jubanti», was Rechtschaffenheit, Redlichkeit und Vorbildlichkeit bedeutet. Im gleichen Brief sicherte die Regierung Wistleblowern Schutz zu1 . Die Richtung ist vorgegeben, offensichtlich mit dem Ziel, gegen korrupte Praktiken sofort und nicht schrittweise vorzugehen.

Beziehung zum Evangelium

Nelson Mandela, ein methodistischer Christ und späterer Präsident Südafrikas, war nach 27 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden. In dieser langen Zeit wurden sein Gewissen und seine Überzeugung geformt, dass nur der Weg der Vergebung und Versöhnung zu einer inneren Befreiung führen kann. Ousman Sonko und Bassirou Diomaye haben zusammen mit ihrer Partei das Motto «Hingabe für das Vaterland» geprägt. Ousman Sonko, der wie Nelson Mandela für seine Ideen inhaftiert war, wurde während dieser Zeit einmal in die Notaufnahme und ein anderes Mal auf die Intensivstation gebracht, weil er aus Protest einen Hungerstreik begonnen hatte.

Das ehemals französische Afrika und alles, was an politischem, wirtschaftlichem und militärischem Einfluss Frankreichs dazu gehört, ist für alle ehemaligen französischen Kolonien, darunter auch den Senegal, eine schwere Last. Selbst von besonnenen, gemässigten Christen hört man hier viel darüber. Die Aufarbeitung dieser Missstände sollte idealerweise von den Franzosen selbst vorgenommen werden: Sie sind die Akteure, die sich mit ihrem Verhalten und den Fakten aus der Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um einen Kurswechsel des Bedauerns einzuschlagen und in Folge dessen auf Vergebung und Gnade zu hoffen. Das Gebet ist in dieser Beziehung eine mächtige Kraft! Für Personen, die nicht aus den betroffenen Ländern stammen, ist es wichtig, sich zu informieren und zuzuhören. Wikipedia ist ein gutes Hilfsmittel, das in seinem französischen Artikel zwei von Franzosen verfasste Bücher erwähnt, die die Fakten schonungslos beschreiben und als Referenzdokumente dienen.2

Der Korruption und der Unterdrückung von Gegnern unter dem alten Regime Senegals kann das Evangelium entgegenwirken: Nächstenliebe, Böses mit Gutem vergelten, sich nicht rächen, Vergebung, anderen das tun, was man sich selbst wünschen würde3 – das ist es, was darauf wartet, im Senegal nun gesät zu werden. Diese Themen aus dem Evangelium sind ein Echo der oben beschriebenen Vision, die wir am Tag der Amtseinführung des senegalesischen Präsidenten gehört haben. Es liegt an uns Christen, die Herausforderung anzunehmen, die Gute Nachricht von einem durch Vergebung erneuerten Leben zu verkünden und einen Neuanfang bei Null anzustossen.

Nicht alle Politiker haben das «Glück», wie Mandela 27 Jahre im Gefängnis verbracht zu haben, um dadurch derart grundlegend verändert zu werden und über den reinen Drang zur Macht hinauszuwachsen, der oft das Engagement in der Politik begründet. Glauben, beten und handeln wir, damit der Wille zur Selbsthingabe der neuen senegalesischen Führung, die uns an Jesus und seine Hingabe für die Erlösung der Menschheit erinnert, zu einer Veränderung der Herzen und der Mentalität in diesem schönen Land führen kann.

1. Der Brief wurde in den Medien veröffentlicht: https://teranganews.sn/2024/04/incarner-les-principes-du-jub-jubal-jubanti-la-lettre-du-president-diomaye-faye-aux-fonctionnaires-et-agents-de-ladministration-document/
2. Der französischsprachige Artikel mit «françafrique» überschrieben bei Wikipedia: https://fr.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7afrique
3. S. Bergpredigt (Matthäus 5-7)

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Das ChristNet-Forum vom vergangenen Samstag, 9. März 2024, in Bern wagte sich unter dem Titel „Gesundheitswesen: Zwischen Errungenschaft und Entgleisung“ an ein besonders brisantes Thema. Drei Referate mit unterschiedlichen Zugängen zum Thema mündeten in Rückfragen und Diskussionen zwischen Referierenden und Teilnehmenden.

Dass das Gesundheitswesen aus dem Ruder läuft, ist ein ständiges Thema in der Öffentlichkeit. Dies zeigt sich laut Dr. med. Severin Lüscher, Grossrat und Hausarzt im Kanton Aargau, zum Beispiel an der Anzahl Vorstössen, die von den eidgenössischen Räten behandelt werden. Waren es im Jahr 2001 noch 100, liege diese Zahl mittlerweile bei 600 pro Jahr. Als eines von vielen Problemfeldern nannte der Präsident der Sozial- und Gesundheitskommission des Aargauer Grossen Rates „Anspruchshaltung, Konsumverhalten und Masslosigkeit“. Die Gesundheitspolitik setze Fehlanreize, „jeder betrügt jeden“. Die Versicherten resp. Patientinnen benähmen sich nach der Bezahlung der Franchise wie im Selbstbedienungsladen ohne Kasse am Ausgang. Die Leistungserbringer verrechneten möglichst viele Leistungen. Daran ändere auch die Fallpauschale nichts. Die Versicherungen liessen die Tarifverhandlungen ins Leere laufen und die Politik habe sich der „Kostendämpfung“ verschrieben und sorge gleichzeitig für die Zunahme von Overheadkosten und nicht-produktiven Tätigkeiten. „Wie steht es mit der Sinnhaftigkeit und der Selbstwirksamkeit bei den Behandelnden und Behandelten?“, fragte Lüscher am Ende seines Referats. Das Gesundheitswesen könne nichts daran ändern, dass das Leben endlich sei. „Sind Spiritualität, Religiosität und Glaube im Kontext mit Gesundheit und Krankheit Privatsache oder ein Grundbedürfnis oder beides?“

Dr. Thomas Wild, Geschäftsleiter der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie (AWS) am Institut für Praktische Theologie der Uni Bern, stellte ebenfalls die „hohen Erwartungen an das Gesundheitswesen“ an den Anfang seines Referats. Sie zeigten sich auch an der gesundheitspolitischen Strategie 2020-2030 des Bundesrats. Nicht berücksichtigt würden dabei ethische Dilemmas und der Betreuungsnotstand ausserhalb der Pflege, die Auflösung der privaten Netzwerke also. Krankheit werde in der Bibel sehr umfassend definiert. Dazu gehörten sowohl körperliche Schwäche als auch seelische Verletzung, Erschöpfung und soziale Ausgrenzung – Aspekte, die heute zwar vermehrt Beachtung fänden, aber aufgrund von finanzieller und personeller Ressourcenknappheit in Zukunft durch das Gesundheitswesen kaum mehr angemessen abgedeckt werden könnten. Der frühere Spitalseelsorger am Berner Inselspital hielt fest, dass gerade christliche Seelsorge ermöglichen müsse, Themen anzusprechen, die in Gesellschaft und Institutionen ausgeblendet, übergangen oder tabuisiert werden, und plädierte für ein starkes kirchliches Engagement in Gesundheitsfragen.

Für mehr Ganzheitlichkeit in der Medizin plädierte auch Dr. med. Ursula Klopfstein. Sie zeigte anhand verschiedener Studien die Wichtigkeit von regelmässiger Bewegung im Zusammenhang mit dem Mikrobiom – der Gesamtheit der Mikroorganismen, die sich im und auf dem Menschen tummeln – auf und wie sich dessen Gesundheit nicht nur auf den Stoffwechsel oder die Entzündungsprozesse, sondern auch auf die Psyche auswirkt. Deshalb spielten nicht nur Medikamente bei der Erhaltung der Gesundheit eine grosse Rolle, sondern auch gesundes Essen und Bewegung. Für die ehemalige Pflegefachfrau und heutige Ärztin und Dozentin Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule standen deshalb folgende Fragen im Raum: „Wie kommen wir von einem Krankheits- zu einem Gesundheitswesen?“ und „Wie schaffen wir es, die Gesellschaft von einem ganzheitlichen Ansatz zu überzeugen, ohne zu einer Gesundheitsdiktatur zu werden und ohne vulnerable Gruppen zu diskriminieren?“

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Rechts oder links bestimmt unser politisches Denken und Agieren. Ist dies noch zeitgemäss, um den heutigen Anforderungen an die Politik zu genügen? Oder bräuchte es auch da ein Umdenken, um Lösungen für komplexe Probleme zu finden?

Die parlamentarische Rechts-Links-Sitzordnung bestimmt den politischen Diskurs der Neuzeit. Wie kam es dazu? Während der französischen Revolution wurden die räumliche Platzierung «Rechts» und «Links» politisch aufgeladen zu einem politischen Ordnungssystem, das in den revolutionären Umwälzungen ab 1791 Übersicht versprach. Die neue Nationalversammlung setzte die konservativen Aristokraten/Monarchisten auf die rechte, die fortschriftlich-revolutionären Patrioten auf die linke Seite.
Seitdem gilt diese Sitzordnung als Nomenklatur für alle Parteien im demokratischen Parlamentarismus. Sie bestimmt die politische Debatte bis heute, obwohl – und das ist der Anlass zu den folgenden Überlegungen – die Grenzlinien zwischen «links» und «rechts» programmatisch längst nicht mehr eindeutig sind.

Anachronistische Kategorien

Es mehren sich die Stimmen, welche die Kategorien «rechts und/oder links» für anachronistisch halten. Sie hinterfragen diese Zuweisungen von Parteien und Initiativen 1. .
Ich teile diesen Argwohn und reagiere besonders sensibel, wenn diese Etikettierung auch im christlichen Umfeld permanent unkritisch verwendet wird. Wenn also Einzelne oder Gruppen als «linksevangelikal» oder «rechts» tituliert werden, nur weil sie sozial und ökologisch agieren oder sich für traditionelle Werte einsetzen.

Gäbe es nicht auch ein Politisieren jenseits von links und rechts?

Diese Frage stellte Jim Wallis 1995 in seinem Buch «Die Seele der Politik» 2.
Die alten Schubladen der herrschenden politischen Ideologien von progressiv und konservativ, links und rechts seien gleichermassen unfähig, die gegenwärtige Krise klar zu benennen. Vertreten nicht Konservative und Progressive gemeinsam im Kern die grossen moralischen, sozialen und humanen Werte jüdisch-christlicher Tradition? War nicht das Auseinanderdividieren dieser Werte die Quelle für die daraus entstandenen, bis heute andauernden Polarisierungen und Grabenkämpfe?

Dass sich im 19. Jahrhundert die sozialpolitisch-progressiven Kräfte mit dem atheistischen Materialismus/Humanismus verbündeten, ist ja leider auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Christen und Kirchen den absurden Scheingegensatz von «sozialer Politik» und «Evangelium» jahrzehntelang kultiviert haben. Das zu verhindern ist den wenigen Persönlichkeiten der «Inneren Mission» (Joh. Hinrich Wichern +1881) und der religiös-sozialen Bewegung (Christoph Blumhardt +1919, Hermann Kutter +1931, Leonhard Ragaz +1945) damals leider nicht gelungen.

Das Rechts-Links-Schema franst aus

So prägt das Rechts-Links-Schema unser politisches und gesellschaftliches Bewusstsein als unverrückbares Ordnungsraster. Trotzdem scheint es nicht mehr zu passen.
Das hat das Taktieren der Parteien mit Unterlisten und Listenverbindungen für die letzte Nationalratswahl im Oktober 2023 gezeigt. Wer da mit wem wieso und warum koalierte – da konnte man nur staunen! Mutmassungen, Kopfschütteln und kritische Häme meldeten sich, denn das entsprach ganz und gar nicht unserem Bedürfnis nach verlässlichen Koordinaten.

Eine neue, ungewohnte Gemengelage entsteht global

Diese letztjährige Verwirrung in der Parteienlandschaft ist kein helvetischer Sonderfall, sondern ein europäisch-transatlantisches Phänomen. Es spiegelt einen Epochenwandel wider, der mit dem Fall der Mauer 1989 begonnen hat. Die bisherigen ideologischen Kategorien konservativ-traditionell-national und progressiv-multikulturell-global bröckeln ebenso wie das frühere Gegenüber von Kapitalismus und Kommunismus. China zeigt zum Beispiel, wie erfolgreich ein kapitalistischer Kommunismus sein kann, wenn er nicht von Korruption zersetzt würde.

Eine ideologisierte Politik wie bisher verhindert schon länger gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Multikrisen und zur Deeskalation internationaler Konflikte.
Gegenwärtig erleben wir, dass narzisstische Autokraten, selbstgefällige Oligarchen und egomanische Machtmenschen diese Ideologien nur noch propagandistisch nutzen, um Feindbilder zu kreieren und um dadurch ihre Nation – nein, sich selbst – gross zu machen. Und die Welt beginnt bedenklich zu taumeln.

In welche Richtung wird es gehen?

Die aktuellen Problemfelder «lassen sich nicht mehr so einfach auf der alten politischen Koordinatenachse zwischen rechts und links» verorten 3. Denn wir sind nicht mehr nur ökonomisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch, kulturell, sozialethisch, normativ, existentiell und neuerdings digital/medial in einer noch nie da gewesenen Intensität herausgefordert. Diese in sich autodynamische interagierende Vielfalt sprengt jede monokausale Erklärung. Ideologisch einseitiges, konservatives oder progressives Politisieren muss jetzt dringend offenlegen, welche Interessen da in Wirklichkeit noch wirkmächtig mitspielen.
Besonders bedenklich ist es in kürzester Zeit geworden, wie sich aktuell eine Intoleranz ausgerechnet bei denen radikalisiert, die für sich Toleranz einfordern. Politikerinnen und Parlamentarier, Wissenschaftler und Journalistinnen beklagen, wie seit der Pandemie eine teilweise gehässige Polarisierung und aggressiver werdende Verdächtigungskultur zunimmt, völlig jenseits der alten Rechts-Links-Gräben 4.

Politischer Gegner bleibt Mitmensch

Der christliche Glaube steht in unserer direkten Demokratie permanent in politischer Entscheidung. Umso mehr ist er jetzt gefordert, alte Polarisierungen und ideologische Gegensätze aufzubrechen und durch eine Gesamtschau zu überwinden, die wir beispielhaft bei den Propheten des Alten Testaments und natürlich bei Jesus finden: Es geht nicht um Macht, Profit und «gross sein wollen», sondern um den Dienst umfassender Mitmenschlichkeit.
Der Christliche Glaube analysiert die nationale Politik sowie die internationale und globale Wirklichkeit kritisch und merkt dann schnell, wie unzeitgemäss und perspektivlos das herkömmliche «Rechts-Links-Schema» wirkt. Es entspricht einfach nicht den biblischen Kriterien für eine Politik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung.

Was könnte eine Politik bewegen, die sich in letzter Verbindlichkeit – oder wenigstens minimal prinzipiell – an Jesu Botschaft, Gesinnung und Verhalten orientiert? Natürlich ist es enorm schwierig, Nächstenliebe von Klasse zu Klasse, Partei zu Partei, Rasse zu Rasse, Religion zu Religion und Nation zu Nation politisch umzusetzen. Aber jeder noch so gering erscheinende Versuch liesse uns eine politische Kultur «jenseits von rechts und links» entdecken, einen «dritten Weg», eine «neue Mitte», ein neues Verhalten, eine neue Freiheit von ideologischer Befangenheit.

Und es gab und gibt sie schon, die Politiker und Politikerinnen, die jenseits ihrer Parteizugehörigkeit als Brückenbauer agieren und die ihre Sachkompetenz und politische Überzeugung mit offener Dialogbereitschaft verbinden. Ihr argumentatives Ringen im Gespräch ermöglicht, einander zu verstehen und zu respektieren. Jede anständige, seriöse politische Kommunikation ohne Gehässigkeiten schafft eine Atmosphäre, in der mein politischer Gegner kein Feind ist, sondern Mitmensch bleibt! Gesprächsverweigerungen sind für eine Demokratie gefährlich, sie verhindern lösungsorientierte Sachpolitik und fördern subtile Machtpolitik.

In Schubladen denken – bitte nicht mehr!

Ich weiss: Die Sprachformel «Rechts/Links» lässt sich noch nicht aus der Welt zu schaffen.
Sie wird mir morgen und übermorgen in den Nachrichten und Medien begegnen wie eh und je. Wer aber dieses Schubladen-Denken aus seiner Denkkultur und dann auch aus seinem politischen Alltagsgeschäft verbannt, hebt sein politisches Denken und Agieren auf ein anderes – höheres – Niveau. Und das wird nachhaltige Folgen generieren.
Jeder zaghafte Versuch ist zu begrüssen und wäre unbedingt zu unterstützen!


1 Jüngst Martin Notter: «Die Einteilung in Konservative und Progressive folgt einer Parteilogik. Mit einem Zukunftsrat besteht die Chance, dass diese Logik überwunden wird (TAMagazin 34/2023)
2 Jim Wallis, Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München 1995. S.50-69
3 Robert Habeck, Von hier an anders. Köln 2021. S.68. Habeck ringt ab S.240 um eine Politik der Gemeinschaft in auszuhaltender Differenz jenseits herkömmlichen Lagerdenkens
4 Edgar Schuler, Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert. TA 9.8.2023

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Oktober 2023 auf Insist Consulting. Er wurde für ChristNet leicht überarbeitet.

Foto von Pablo García Saldaña auf Unsplash

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Die Mitglieder aus sechs christlich-sozialen Gruppierungen aus der Romandie trafen sich am Nachmittag des 12. Novembers 2023 in Morges unter dem Thema «Eine Zugehörigkeit, die die Solidarität in den Vordergrund stellt» zur «Plateforme Christianisme Solidaire».

Das Ziel der Tagung, an der auch ChristNet beteiligt war, bestand darin aufzuzeigen, wie politisches Engagement aus dem Glauben heraus konkret aussehen kann. Die beiden Referenten René Knüsel und Michel Sommer gaben zunächst einen Input, die Absicht der Veranstaltung war es jedoch, die Teilnehmenden kollektiv an der Weiterentwicklung des Themas in Workshops und Diskussionen teilhaben zu lassen. So wurden die Workshop-Themen nicht vorgegeben, sondern während der Referate von den Teilnehmenden vorgeschlagen. Auf den aufgehängten Zetteln konnten sich weitere Interessierte eintragen, worauf vier Workshop-Gruppen entstanden.

Der Soziologe René Knüsel beschrieb unsere Gesellschaft als eine Welt pluraler und selektiver Zugehörigkeiten, die auch reversibel seien. Jeder und jede versuche, „sich selbst zu sein“. Es bestehe die Gefahr eines „allgemeinen Rückzugs“ ins individuelle Universum. Um diesem entgegenzuwirken, müsse die gegenseitige Akzeptanz oder das, was Soziologen als „organische Solidarität“ bezeichnen, über die soziologischen Unterschiede hinweg bewusst gepflegt werden. Trotzdem gelte es diese zu respektieren, um das Gegenüber auch wirklich anzuerkennen. Jeder Mensch habe heute seine identitätsstiftende „Bezugsgruppe“, die sich von Person zu Person unterscheide.

Der Bibelwissenschaftler Michel Sommer interpretierte insbesondere Galater 3,26-29 dahingehend, dass die ersten christlichen Gemeinden ein «Überkleid» namens «Christus» empfangen hätten, das sich über die bisherigen konflikthaft unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten hinweg gebildet habe. Die Zugehörigkeit zu Christus sei von Grund auf offen für Vielfalt – sowohl intern als auch extern – in Bezug auf Sprachen, soziale Bindungen, Kulturen, Religionen und Biografien. Das berühmte Gleichnis des barmherzigen Samariters beeindrucke gerade dadurch, dass es zeige, wie ein Samariter seine kulturellen Barrieren überwand, um einen verletzten Juden zu pflegen und sich so mit jemandem zu solidarisieren, den er wohl bis dahin nicht als Nächster anerkannt hätte (Lukas 10,25–37).

Die Plenumsdiskussion mit den Referenten machte deutlich, wie wichtig die Entscheidung für ein verbindliches Engagement ist: Dieses helfe, die Interpretation des Evangeliums zu verfeinern, uns darin zu schulen, einander zuzuhören und unsere Argumentationsfähigkeit zu entwickeln. All dies erfordere Orte des offenen Austauschs und Kirchenkonzepte, die offen für Auseinandersetzungen sind, statt Strukturen, die von Generation zu Generation unreflektiert weitergegeben werden.

Weiter unterstrichen Teilnehmende, dass es darum gehe, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und anzuerkennen, ihnen Sicherheit zu bieten, ohne ihre kulturelle Zugehörigkeit dominieren zu wollen. Dazu gehöre es auch zu lernen, wie man Frieden schafft, indem man eine Verbindung zu anderen herstellt, ohne Gemeinsamkeiten oder einen Beitrag von der Gegenseite vorauszusetzen. Dieses Lernen erfordere Lernorte, an denen man von Angesicht zu Angesicht mit anderen «seine Batterien auflädt». «Peuple de frères, peuple de sœurs» («Volk von Brüdern, Volk von Schwestern») sangen wir zum Abschluss dieses Nachmittags, der unsere Nähe und unsere gemeinsame Sensibilität und Inspirationsquelle trotz verschiedener Kirchenzugehörigkeiten bestätigt hatte.


Übersetzung / Redaktion: Barbara Streit-Stettler

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Die Sitzverteilung des Nationalrats ist abgeschlossen. Trotz neun zusätzlichen Sitzen für die SVP und elf verlorenen Sitzen für die Grünen und Grünliberalen zeigen die Wählendenanteile nur relativ moderate Veränderungen gegenüber 2019.

Der Gewinn der SVP von 2,3 % macht nur zwei Drittel deren Verlusts von 2019 wett, und der Verlust von 3,6 % der Grünen und Grünliberalen beträgtnur einen Drittel des Zugewinns von 2019.

Der Trumpismus in der Schweiz – sind wir verhetzbar?

Doch was uns in schmerzlicher Erinnerung bleiben muss, ist die Art und Weise des Wahlkampfes: Noch nie wurde derart gegen die politischen Gegner gehetzt: Der Startschuss fiel vor zwei Jahren mit den Vorwürfen gegen die «linken Schmarotzerstädte mit ihren komischen Ideen» und der falschen Behauptung, die Städte würden die Landbevölkerung regelmässig überstimmen und damit übergehen. Dieses Jahr wurde in der Wahlpropaganda wiederum ein Amalgam zwischen den Eliten und den «linken» Städten gemacht, die unser Land dem Gender- und dem LGBTQ-Wahn ausliefern wollten. Dabei wird regelmässig ein Kampf zwischen den bösen Eliten und dem guten Volk herbeigeredet, was der Kerndefinition des Populismus entspricht. Kennzeichnend ist das Denken in Feindbildern statt zugunsten von Sachpolitik und systemischer Problemlösung: Die Linken seien schuld daran, dass so viele Ausländer die Schweiz überschwemmen, was die Ursache für alle unsere aktuellen Probleme sei: Energiemangel, Mietzinssteigerung, Umweltverschmutzung und gar die Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Dies obwohl gerade die SVP selber sich in den drei letzteren Bereichen mit Händen und Füssen gegen Verbesserungen wehrt. Das Volk kann nichts dafür, an allem sind die bösen «Anderen» schuld. Diese Politik zielt gegen Menschen statt für Lösungen. Sündenböcke statt Sachpolitik. Wir sollten uns auch Fragen, warum unsere Kirchen einfach schweigen, wenn Hetze und Verleumdung gegen Menschen zunehmend um sich greifen.

Diese Propaganda hat bei diesen Wahlen vor allem bei der Landbevölkerung und in Randregionen verfangen. In diesen Regionen, die konservativer und eher gegen gesellschaftliche Veränderungen sind, hat die SVP am meisten zugelegt. In städtischen Regionen ist der Zuwachs bescheiden geblieben. Man könnte auch eine gewisse Parallele zu Frankreich herstellen, wo die Proteste der Gelbwestenbewegung den ländlichen Regionen zugeschrieben wurden, die sich abgehängt und benachteiligt fühlten.

Konservativer Reflex?

Man kann das Wahlresultat auch als konservativen Rückzug bezeichnen: eher konservative Parteien wie die SVP, aber auch die EDU und die Mitte haben zugelegt, liberale wie die Grünen, Grünliberalen und die FDP/Liberalen haben verloren. Dieser konservative Reflex hat sicher mit den schnellen gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch mit der bedrohlichen Weltlage (als übermächtig wahrgenommene EU, Kriege in der Ukraine und in Gaza/Israel) zu tun. Geholfen haben der SVP die finanziell ungleichen Spiesse in der Kampagnenfinanzierung und vielleicht gar die russische Mithilfe: Bereits in den USA und in anderen europäischen Ländern haben Bots und Fake-Videos denjenigen Parteien geholfen, die den Interessen Russlands näherkommen.

Problemlösung statt Sündenböcke und Feindbilder

Als Christen sollten wir die Sündenbockpolitik ablehnen und Sachpolitik fordern. ChristNet setzt sich in erster Linie für die benachteiligten und machtloseren Menschen in der Schweiz ein, für diejenigen, die unsere Unterstützung am meisten brauchen. Die für sie drängendsten Themen haben systemische Ursachen:

  • Stark steigende Mietzinse: Gemäss einer vom Mieterverband in Auftrag gegebenen Studie haben die Immobilienfirmen vom Jahr 2006 bis 2021 insgesamt 78 Milliarden Franken zu viel an Mietzinsen verlangt -> das heisst jeder Bewohner hat rund 10’000 Franken zu viel bezahlt (pro Wohnung im Schnitt also 30’000 Franken!). Diese Wucherpraktiken, denen die meisten Menschen nicht ausweichen können, ohne auf der Strasse zu leben, haben zu einem grossen Teil ihren Ursprung bei den illegalen Mietzinserhöhungen bei Wohnungswechseln und den nicht weitergegebenen Hypothekarzinssenkungen. Dem muss endlich ein Riegel geschoben werden. Die öffentliche Hand muss auch dafür sorgen können, dass günstige, nicht Profitinteressen unterliegende Wohnungen gebaut werden können. Doch die Immobilienlobby hat dies alles in den Parlamenten immer wieder verhindert.
  • Stark steigende Krankenkassenprämien: Sie haben hauptsächlich mit der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge und immer teureren medizinischen Interventionen zu tun. Dies ist kaum zu verhindern. Es führt kein Weg an der Solidarität vorbei. Nach einer Studie von 2011 ist die Schweiz dasjenige Land in Europa, deren Bewohner am meisten aus der eigenen Tasche für die Gesundheit bezahlen müssen. Mehr Krankenkassenbeihilfen sind dringend nötig!
  • Mindestlöhne: Viele Länder sowie mehr und mehr Kantone kennen Mindestlöhne. Die Wirtschaftswissenschaft ist sich einig, dass dies in der Regel Erfolgsgeschichten sind, bei denen mehr Arbeitsplätze geschaffen werden als verloren gehen, und bei denen viele Menschen endlich ein Einkommen haben, von dem sie leben können. Der Beitrag von Mindestlöhnen an der Inflation ist minim – beispielsweise im Gegensatz zu den Spekulationsgewinnen der Öl- oder Immobilienwirtschaft. Die Inflation hat aber viele Menschen in die Armut getrieben. Mindestlöhne sind deshalb dringlicher denn je!

ChristNet wird weiterhin die Stimme zu Gunsten der Machtlosen und Benachteiligten erheben. Machen Sie mit!


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