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Das ChristNet-Forum vom vergangenen Samstag, 9. März 2024, in Bern wagte sich unter dem Titel „Gesundheitswesen: Zwischen Errungenschaft und Entgleisung“ an ein besonders brisantes Thema. Drei Referate mit unterschiedlichen Zugängen zum Thema mündeten in Rückfragen und Diskussionen zwischen Referierenden und Teilnehmenden.

Dass das Gesundheitswesen aus dem Ruder läuft, ist ein ständiges Thema in der Öffentlichkeit. Dies zeigt sich laut Dr. med. Severin Lüscher, Grossrat und Hausarzt im Kanton Aargau, zum Beispiel an der Anzahl Vorstössen, die von den eidgenössischen Räten behandelt werden. Waren es im Jahr 2001 noch 100, liege diese Zahl mittlerweile bei 600 pro Jahr. Als eines von vielen Problemfeldern nannte der Präsident der Sozial- und Gesundheitskommission des Aargauer Grossen Rates „Anspruchshaltung, Konsumverhalten und Masslosigkeit“. Die Gesundheitspolitik setze Fehlanreize, „jeder betrügt jeden“. Die Versicherten resp. Patientinnen benähmen sich nach der Bezahlung der Franchise wie im Selbstbedienungsladen ohne Kasse am Ausgang. Die Leistungserbringer verrechneten möglichst viele Leistungen. Daran ändere auch die Fallpauschale nichts. Die Versicherungen liessen die Tarifverhandlungen ins Leere laufen und die Politik habe sich der „Kostendämpfung“ verschrieben und sorge gleichzeitig für die Zunahme von Overheadkosten und nicht-produktiven Tätigkeiten. „Wie steht es mit der Sinnhaftigkeit und der Selbstwirksamkeit bei den Behandelnden und Behandelten?“, fragte Lüscher am Ende seines Referats. Das Gesundheitswesen könne nichts daran ändern, dass das Leben endlich sei. „Sind Spiritualität, Religiosität und Glaube im Kontext mit Gesundheit und Krankheit Privatsache oder ein Grundbedürfnis oder beides?“

Dr. Thomas Wild, Geschäftsleiter der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie (AWS) am Institut für Praktische Theologie der Uni Bern, stellte ebenfalls die „hohen Erwartungen an das Gesundheitswesen“ an den Anfang seines Referats. Sie zeigten sich auch an der gesundheitspolitischen Strategie 2020-2030 des Bundesrats. Nicht berücksichtigt würden dabei ethische Dilemmas und der Betreuungsnotstand ausserhalb der Pflege, die Auflösung der privaten Netzwerke also. Krankheit werde in der Bibel sehr umfassend definiert. Dazu gehörten sowohl körperliche Schwäche als auch seelische Verletzung, Erschöpfung und soziale Ausgrenzung – Aspekte, die heute zwar vermehrt Beachtung fänden, aber aufgrund von finanzieller und personeller Ressourcenknappheit in Zukunft durch das Gesundheitswesen kaum mehr angemessen abgedeckt werden könnten. Der frühere Spitalseelsorger am Berner Inselspital hielt fest, dass gerade christliche Seelsorge ermöglichen müsse, Themen anzusprechen, die in Gesellschaft und Institutionen ausgeblendet, übergangen oder tabuisiert werden, und plädierte für ein starkes kirchliches Engagement in Gesundheitsfragen.

Für mehr Ganzheitlichkeit in der Medizin plädierte auch Dr. med. Ursula Klopfstein. Sie zeigte anhand verschiedener Studien die Wichtigkeit von regelmässiger Bewegung im Zusammenhang mit dem Mikrobiom – der Gesamtheit der Mikroorganismen, die sich im und auf dem Menschen tummeln – auf und wie sich dessen Gesundheit nicht nur auf den Stoffwechsel oder die Entzündungsprozesse, sondern auch auf die Psyche auswirkt. Deshalb spielten nicht nur Medikamente bei der Erhaltung der Gesundheit eine grosse Rolle, sondern auch gesundes Essen und Bewegung. Für die ehemalige Pflegefachfrau und heutige Ärztin und Dozentin Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule standen deshalb folgende Fragen im Raum: „Wie kommen wir von einem Krankheits- zu einem Gesundheitswesen?“ und „Wie schaffen wir es, die Gesellschaft von einem ganzheitlichen Ansatz zu überzeugen, ohne zu einer Gesundheitsdiktatur zu werden und ohne vulnerable Gruppen zu diskriminieren?“

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Rechts oder links bestimmt unser politisches Denken und Agieren. Ist dies noch zeitgemäss, um den heutigen Anforderungen an die Politik zu genügen? Oder bräuchte es auch da ein Umdenken, um Lösungen für komplexe Probleme zu finden?

Die parlamentarische Rechts-Links-Sitzordnung bestimmt den politischen Diskurs der Neuzeit. Wie kam es dazu? Während der französischen Revolution wurden die räumliche Platzierung «Rechts» und «Links» politisch aufgeladen zu einem politischen Ordnungssystem, das in den revolutionären Umwälzungen ab 1791 Übersicht versprach. Die neue Nationalversammlung setzte die konservativen Aristokraten/Monarchisten auf die rechte, die fortschriftlich-revolutionären Patrioten auf die linke Seite.
Seitdem gilt diese Sitzordnung als Nomenklatur für alle Parteien im demokratischen Parlamentarismus. Sie bestimmt die politische Debatte bis heute, obwohl – und das ist der Anlass zu den folgenden Überlegungen – die Grenzlinien zwischen «links» und «rechts» programmatisch längst nicht mehr eindeutig sind.

Anachronistische Kategorien

Es mehren sich die Stimmen, welche die Kategorien «rechts und/oder links» für anachronistisch halten. Sie hinterfragen diese Zuweisungen von Parteien und Initiativen 1. .
Ich teile diesen Argwohn und reagiere besonders sensibel, wenn diese Etikettierung auch im christlichen Umfeld permanent unkritisch verwendet wird. Wenn also Einzelne oder Gruppen als «linksevangelikal» oder «rechts» tituliert werden, nur weil sie sozial und ökologisch agieren oder sich für traditionelle Werte einsetzen.

Gäbe es nicht auch ein Politisieren jenseits von links und rechts?

Diese Frage stellte Jim Wallis 1995 in seinem Buch «Die Seele der Politik» 2.
Die alten Schubladen der herrschenden politischen Ideologien von progressiv und konservativ, links und rechts seien gleichermassen unfähig, die gegenwärtige Krise klar zu benennen. Vertreten nicht Konservative und Progressive gemeinsam im Kern die grossen moralischen, sozialen und humanen Werte jüdisch-christlicher Tradition? War nicht das Auseinanderdividieren dieser Werte die Quelle für die daraus entstandenen, bis heute andauernden Polarisierungen und Grabenkämpfe?

Dass sich im 19. Jahrhundert die sozialpolitisch-progressiven Kräfte mit dem atheistischen Materialismus/Humanismus verbündeten, ist ja leider auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Christen und Kirchen den absurden Scheingegensatz von «sozialer Politik» und «Evangelium» jahrzehntelang kultiviert haben. Das zu verhindern ist den wenigen Persönlichkeiten der «Inneren Mission» (Joh. Hinrich Wichern +1881) und der religiös-sozialen Bewegung (Christoph Blumhardt +1919, Hermann Kutter +1931, Leonhard Ragaz +1945) damals leider nicht gelungen.

Das Rechts-Links-Schema franst aus

So prägt das Rechts-Links-Schema unser politisches und gesellschaftliches Bewusstsein als unverrückbares Ordnungsraster. Trotzdem scheint es nicht mehr zu passen.
Das hat das Taktieren der Parteien mit Unterlisten und Listenverbindungen für die letzte Nationalratswahl im Oktober 2023 gezeigt. Wer da mit wem wieso und warum koalierte – da konnte man nur staunen! Mutmassungen, Kopfschütteln und kritische Häme meldeten sich, denn das entsprach ganz und gar nicht unserem Bedürfnis nach verlässlichen Koordinaten.

Eine neue, ungewohnte Gemengelage entsteht global

Diese letztjährige Verwirrung in der Parteienlandschaft ist kein helvetischer Sonderfall, sondern ein europäisch-transatlantisches Phänomen. Es spiegelt einen Epochenwandel wider, der mit dem Fall der Mauer 1989 begonnen hat. Die bisherigen ideologischen Kategorien konservativ-traditionell-national und progressiv-multikulturell-global bröckeln ebenso wie das frühere Gegenüber von Kapitalismus und Kommunismus. China zeigt zum Beispiel, wie erfolgreich ein kapitalistischer Kommunismus sein kann, wenn er nicht von Korruption zersetzt würde.

Eine ideologisierte Politik wie bisher verhindert schon länger gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Multikrisen und zur Deeskalation internationaler Konflikte.
Gegenwärtig erleben wir, dass narzisstische Autokraten, selbstgefällige Oligarchen und egomanische Machtmenschen diese Ideologien nur noch propagandistisch nutzen, um Feindbilder zu kreieren und um dadurch ihre Nation – nein, sich selbst – gross zu machen. Und die Welt beginnt bedenklich zu taumeln.

In welche Richtung wird es gehen?

Die aktuellen Problemfelder «lassen sich nicht mehr so einfach auf der alten politischen Koordinatenachse zwischen rechts und links» verorten 3. Denn wir sind nicht mehr nur ökonomisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch, kulturell, sozialethisch, normativ, existentiell und neuerdings digital/medial in einer noch nie da gewesenen Intensität herausgefordert. Diese in sich autodynamische interagierende Vielfalt sprengt jede monokausale Erklärung. Ideologisch einseitiges, konservatives oder progressives Politisieren muss jetzt dringend offenlegen, welche Interessen da in Wirklichkeit noch wirkmächtig mitspielen.
Besonders bedenklich ist es in kürzester Zeit geworden, wie sich aktuell eine Intoleranz ausgerechnet bei denen radikalisiert, die für sich Toleranz einfordern. Politikerinnen und Parlamentarier, Wissenschaftler und Journalistinnen beklagen, wie seit der Pandemie eine teilweise gehässige Polarisierung und aggressiver werdende Verdächtigungskultur zunimmt, völlig jenseits der alten Rechts-Links-Gräben 4.

Politischer Gegner bleibt Mitmensch

Der christliche Glaube steht in unserer direkten Demokratie permanent in politischer Entscheidung. Umso mehr ist er jetzt gefordert, alte Polarisierungen und ideologische Gegensätze aufzubrechen und durch eine Gesamtschau zu überwinden, die wir beispielhaft bei den Propheten des Alten Testaments und natürlich bei Jesus finden: Es geht nicht um Macht, Profit und «gross sein wollen», sondern um den Dienst umfassender Mitmenschlichkeit.
Der Christliche Glaube analysiert die nationale Politik sowie die internationale und globale Wirklichkeit kritisch und merkt dann schnell, wie unzeitgemäss und perspektivlos das herkömmliche «Rechts-Links-Schema» wirkt. Es entspricht einfach nicht den biblischen Kriterien für eine Politik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung.

Was könnte eine Politik bewegen, die sich in letzter Verbindlichkeit – oder wenigstens minimal prinzipiell – an Jesu Botschaft, Gesinnung und Verhalten orientiert? Natürlich ist es enorm schwierig, Nächstenliebe von Klasse zu Klasse, Partei zu Partei, Rasse zu Rasse, Religion zu Religion und Nation zu Nation politisch umzusetzen. Aber jeder noch so gering erscheinende Versuch liesse uns eine politische Kultur «jenseits von rechts und links» entdecken, einen «dritten Weg», eine «neue Mitte», ein neues Verhalten, eine neue Freiheit von ideologischer Befangenheit.

Und es gab und gibt sie schon, die Politiker und Politikerinnen, die jenseits ihrer Parteizugehörigkeit als Brückenbauer agieren und die ihre Sachkompetenz und politische Überzeugung mit offener Dialogbereitschaft verbinden. Ihr argumentatives Ringen im Gespräch ermöglicht, einander zu verstehen und zu respektieren. Jede anständige, seriöse politische Kommunikation ohne Gehässigkeiten schafft eine Atmosphäre, in der mein politischer Gegner kein Feind ist, sondern Mitmensch bleibt! Gesprächsverweigerungen sind für eine Demokratie gefährlich, sie verhindern lösungsorientierte Sachpolitik und fördern subtile Machtpolitik.

In Schubladen denken – bitte nicht mehr!

Ich weiss: Die Sprachformel «Rechts/Links» lässt sich noch nicht aus der Welt zu schaffen.
Sie wird mir morgen und übermorgen in den Nachrichten und Medien begegnen wie eh und je. Wer aber dieses Schubladen-Denken aus seiner Denkkultur und dann auch aus seinem politischen Alltagsgeschäft verbannt, hebt sein politisches Denken und Agieren auf ein anderes – höheres – Niveau. Und das wird nachhaltige Folgen generieren.
Jeder zaghafte Versuch ist zu begrüssen und wäre unbedingt zu unterstützen!


1 Jüngst Martin Notter: «Die Einteilung in Konservative und Progressive folgt einer Parteilogik. Mit einem Zukunftsrat besteht die Chance, dass diese Logik überwunden wird (TAMagazin 34/2023)
2 Jim Wallis, Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München 1995. S.50-69
3 Robert Habeck, Von hier an anders. Köln 2021. S.68. Habeck ringt ab S.240 um eine Politik der Gemeinschaft in auszuhaltender Differenz jenseits herkömmlichen Lagerdenkens
4 Edgar Schuler, Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert. TA 9.8.2023

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Oktober 2023 auf Insist Consulting. Er wurde für ChristNet leicht überarbeitet.

Foto von Pablo García Saldaña auf Unsplash

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Die Mitglieder aus sechs christlich-sozialen Gruppierungen aus der Romandie trafen sich am Nachmittag des 12. Novembers 2023 in Morges unter dem Thema «Eine Zugehörigkeit, die die Solidarität in den Vordergrund stellt» zur «Plateforme Christianisme Solidaire».

Das Ziel der Tagung, an der auch ChristNet beteiligt war, bestand darin aufzuzeigen, wie politisches Engagement aus dem Glauben heraus konkret aussehen kann. Die beiden Referenten René Knüsel und Michel Sommer gaben zunächst einen Input, die Absicht der Veranstaltung war es jedoch, die Teilnehmenden kollektiv an der Weiterentwicklung des Themas in Workshops und Diskussionen teilhaben zu lassen. So wurden die Workshop-Themen nicht vorgegeben, sondern während der Referate von den Teilnehmenden vorgeschlagen. Auf den aufgehängten Zetteln konnten sich weitere Interessierte eintragen, worauf vier Workshop-Gruppen entstanden.

Der Soziologe René Knüsel beschrieb unsere Gesellschaft als eine Welt pluraler und selektiver Zugehörigkeiten, die auch reversibel seien. Jeder und jede versuche, „sich selbst zu sein“. Es bestehe die Gefahr eines „allgemeinen Rückzugs“ ins individuelle Universum. Um diesem entgegenzuwirken, müsse die gegenseitige Akzeptanz oder das, was Soziologen als „organische Solidarität“ bezeichnen, über die soziologischen Unterschiede hinweg bewusst gepflegt werden. Trotzdem gelte es diese zu respektieren, um das Gegenüber auch wirklich anzuerkennen. Jeder Mensch habe heute seine identitätsstiftende „Bezugsgruppe“, die sich von Person zu Person unterscheide.

Der Bibelwissenschaftler Michel Sommer interpretierte insbesondere Galater 3,26-29 dahingehend, dass die ersten christlichen Gemeinden ein «Überkleid» namens «Christus» empfangen hätten, das sich über die bisherigen konflikthaft unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten hinweg gebildet habe. Die Zugehörigkeit zu Christus sei von Grund auf offen für Vielfalt – sowohl intern als auch extern – in Bezug auf Sprachen, soziale Bindungen, Kulturen, Religionen und Biografien. Das berühmte Gleichnis des barmherzigen Samariters beeindrucke gerade dadurch, dass es zeige, wie ein Samariter seine kulturellen Barrieren überwand, um einen verletzten Juden zu pflegen und sich so mit jemandem zu solidarisieren, den er wohl bis dahin nicht als Nächster anerkannt hätte (Lukas 10,25–37).

Die Plenumsdiskussion mit den Referenten machte deutlich, wie wichtig die Entscheidung für ein verbindliches Engagement ist: Dieses helfe, die Interpretation des Evangeliums zu verfeinern, uns darin zu schulen, einander zuzuhören und unsere Argumentationsfähigkeit zu entwickeln. All dies erfordere Orte des offenen Austauschs und Kirchenkonzepte, die offen für Auseinandersetzungen sind, statt Strukturen, die von Generation zu Generation unreflektiert weitergegeben werden.

Weiter unterstrichen Teilnehmende, dass es darum gehe, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und anzuerkennen, ihnen Sicherheit zu bieten, ohne ihre kulturelle Zugehörigkeit dominieren zu wollen. Dazu gehöre es auch zu lernen, wie man Frieden schafft, indem man eine Verbindung zu anderen herstellt, ohne Gemeinsamkeiten oder einen Beitrag von der Gegenseite vorauszusetzen. Dieses Lernen erfordere Lernorte, an denen man von Angesicht zu Angesicht mit anderen «seine Batterien auflädt». «Peuple de frères, peuple de sœurs» («Volk von Brüdern, Volk von Schwestern») sangen wir zum Abschluss dieses Nachmittags, der unsere Nähe und unsere gemeinsame Sensibilität und Inspirationsquelle trotz verschiedener Kirchenzugehörigkeiten bestätigt hatte.


Übersetzung / Redaktion: Barbara Streit-Stettler

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Die Sitzverteilung des Nationalrats ist abgeschlossen. Trotz neun zusätzlichen Sitzen für die SVP und elf verlorenen Sitzen für die Grünen und Grünliberalen zeigen die Wählendenanteile nur relativ moderate Veränderungen gegenüber 2019.

Der Gewinn der SVP von 2,3 % macht nur zwei Drittel deren Verlusts von 2019 wett, und der Verlust von 3,6 % der Grünen und Grünliberalen beträgtnur einen Drittel des Zugewinns von 2019.

Der Trumpismus in der Schweiz – sind wir verhetzbar?

Doch was uns in schmerzlicher Erinnerung bleiben muss, ist die Art und Weise des Wahlkampfes: Noch nie wurde derart gegen die politischen Gegner gehetzt: Der Startschuss fiel vor zwei Jahren mit den Vorwürfen gegen die «linken Schmarotzerstädte mit ihren komischen Ideen» und der falschen Behauptung, die Städte würden die Landbevölkerung regelmässig überstimmen und damit übergehen. Dieses Jahr wurde in der Wahlpropaganda wiederum ein Amalgam zwischen den Eliten und den «linken» Städten gemacht, die unser Land dem Gender- und dem LGBTQ-Wahn ausliefern wollten. Dabei wird regelmässig ein Kampf zwischen den bösen Eliten und dem guten Volk herbeigeredet, was der Kerndefinition des Populismus entspricht. Kennzeichnend ist das Denken in Feindbildern statt zugunsten von Sachpolitik und systemischer Problemlösung: Die Linken seien schuld daran, dass so viele Ausländer die Schweiz überschwemmen, was die Ursache für alle unsere aktuellen Probleme sei: Energiemangel, Mietzinssteigerung, Umweltverschmutzung und gar die Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Dies obwohl gerade die SVP selber sich in den drei letzteren Bereichen mit Händen und Füssen gegen Verbesserungen wehrt. Das Volk kann nichts dafür, an allem sind die bösen «Anderen» schuld. Diese Politik zielt gegen Menschen statt für Lösungen. Sündenböcke statt Sachpolitik. Wir sollten uns auch Fragen, warum unsere Kirchen einfach schweigen, wenn Hetze und Verleumdung gegen Menschen zunehmend um sich greifen.

Diese Propaganda hat bei diesen Wahlen vor allem bei der Landbevölkerung und in Randregionen verfangen. In diesen Regionen, die konservativer und eher gegen gesellschaftliche Veränderungen sind, hat die SVP am meisten zugelegt. In städtischen Regionen ist der Zuwachs bescheiden geblieben. Man könnte auch eine gewisse Parallele zu Frankreich herstellen, wo die Proteste der Gelbwestenbewegung den ländlichen Regionen zugeschrieben wurden, die sich abgehängt und benachteiligt fühlten.

Konservativer Reflex?

Man kann das Wahlresultat auch als konservativen Rückzug bezeichnen: eher konservative Parteien wie die SVP, aber auch die EDU und die Mitte haben zugelegt, liberale wie die Grünen, Grünliberalen und die FDP/Liberalen haben verloren. Dieser konservative Reflex hat sicher mit den schnellen gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch mit der bedrohlichen Weltlage (als übermächtig wahrgenommene EU, Kriege in der Ukraine und in Gaza/Israel) zu tun. Geholfen haben der SVP die finanziell ungleichen Spiesse in der Kampagnenfinanzierung und vielleicht gar die russische Mithilfe: Bereits in den USA und in anderen europäischen Ländern haben Bots und Fake-Videos denjenigen Parteien geholfen, die den Interessen Russlands näherkommen.

Problemlösung statt Sündenböcke und Feindbilder

Als Christen sollten wir die Sündenbockpolitik ablehnen und Sachpolitik fordern. ChristNet setzt sich in erster Linie für die benachteiligten und machtloseren Menschen in der Schweiz ein, für diejenigen, die unsere Unterstützung am meisten brauchen. Die für sie drängendsten Themen haben systemische Ursachen:

  • Stark steigende Mietzinse: Gemäss einer vom Mieterverband in Auftrag gegebenen Studie haben die Immobilienfirmen vom Jahr 2006 bis 2021 insgesamt 78 Milliarden Franken zu viel an Mietzinsen verlangt -> das heisst jeder Bewohner hat rund 10’000 Franken zu viel bezahlt (pro Wohnung im Schnitt also 30’000 Franken!). Diese Wucherpraktiken, denen die meisten Menschen nicht ausweichen können, ohne auf der Strasse zu leben, haben zu einem grossen Teil ihren Ursprung bei den illegalen Mietzinserhöhungen bei Wohnungswechseln und den nicht weitergegebenen Hypothekarzinssenkungen. Dem muss endlich ein Riegel geschoben werden. Die öffentliche Hand muss auch dafür sorgen können, dass günstige, nicht Profitinteressen unterliegende Wohnungen gebaut werden können. Doch die Immobilienlobby hat dies alles in den Parlamenten immer wieder verhindert.
  • Stark steigende Krankenkassenprämien: Sie haben hauptsächlich mit der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge und immer teureren medizinischen Interventionen zu tun. Dies ist kaum zu verhindern. Es führt kein Weg an der Solidarität vorbei. Nach einer Studie von 2011 ist die Schweiz dasjenige Land in Europa, deren Bewohner am meisten aus der eigenen Tasche für die Gesundheit bezahlen müssen. Mehr Krankenkassenbeihilfen sind dringend nötig!
  • Mindestlöhne: Viele Länder sowie mehr und mehr Kantone kennen Mindestlöhne. Die Wirtschaftswissenschaft ist sich einig, dass dies in der Regel Erfolgsgeschichten sind, bei denen mehr Arbeitsplätze geschaffen werden als verloren gehen, und bei denen viele Menschen endlich ein Einkommen haben, von dem sie leben können. Der Beitrag von Mindestlöhnen an der Inflation ist minim – beispielsweise im Gegensatz zu den Spekulationsgewinnen der Öl- oder Immobilienwirtschaft. Die Inflation hat aber viele Menschen in die Armut getrieben. Mindestlöhne sind deshalb dringlicher denn je!

ChristNet wird weiterhin die Stimme zu Gunsten der Machtlosen und Benachteiligten erheben. Machen Sie mit!


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Was ist Rassismus genau? Wie können wir ihm im Alltag begegnen? Mark Moser macht zunächst eine Auslegeordnung zu den Begrifflichkeiten und gibt schliesslich praktische Tipps, um «aktiv ein antirassistisches Leben» zu führen.

Rechtes Gedankengut und Rassismus ist in der deutschsprachigen Welt gemäss Studien auf dem Vormarsch. In der Schweiz wurden im Jahr 2022 10 Prozent mehr Fälle von Rassismus beim Schweizer Beratungsnetz gemeldet. Fremdenfeindlichkeit, rechtes Gedankengut und die Kategorisierung von Menschen nach sozialer Klasse, Ethnie, Nationalität und Aufenthaltsstatus ist auch in Kirchen leider nicht unüblich.

Im Kontext des Rassismusdiskurses trifft man inzwischen auf eine Vielzahl an Begriffen. Bezeichnungen wie black facing oder black profiling, aber auch auf Ausdrücke wie racial turn, rassiale Differenz, Intersektionalität, white supremacy oder critical whiteness. Grundlegend ist jedoch zunächst eine Klärung dessen, was eigentlich mit «Rasse» und «Rassismus» gemeint ist. Alltagsrassismus bezieht sich auf «lebensweltliche rassistische Praktiken und deren Erfahrung als auch auf die Inkorporierung von rassistischen Einstellungen im Sinne von Denk- und Handlungsmustern sowie emotionale Reaktionen und Prägungen.»

Im Schweizer Recht umfasst Rassismus jede Form von ungerechtfertigter Ungleichbehandlung, Äusserung oder physischer Gewaltanwendung, die Menschen wegen ihrer Herkunft, Rasse, Sprache oder Religion herabsetzt, verletzt oder benachteiligt.

Soziale Kategorisierung als Grundlage von Vorurteilen
Es gibt ein klassisches Konzept von «Rassismus». Rassistisch sind Ideologien, die die Menschheit in einer Anzahl von biologischen Rassen mit genetisch vererbbaren Eigenschaften einteilen, und die so verstandenen Rassen hierarchisch einstufen.
Weiter verbreitet hingegen ist ein verallgemeinertes Konzept (weite Bedeutung) von Rassismus. Es umfasst Ideologien und Praxisformen auf der Basis der Konstruktion von Menschengruppen als Abstammungs- und Herkunftsgemeinschaften, denen kollektive Merkmale zugeschrieben werden, die implizit oder explizit bewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden.

Diese Definition erweitert den Anwendungsbereich des Ausdrucks «Rassismus» von den biologisch aufgefassten Rassen auf alle Arten von Abstammungsgruppen, die als andersartig dargestellt werden, insbesondere auf «ethnische Gruppen» oder «Völker».

In unserer fragmentierten, hyper-individualisierten Gesellschaft beobachten wir die Auswirkungen von sozialer Kategorisierung. Darunter verstehen wir den mentalen Vorgang, bei dem eine Person jemand anderes oder sich selbst einer sozialen Kategorie bzw. sozialen Gruppe zuordnet. Man sieht eine andere Person oder sich selbst als Frau oder Mann, alt oder jung usw. Es handelt sich um einen automatischen Prozess, der sich praktisch nicht unterdrücken lässt. Zum einen ist soziale Kategorisierung nützlich, weil sie erlaubt, Erwartungen aufzubauen und Handlungen vorzubereiten. Zum anderen ist sie Grundlage für die Anwendung von Stereotypen und Vorurteilen.

Die Sozialforschung zeigt, dass wir zwischen den Gruppen (In-Groups), denen man sich zugehörig fühlt, und den Fremdgruppen (Out-Groups), auf die das nicht zutrifft, differenzieren. Ingroup-Mitglieder sehen einander als Individuen, während wir Outgroup-Mitglieder eher als Gruppe sehen. Forschungen zeigen, dass wir bei der Beurteilung von Personen aus anderen sozialen Gruppen (Out-Groups) weniger empathisch und eher kritisch und mit häufig negativen Assoziationen reagieren.

Rassismus ist mit Nächstenliebe nicht vereinbar
«Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» Dieses Gebot der Nächstenliebe ist eindeutig, es enthält keinen Spielraum für Diskriminierung und Verfolgung von Menschen. Gott liebt den Menschen: «Nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden» (1. Johannes 4,10). Dabei ist seine Liebe uns Menschen gegenüber bedingungslos und gilt allen. Ebenfalls sehr bekannt ist folgende Stelle aus dem 2. Buch Mose: «Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen» (2. Mose 20, 22). Die Botschaft ist glasklar: Rassismus ist nicht vereinbar mit dem Gebot der Nächstenliebe. Ebenso ist Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht kompatibel mit einer Theologie, die von einem liebenden Gottesbild ausgeht.

Rassistische Vorstellungen haben sich Weisse zurechtgelegt, um sich von weissen Nicht-Christen (Juden, Muslime etc.) und von christlichen Nicht-Weissen (z. B. Äthiopier, Kopten, Araber, christianisierte Afrikaner, Latinos etc.) abzugrenzen und sich als Herren über sie zu stellen.

Gerade das Christentum muss seinen Anteil am Rassismus anerkennen, aufarbeiten und ihn mit einem anderen Ansatz überwinden. Auf wissenschaftlicher, aber auch auf literarischer Ebene gibt es in letzter Zeit von Angehörigen der People of Colour hervorragende Schriften, die solche Ansätze und Visionen entwerfen.

Für das Christentum ist «Menschlichkeit» ein Ansatz: Vor Gott sind wir Menschen alle gleich. Menschlichkeit zielt auf Versöhnung hin.
Die Vorstellung, dass Gott im Menschen wohnt und nicht irgendwo weit weg im Weltall, kann ein Weg sein, dass Menschen einander respektvoll behandeln.
«Gott schaut herab vom Himmel auf die Menschen, zu sehen, ob da ein Verständiger sei, einen, der nach Gott fragt» (Psalm 53,3).

Konkret: Wie auf Rassismus reagieren?
Rassismus nicht zu akzeptieren ist eine aktive Lebenshaltung. Ich versuche aktiv anti-rassistisch zu leben. Ich toleriere keine rassistischen und diskriminierenden Aussagen und Handlungen. Ich bin bereit, auf diese zu reagieren. Was ich unbedingt vermeiden will, ist eine Situation, in der ich rassistische Aussagen oder Handlungen schweigend hinnehme. Denn Schweigen wird als Zustimmung, als Akzeptanz verstanden.

Je nach Beziehungs- und Vertrauensgrad, wähle ich eine unterschiedliche Vorgehensweise bei rassistischen und diskriminierenden Aussagen.

Wenn kaum Vertrauen und Beziehung vorhanden sind, erlebe ich es als wenig erfolgsversprechend, eine Haltungsänderung bewirken zu wollen. Dann benenne ich die rassistische oder diskriminierende Aussage und Handlung und grenze mich ab. Wichtig ist es, die Aussagen und Handlungen sichtbar zu machen und allenfalls auch Massnahmen einzuleiten.

Ich bin bereit, meine Ablehnung der Aussage verbal zu äussern und fokussiere auf die Aussagen und nicht auf die Person. Ich versuche, die Aussage nachzuvollziehen und lasse die Aussage verifizieren. «Habe ich dich richtig verstanden? Du sagst …» Dies gibt der Person die Möglichkeit, allenfalls die Aussage abzuschwächen oder sie zurückzuziehen.
Ich versuche nachzuvollziehen, warum die Person diese Aussage in diesem Augenblick macht. Ist es aus Wut, Enttäuschung oder aus dem Affekt? Das entschuldigt die Aussage nicht, hilft aber bei der Einordnung.

Ich setze klare Grenzen mit Aussagen wie: «Ich bin da ganz anderer Meinung und ich distanziere mich in aller Deutlichkeit von dieser Aussage.»
Häufig reagieren Menschen, die rassistische Aussagen machen, mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung. Ich verweise häufig auf den gesetzlichen Kontext und die Tatsache, dass Menschen gemäss Schweizer Recht nicht aufgrund ihrer Herkunft, Nationalität usw. diskriminiert werden dürfen und versuche das Gespräch auf Prinzipien und Werte zu lenken.

Gerade weil Religionen Nährböden für rassistische Interpretationen bieten können, ist es besonders wichtig, dass sich Religionsangehörige gegen Rassismus einsetzen.
Als Mensch und Christ bin ich überzeugt, dass Gott der Vater/die Mutter eine liebevolle Gottheit ist. Diese göttliche Liebe gilt entweder niemandem oder allen.


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Wie wählen? Das fragen sich die Stimmberechtigten in diesen Tagen angesichts des Stimmcouverts, das noch nie so dick war. Markus Meury, ChristNet-Präsident, vermittelt Leitlinien und gibt konkrete Tipps.

Ein Gesetzeslehrer fragte Jesus, welches denn das höchste Gebot sei. Jesus antwortete: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.» Dies sei das größte und erste Gebot. Das zweite aber sei ihm gleich: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» An diesen zwei Geboten hänge das ganze Gesetz und die Propheten. (Matthäus 22.35-40)

Die Liebe zu Gott und zu unseren Nächsten soll die Richtschnur für all unser Handeln sein, also auch für unser politisches Handeln. Das Wohlergehen unserer Nächsten muss genauso wie unser eigenes Wohlergehen in unserem Blickfeld sein. Denn jeder Mensch ist von Gott geschaffen und geliebt, jede Person hat vor Gott den gleichen Wert. Aber nicht jeder Mensch hat die gleichen Fähigkeiten, nicht jeder kann sich gleich in unserer Welt durchsetzen und selbst für sein Wohlergehen sorgen.

Wer soll besonders unterstützt werden?

Wer braucht unsere Nächstenliebe besonders? Das Alte Testament fordert mit Nachdruck immer wieder zum Schutz der Witwen, Waisen, Armen, Elenden, Geringen, Ausländer etc. auf. Sie sind in Gottes Augen besonders schutzbedürftig. Oft hängt ihre Situation mit Machtlosigkeit oder Schuldknechtschaft zusammen. Die Propheten klagen das Volk Israel an, dass die Starken versuchten, die Rechte der Armen zu beugen, und fordern dazu auf, diesen zum Recht zu verhelfen. Sie sollen durch den Zehnten versorgt werden, die Schuldknechtschaft soll in regelmässigen Abständen aufgehoben werden.

Im Neuen Testament wendet sich Jesus ebenfalls speziell den Ausgegrenzten und Machtlosen zu. Er stellte dabei allerdings keine Forderungen an das politische System, da das zu dieser Zeit kaum möglich war.

Unsere Verantwortung für die Benachteiligten wahrnehmen

Hier und heute haben wir mit Wahlen und Abstimmungen die Möglichkeit, über die gesellschaftlichen Verhältnisse mitzubestimmen. Wir haben damit eine Mitverantwortung, der wir uns nicht entziehen können. Was wir als Stimmvolk entscheiden und welche Gesetze ein Parlament erlässt, hat konkrete Folgen für unsere Nächsten. Die Bibel weist uns an, bei unseren Entscheiden nicht nur das eigene Wohl, sondern auch dasjenige unserer Nächsten im Auge zu haben.

Wer sind aber heute diejenigen, die unsere Stimme am meisten benötigen? Wer sind die Machtlosen, die Verletzlichen, die Elenden, diejenigen, denen es am schlechtesten geht? Die Menschen in Armut, deren Zahl zunimmt? Die Kinder, die überdurchschnittlich von Armut betroffen sind, die in der Schule immer mehr Druck verspüren und die herumgeschoben werden? Die Migranten, die als Gefahr angesehen werden? Menschen mit Behinderung? Weniger Gebildete, die kaum mehr mitkommen? Oder ganz einfach die weniger Leistungsfähigen? Es ist unsere Aufgabe, diesen Benachteiligten zu fairen Lebenschancen zu verhelfen. Das kann durch Umverteilung, durch Empowerment, durch vereinfachten Zugang zum Recht etc. geschehen.

Um wen kümmert sich die Politik heute?

Die Politik kann Rahmenbedingungen herstellen, die entweder Benachteiligten helfen oder die ihnen noch mehr schaden. Wie sieht es heute aus, für wen wird heute Politik gemacht? Die Mehrheit der Parteien sagt, sie mache «Politik für den Mittelstand» – also nicht für diejenigen, die die Unterstützung am meisten brauchen. Die Stimme der wirklich Benachteiligten wird nicht gehört. Nur so ist es erklärbar,

  • warum die Parlamente in Kantonen und beim Bund jedes Jahr neue Steuersenkungen vorschlagen, die vor allem den Wohlhabenden zugutekommen und die bei den Wohnbeihilfen, Ergänzungsleistungen und Krankenkassensubventionen der Armen wieder eingespart werden.
  • warum die Rechte der Mieter gegen Mietzinserhöhungen ausgehöhlt und umgekehrt der Eigenmietwert abgeschafft werden soll.
  • warum das Bundesparlament kantonale Mindestlöhne zu einem grossen Teil verbieten will, was die ärmsten Schichten besonders trifft.
  • warum nun gar die Idee propagiert wird, Billigkrankenkassen einzurichten, wo die Armen hineingedrängt werden und eine schlechtere Gesundheitsversorgung erhalten.

Wie die richtige Auswahl treffen?

Politik muss denjenigen nützen, die es am meisten brauchen. Sie müssen unsere Aufmerksamkeit erhalten.

Dies bedingt aber, jedem Menschen den gleichen Wert vor Gott und damit die gleiche Aufmerksamkeit und Lebenschancen zuzugestehen. Heute wird aber nur allzu schnell gesagt, dass jeder für sich selbst sorgen soll. Mancherorts werden die Schwächeren in der Gesellschaft gar als Last angesehen oder entwertet. In den Kirchen hören wir manchmal, dass die Benachteiligten sich einfach an Gott wenden sollen und «der Staat» nicht die Aufgaben von Gott übernehmen soll. Gott fordert uns aber dazu auf, das Recht der Armen zu schützen und für sie zu sorgen.

Deshalb: Nehmen wir die Gelegenheit dieser eidgenössichen Wahlen wahr, vor allem diejenigen zu unterstützen, die unsere Unterstützung am meisten benötigen. Wie finden wir das heraus? Bei der unabhängigen Website www.smartvote.ch kann man auf einem Fragebogen die eigenen politischen Prioritäten angeben, worauf die Seite diejenigen Parteien sowie einzelne Kandidatinnen und Kandidaten anzeigt, die der angegebenen politischen Ausrichtung am nächsten sind. Es gibt also keine Ausreden mehr. Jetzt wählen!

Zum Weiterlesen: Unser Umgang mit den Schwachen

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Rechte Gruppierungen stossen sich an den «woken» Forderungen von Feministinnen, Antirassisten und Umweltschützern und behaupten, dass «man ja nichts mehr sagen dürfe». Was bedeutet das für Christinnen und Christen?

Der Begriff «woke» kam im letzten Jahrhundert unter der schwarzen Bevölkerung der USA auf und bedeutete, sich der sozialen Ungerechtigkeit und des Rassismus’ bewusst zu sein. In den Zehnerjahren dieses Jahrhunderts gewann der Begriff innerhalb der Black-Lives-Matter-Bewegung im Zusammenhang mit der Präsidentschaft Donald Trumps wieder vermehrt an Bedeutung. Die nach wie vor bestehenden Ungerechtigkeiten wurden wieder bewusst angesprochen und gegen die Hasspredigten und Verleumdungen Trumps aufgestanden. Durch diese Bewegung fühlen sich nun aber verschiedene andere gesellschaftliche Gruppen bedroht. Auch in Europa und der Schweiz stossen sich konservative Gruppen an den offenen Forderungen von Feministinnen, Antirassisten und Umweltschützern. Sie haben das Gefühl, «man dürfe ja nichts mehr sagen» und empfinden dies als Zensur.

Bei den Forderungen des «Wokeism» geht es aber hauptsächlich um zwei Dinge:

  • Einforderung von Respekt und von Gleichwertigkeit: Menschen sollen nicht mehr abgewertet oder anders behandelt werden, weil sie eine andere Hautfarbe, Herkunft oder sexuelle Orientierung haben. Warum haben wir so Angst davor? Nächstenliebe heisst doch mindestens, dass jeder Mensch den gleichen Wert, das gleiche Recht und die gleichen Chancen haben soll. Was soll daran schlecht sein? Oder geht es unterbewusst um die Angst vor Veränderung oder vor dem Verlust von Privilegien?
  • Einforderung von Teilhabe an Macht und Ressourcen: Beim Feminismus geht es auch darum und dies bedroht die Privilegien und Macht der Männer. Die Gegenbewegung des Machismus (z.B. von Andrew Tate) ist hier deshalb besonders heftig.

«Man darf ja nichts mehr sagen»

Beim Antiwokeismus spielt die Angst mit, «nichts mehr sagen zu dürfen». Doch hier muss differenziert werden: Wir dürfen einfordern, dass Menschen nicht verleumdet werden. Vor-Verurteilungen wegen Rasse oder Herkunft sind nicht o.k. Es darf auch nicht toleriert werden, dass politische Gegner generell entwertet oder als korrupt und kriminell hingestellt werden, wie es Trump oft tat. Meinungen zu Handlungen von Personen dürfen selbstverständlich weiterhin öffentlich kundgetan werden, aber keine ungeprüften Verleumdungen von Menschen oder Gruppen. Hier geht es um Wahrheit – und zwar um nachgeprüfte, nicht einfach um Annahmen.

Hasskultur darf nicht akzeptiert werden

Hassrede und Hasskulturen polarisieren und zerstören die Gesellschaft. Dialog und die Suche nach Problemlösungen ist dadurch kaum mehr möglich. Aus Sicht der Bibel sollen wir die Sünde hassen, den Sünder aber lieben. Und auch unsere Feinde. Doch der Antiwokeismus hat leider zur Folge, dass oft jedes Argument des «Gegners» automatisch dessen «Bosheit» zugeschrieben und gar nicht mehr gehört wird. Damit entsteht eine sehr angenehme Rechtfertigungsideologie gegen jegliche Forderungen nach Veränderung. Diese Blockaden gegen den Dialog dürfen und sollen wir auch in Diskussionen aufdecken und Gehör jenseits von Feindbildern einfordern.

Antiwokeismus kann Zensur hervorbringen

Antiwokeismus kann auch wahnhafte Züge hervorbringen: Manche Vertreter beschwören den Untergang unserer traditionellen Kultur herauf, die Forderung nach Gerechtigkeit, Respekt und eigentlich Nächstenliebe wird als böse taxiert. Hier entsteht eigentlich eine Verdrehung der biblischen Prinzipien. Dies führt bis hin zu Zensur und Kriminalisierung von Wokeisten: In der Mehrheit der amerikanischen Bundesstaaten gibt es inzwischen Zensur gegen die Critical Race Theorie oder wird eine solche angestrebt, in Florida werden Gesetze gegen Wokeismus geschmiedet, und in Missouri ist es verboten, an Schulen Themen zu lehren, die bei Schülern Schuldgefühle hervorbringen könnten (z.B. zur Sklaverei in den USA). Auch bei der CDU in Deutschland und bei der SVP in der Schweiz hat Antiwokeismus Einzug in die Parteiprogramme gefunden. Erste Zensurbestrebungen sind auch bei uns bekannt – so die Androhung langer Haftstrafen gegen Aufdecker von Steuerflucht, das Recht für VIPs, Zeitungsberichte zu unterdrücken, wenn ihre Interessen tangiert sind, das Verbot für NGOs, an den Schulen über das Verhalten von Konzernen im globalen Süden aufzuklären oder der Ruf nach Haftstrafen für Klimaaktivisten. Was wird passieren, wenn Antiwokeismus nach den Wahlen im Parlament an Raum gewinnt? Kritik kann so erstickt werden, Menschen mit Forderungen werden mit dem Etikett «woke» als böse und subversiv hingestellt und damit mundtot gemacht. Solche Einschüchterung von Kritikern entfaltet sicherlich Wirkung.

Lassen wir uns nicht einschüchtern!

Ja, es ist ein Kulturkampf, der sich aktuell abspielt. Es geht um ein Ringen um Nächstenliebe und um die unzerstörbare Würde jedes Menschen. Jeder Mensch ist vor Gott gleich. Wie die Propheten im Alten Testament dürfen wir uns nicht einschüchtern und zensieren lassen. Stehen wir weiterhin mutig auf gegen Ungerechtigkeit und für Nächstenliebe und Respekt in Gesellschaft und Politik!


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~ 6 min

Der Philosoph und Ökonom Dominic Roser beschäftigt sich mit elementaren Fragen rund um Schöpfungsgestaltung, Klimarisiken und Umweltverantwortung. Das wirft nicht nur politische, sondern auch ethische und ganz praktische Fragen auf – und letztendlich auch Glaubensfragen.

Das Klima verändert sich
Die aktuellen Erkenntnisse über das Klima überfahren uns regelmässig. Ständig kommen neue Zahlen, Warnungen, politische Absichtserklärungen hinzu – es ist schwer, in der Flut der Meldungen einen Überblick zu behalten. Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, da blieben die Meldungen noch unter dem Radar der Öffentlichkeit. Unbeachtet von der breiten Masse tauchten bereits anfangs des 20. Jahrhunderts allererste Sorgen über den Klimawandel auf; und schon Mitte der Sechzigerjahre hat der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson vor der Gefahr gewarnt, die Zusammensetzung unserer Atmosphäre zu verändern. Ein lauter Weckruf erfolgte dann in den Siebzigerjahren mit dem Bestseller «Grenzen des Wachstums». Das Buch legte nahe, dass die herrschende Form unseres Wachstums langfristig zum Kollaps führen wird.

Es ging aufwärts …
Dieser Kollaps ist kurzfristig – jedenfalls bis jetzt – nicht eingetreten. Im Gegenteil: Die Menschheit hat seither grossartige Fortschritte gemacht. Im Schnitt sind die Menschen mehr als doppelt so reich wie in den Siebzigerjahren. Der Anteil der Analphabeten ist von rund einem Drittel auf rund einen Siebtel gesunken. Der Anteil der Menschen in extremer Armut ist sogar noch stärker gesunken! Schon nur in den letzten 25 Jahren hat sich die Zahl der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, halbiert – bei gleichzeitig stark wachsender Weltbevölkerung.

Bis vor rund fünf Jahren hat auch die Demokratisierung der Welt grosse Fortschritte verzeichnet. Das ist wunderbar und wir sollten diese positiven Trends bewusst wahrnehmen und feiern. Ja, wir sollten sogar anerkennen, wie diese Errungenschaften kaum möglich gewesen wären ohne all die Entwicklungen, die durch die Industrialisierung und ihren fossilen Energien in Gang gesetzt wurden.

… aber ohne solide Basis
Allerdings hat dieses Wachstum nicht auf einem tragfähigen Fundament stattgefunden. Die Menschheit als Ganzes ist vergleichbar mit einem Menschen in Armut, der überraschend die Chance aufs grosse Geld bekommen hat. Schnell wird eine Villa aus dem Boden gestampft. In der Hast und im Umgang mit unvertrauten Möglichkeiten wird das Haus auf Sand gebaut. Bei der Statik, beim Feuerschutz und bei der Sicherheit wird gespart. Das Haus ist einsturzgefährdet. So auch die Menschheit: All das Heil, das durch den technologischen Fortschritt in die Welt kam, ist real. Aber es ging alles so schnell, dass die Errungenschaften auf wackligem Boden stehen. Wenn wir Glück haben, geht es weiter aufwärts; wenn wir Pech haben, stürzt das Haus ein. Das 21. Jahrhundert könnte das beste oder das schlechteste Jahrhundert unserer Geschichte werden.

All die Risiken, die wir in Kauf nehmen
Der bisherige Fortschritt war echt, aber zwiespältig, weil er als Nebeneffekt die klimaschädlichen Treibhausgase mit sich brachte. Seit der Industrialisierung ist die Erde bereits rund ein Grad erhitzt worden und schon dieses eine Grad kam mit ernsten Schäden. Die Schweizer Gletscher sind in den letzten 40 Jahren um einen Drittel geschrumpft. Aber so prominent die Gletscher in der medialen Bildauswahl auch sind, die relevantesten Auswirkungen betreffen nicht das Eis, sondern die von der Schmelze betroffenen Menschen und Tiere. Und weil der Klimawandel zeitverzögert passiert, werden die grössten Schäden erst in Jahrzehnten anfallen. Und weil er nicht hauptsächlich dort wirkt, wo er verursacht wird, sondern besonders stark im Süden, stehen die Menschen in Armut besonders unter Druck. Und weil das Ausmass des Klimawandels mit grosser Unsicherheit behaftet ist, machen nicht die wahrscheinlichsten Szenarien am meisten Angst, sondern die kleine Chance, dass wir die Kontrolle über das Experiment mit unserer Atmosphäre komplett verlieren. Der Klimawandel ist auch nicht der einzige Schauplatz, wo wir grossartige Fortschritte nur mit schädlichen Nebenwirkungen erreicht haben: Künstliche Intelligenz, Luftverschmutzung, Tierausbeutung, Atombomben usw. sind ebenfalls auf der anderen Seite der Medaille der menschlichen Flucht aus der Armut der letzten 200 Jahre eingraviert. Es ist schwierig, all diese langsamen Trends unseres Wachstums – sowohl die positiven wie negativen – in einem Mal vor Augen zu halten.

Das Schiff muss wenden
Diese Situation ruft nach einer Umkehr. Die Hälfte der Menschheit, die die Flucht aus der Armut bereits geschafft hat, sollte den Fokus nicht auf weiteren Luxus legen, sondern diese Flucht der anderen Hälfte ebenfalls ermöglichen, und zwar auf eine Weise, die ohne drastische Risiken als Nebenwirkung auskommt. Das geschieht zurzeit nicht: Seit der Jahrtausendwende sind die globalen Treibhausgasemissionen nochmals um über einen Drittel gestiegen und an Schweizer Flughäfen steigen über 50 Prozent mehr Passagiere ein und aus. Dabei wäre das Ziel nicht nur ein Ende des Emissionswachstums, sondern eine Halbierung bis 2030 und danach eine schnelle Reduktion auf Netto-Null. Die Menschheit ist nicht daran, die Zusagen aus dem Übereinkommen von Paris von 2015 einzuhalten.

Neue Technologien sind unabdinglich
Es gibt aber Hoffnung! Ein Grund dafür ist: Weil die Klimaherausforderung global ist, zwingt sie uns auch zur globalen Zusammenarbeit. Wir können den Klimawandel dazu nützen, diese Zusammenarbeit zu üben, zu verbessern und positiv zu gestalten, so dass die weltweite Gemeinschaft andere Herausforderungen in der Pipeline – wie beispielsweise künstliche Intelligenz oder Antibiotikaresistenz – schneller und wirksamer angehen kann als den Klimawandel. Ein zweiter Grund zur Hoffnung ist, dass Chancen auf Lösungen da sind – wir müssen sie nur packen. Am hoffnungsvollsten stimmt das Potential sauberer Technologien. Saubere Technologien haben gegenüber anderen Lösungen den Vorteil, dass sie das Klima schützen und den Menschen in Armut (und auch den Menschen, die süchtig nach Wohlstand sind) trotzdem Wachstum ermöglichen. Saubere Technologien haben zudem den Vorteil, dass sie gefördert werden können, ohne dass zuerst auf der ganzen Welt Mehrheiten für den Klimaschutz gesucht werden müssen: Einzelne Länder und Individuen guten Willens können alleine vorangehen. Und: Grosse Sprünge sind möglich. Die Photovoltaik beispielsweise ist innerhalb eines Jahrzehnts um ganze 80 Prozent billiger geworden.

Allerdings macht Solarenergie immer noch weniger als zwei Prozent des globalen Primärenergieverbrauchs aus. Deshalb gilt es ohne Scheuklappen saubere Technologien auf der ganzen Linie zu fördern: Technologien, die der Atmosphäre Emissionen entziehen; sauberes Fleisch und saubere Milch; neue Formen der Kernkraft usw. Gott hat uns unsere Kreativität und Weisheit nicht nur gegeben, um die Schöpfung zu bewahren, sondern auch um sie zu gestalten. Eine Welt mit zehn Milliarden Menschen, die der Armut entkommen sind, braucht ein anderes Wirtschaften als die ländliche und spärlich besiedelte Welt zur Zeit der Bibel.

Klimagerechtigkeit – ein grosses Wort
Damit die Flucht aus der Armut nicht nur uns früh industrialisierten Ländern vorbehalten ist, müssen wir einerseits unsere eigenen Emissionen auf Netto-Null senken. Aber noch viel wichtiger: Wir müssen den Ländern in Armut die sauberen Technologien zur Verfügung stellen, die ihnen die Flucht aus der Armut ebenfalls ermöglichen, ohne dabei das Klima zu zerstören. Dabei sollten wir nicht darauf achten, ob andere reiche Länder wie die USA genauso fest mitziehen, sondern notfalls auch mutig alleine vorangehen. Klimagerechtigkeit heisst aber nicht nur, die Zukunft gut aufzugleisen, sondern auch vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. So hat Zachäus nach seiner Begegnung mit Jesus ausgerufen: «Sieh, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen. Und wenn ich von jemandem etwas erpresst habe, gebe ich es vierfach zurück.» Genauso müssen wir nicht nur die künftigen Emissionen reduzieren, sondern auch die Länder in Armut darin unterstützen, mit dem Klimawandel umzugehen, der aufgrund vergangener Emissionen nicht mehr aufzuhalten ist.

Eine neue Welt in Ewigkeit?
Wir Christen haben manchmal ein zu «statisches» Idealbild: Wir glauben, dass Gott die Welt erschaffen hat und wir nun dafür schauen sollen, sie im Ursprungszustand zu bewahren, bis unsere jetzige Welt eines Tages Platz macht für ein komplett neues Modell. Aber weder sollen wir die jetzige Welt einfach in ihrem gefallenen Zustand bewahren, noch sollen wir einfach auf einen zukünftigen Ersatz hoffen. Wir sollen die Welt mutig weiterentwickeln und bereits jetzt an der neuen Welt arbeiten: In aller Demut und mit Gottes Schwung gilt es, unsere Welt so zu gestalten, dass sie und alle Geschöpfe, denen Gott sie zum Zuhause gegeben hat, zum Aufblühen kommen.


Dieser Text stammt aus dem ERF Medien Magazin 01/2023, dem monatlich erscheinenden Printmagazin der ERF Medien. http://www.erf-medien.ch/magazin

Foto von Gabriel Garcia Marengo auf Unsplash

~ 8 min

Interne Dokumente der Ölindustrie zeigen, dass diese seit den 70er-Jahren von der Klimaerwärmung durch den CO2-Ausstoss weiss. Sie hat der Öffentlichkeit aber trotzdem immer das Gegenteil erzählt, wenn Wissenschafter vor der Klimaerwärmung warnten. Seither sind 50 Jahre vergangen und die Wissenschaft ist sich einig, dass die Erwärmung stattfindet, dass sie zum allergrössten Teil menschengemacht ist und die Folgen auch extreme Schäden beinhalten: Hitzetote, Dürren, Hunger, Migrationsströme, Überschwemmungen, Ansteigen des Meeresspiegels, Verschiebung der Klimazonen mit Verlust der Biodiversität, sowie volkswirtschaftliche Schäden von weit über 10’000 Milliarden Euro pro Jahr. Auf die Schweiz umgerechnet wären das mindestens 10 Milliarden Franken pro Jahr.

Verantwortung übernehmen

Unser Handeln wird also immer dringender. Jedes Jahr, das wir dabei verlieren, fügt noch mehr Schaden hinzu und verändert die Welt, in der unsere Kinder (und noch einige von uns) leben müssen. Sie werden den Preis für die Zerstörungen bezahlen, die wir anrichten. In unserem Rechtssystem sind wir es gewohnt, jemanden haftbar zu machen, der ein Gut zerstört oder jemandem Schaden zugefügt hat. In der Regel muss der Verursacher für den Schaden aufkommen. Sollen wir nun allen Ernstes behaupten, wir wollten weiter das Recht auf Vandalismus haben? Und unsere Kinder und die armen Länder, die am wenigsten CO2 produzieren, die Schäden zahlen lassen? Auch sie sind unsere Nächsten, die wir genauso lieben sollen wie uns selbst.

Was werden wir unseren Kindern sagen, wenn sie uns in 30 Jahren fragen, warum wir so wenig getan oder gar noch gegen Massnahmen gestimmt haben? Wenn wir weiterhin so die Lebensgrundlagen unserer Kinder zerstören, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie eine Wut auf uns entwickeln und sich dereinst auch nicht mehr um uns kümmern wollen, wenn wir alt sind.

Was sollen wir Gott antworten, wenn er uns fragt, warum wir seine schöne Schöpfung zerstört und die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Nächsten so ausgehöhlt haben?

Wir können nicht nur, wir müssen es uns leisten!

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Wir können also nicht sagen, wir könnten uns die Massnahmen nicht leisten. Das würde ja heissen, wir seien gezwungen, weiter auf Kosten unserer Kinder zu leben. Kann das sein? Darf das sein? Wenn wir uns eine Umstellung auf gleich viel nichtfossile Energie nicht leisten können, dann heisst das in der Konsequenz, dass wir unseren Energiekonsum vermindern und nicht weiter auf Kosten unserer Nachkommen leben sollen. Wir kommen also nicht darum herum, unseren Konsum und damit auch unsere Lebensinhalte zu überdenken. Weniger ist mehr! Gehen wir als Christen mutig voran!

Wagen wir den Schritt in die Solidarität

Gemäss Umfragen ist der Klimawandel eine der Hauptsorgen der Schweizer Bevölkerung. Aber Massnahmen dagegen werden letztendlich trotzdem abgelehnt. Die Angst vor den kurzfristigen persönlichen Konsequenzen ist bei vielen stärker als diejenige vor den langfristigen Folgen. Hier wäre auch unsere Solidarität mit denjenigen gefragt, die wegen der Massnahmen gegen den Klimawandel in echte Schwierigkeiten geraten. Dazu gehören Beihilfen für Armutsbetroffene und auch höhere Löhne.
Wir lassen uns aus Angst um unseren Lebensstandard auch leicht von der Propaganda von Vertreterinnen und Vertretern von Partikularinteressen beeinflussen, wie bei der Abstimmung zum CO2-Gesetz vor 2 Jahren, und glauben lieber denjenigen, die Zweifel an der Klimaerwärmung streuen. Lassen wir uns diesmal nicht wieder vom Handeln abhalten! Was haben wir für eine Alternative, wenn nicht dieses Gesetz? Freiwilligkeit genügt offensichtlich nicht. Die Gegner fordern, «dem Wahnsinn der rosa-grünen Linken ein Ende zu machen». Die Alternative ist demnach, den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis die Hitze uns den Hintern versengt…

Argumente

  1. Die Erderwärmung ist real und menschengemacht – Haben wir den Mut, der Realität in die Augen zu schauen!
    Es gibt kaum mehr wissenschaftlich haltbare Gegenargumente. Über 99 % der Klimatologen sind sich einig. Umso erstaunlicher, dass noch im Jahr 2020 nur 60 % der Schweizerinnen und Schweizer glaubten, dass der Klimawandel menschengemacht sei. 40 % entschieden sich also dafür, dem einen Prozent der «Skeptiker» und den Ausreden-Produzenten zu glauben. Wir haben enorm Mühe, etwas anzunehmen, was eine Verhaltensänderung erfordert. Wollen wir allen Ernstes behaupten, 99% der Klimatologen lägen falsch? Oder wollen wir allen Ernstes glauben, all die zehntausenden von Klimatologen seien bestochen und völlig geldgetrieben? Alle, die mal in der Wissenschaft gearbeitet haben, wissen, dass das unmöglich ist: Die meisten Wissenschafter haben die Wahrheitsfindung zum Ziel und es ist unmöglich, dass nicht eine Gruppe unter ihnen Bestechungen auf die Spur kommt.
    Wenn wir warten, bis kein einziger Skeptiker mehr da ist, ist es zu spät. In vielen Bereichen ist eine 100%-ige Sicherheit kaum möglich, aber es ist vernünftig und notwendig zu handeln. Wir werden sicher nicht sagen können, man hat es nicht so genau gewusst! Im 2021 sagte gar die Internationale Energieagentur, die bisher aufs Öl gesetzt hat, dass eine radikale Umkehr nötig ist: Keine neuen Ölfelder mehr erschliessen, massive Investitionen in alternative Energien.
  2. Gottes Schöpfung bewahren
    Gott hat die Erde geschaffen und am Schluss gesagt, es sei gut so. Was würden wir sagen, wenn wir ein schönes Kunstwerk schaffen und jemand anderes es verunstaltet oder zerstört? Wir wären betrübt! Was tun wir mit Gottes Schöpfung, einem fantastischen Kunstwerk? Ehren wir den Schöpfer, wenn wir sein Werk mit Füssen treten?
  3. Die Lebensgrundlagen der Nächsten bewahren
    Das höchste Gebot ist die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Die Klimaerwärmung bringt aber Milliarden unserer Nächsten in schwere Bedrängnis: Wenn tiefliegende fruchtbare Ebenen überschwemmt werden, Naturkatastrophen ganze Landstriche zerstören und noch mehr Gebiete zu Wüsten werden, ist Leben für sie dort nicht mehr möglich. Deshalb ist Klimaschutz gelebte Nächstenliebe.
  4. Die Schäden sind bereits gross, und sie werden riesig sein
    Bereits heute gehen die Schäden durch die Klimaerwärmung in die Milliarden. Das deutsche Umweltbundesamt rechnet bereits heute mit jährlichen Schäden alleine in Europa von 20 Milliarden Euro. In Zukunft sind eine Verschiebung der Klimazonen, noch mehr Dürren, Hungersnöte und damit grosse Migrationsströme zu erwarten. Damit steigen die Kosten ins Unermessliche. Wirtschaftliche Berechnungen gehen von weltweit weit über 10 Billionen Euro Schäden und einer massiv verringerten Wirtschaftsleistung aus. Wer kann das bezahlen?
  5. Wir brauchen Unabhängigkeit vom Öl von Regimes
    Die Hauptreserven von Öl liegen heute zu einem grossen Teil auf den Gebieten von Diktaturen auf der arabischen Halbinsel, in Irak, Iran, Libyen aber auch in Russland, China, Venezuela, Aserbaidschan, etc. Beim Gas sieht es noch schlimmer aus. Die Schweiz tut gut daran, sich aus der Abhängigkeit dieser diktatorischen Regimes zu befreien!

Gegenargumente – und was wir davon halten

  1. «Gott hat alles in der Hand»
    Dieses Argument wird in christlichen Kreisen manchmal so verwendet, wie wenn trotz unseres Handelns nichts passieren könnte.
    -> Gott hat alles in der Hand, aber er lässt uns auch frei walten. Wenn wir seine Schöpfung zerstören, räumt er nicht gleich hinter uns wieder auf.
    -> Die Realität zeigt ein anderes Bild: Nach der Abholzung der Wälder in den Alpen gab es zahlreiche Erdrutsche und Lawinenniedergänge, Gott hat diese nicht verhindert. Es waren die Menschen, die mit Wiederaufforstung reagieren mussten. Der Aralsee ist ausgetrocknet, die Umgebung durch Windablagerung versalzen; in vielen Regionen sind ganze Landstriche oder Flüsse und Seen verseucht und unbrauchbar geworden. Gott verhindert nicht die Folgen unseres Handelns.
  2. «Die Massnahmen sind zu teuer, wir können uns das nicht leisten»
    Die Gegner behaupten ohne glaubwürdige Berechnungen, der Umstieg auf Elektrizität und andere Energiequellen würde die Bevölkerung hunderte von Milliarden Franken kosten. Das sei nicht zahlbar. Dazu meinen wir:
    – Die Zahlen sind erstens völlig überrissen und gehen zweitens von einem technologischen Stillstand aus. In der Realität ist die Nachfrage aber ein Treiber von Innovation und damit von Preissenkung.
    – Schon nur die finanziellen und wirtschaftlichen Schäden eines Verbleibs bei fossilen Brennstoffen sind ab 2050 mit 10 Milliarden Franken pro Jahr zu veranschlagen. Langfristig sind die Kosten für alle also noch viel höher, dazu kommt die Hitze, der Verlust an Biodiversität und viel Leid.
    – Wir müssen also sowieso zahlen. Bei einem Nein bürden wir die Kosten unseren Nachkommen auf.
    – Ob benachteiligte Schichten die Heizung nicht mehr bezahlen können, hängt einzig davon ab, wie viel wir teilen! Es ist also Solidarität und gerechte Einkommensverteilung gefragt.
    – Welches Land kann sich denn Massnahmen leisten, wenn nicht wir? Wenn wir sagen, wir könnten es nicht, was werden dann die anderen Länder sagen?
    – Im Grunde richten wir Zerstörung an, wollen diese aber nicht berappen -> rein rechtlich gesehen, geht das nicht!
  3. Die Versorgungssicherheit ist mit der Umstellung gefährdet
    -> Schon vor dem Winter 2022/23 wurde die Angst vor einer Stromlücke geschürt. Und nirgends in Europa ist sie eingetreten. Sollen wir nun wieder auf diese Angstmache eingehen?
    -> Bei den nicht-fossilen Energiequellen wie Sonnen- oder Windenergie und Erdwärme sind noch riesige Potentiale lokaler Energiegewinnung unausgeschöpft.
    -> Wir werden nicht darum herumkommen, unseren Energiekonsum zu überdenken. Brauchen wir wirklich all das? Wann ist genug? Die meisten können ihren Konsum fossiler Brennstoffe zurückschrauben, wenn sie wollen: Flugreisen sind meist nicht zwingend, früher sind wir auch ohne Flugzeug in die Ferien gereist. Und für viele wäre der Gebrauch des ÖV oder zumindest der Verzicht auf einen SUV zumutbar.
  4. «Freiwilligkeit genügt»
    -> Bisher haben wir auf Freiwilligkeit gesetzt. Der Nachweis, dass dies nicht genügt ist längst erbracht: Der CO2-Ausstoss nimmt nur wenig ab und ein guter Teil der Verminderung ist der Verlagerung der Industrieproduktion ins Ausland geschuldet.
    -> Wenn Vandalen ein Auto beschädigen, fänden wir es akzeptabel, wenn die Polizei die Täter lediglich bittet, vielleicht, falls sie möchten, etwas an den Schaden zu zahlen? Dies widerspricht unserem Rechtsverständnis. Die Abgeltung eines verursachten Schadens darf nicht freiwillig sein. Warum sollen nur die einen zahlen und die andern nicht?
  5. «Aber wir tun doch schon so viel»
    Die Reduktion unseres CO2-Ausstosses genügt nie und nimmer, um bis 2050 klimaneutral zu sein. Es braucht leider noch viel mehr Engagement und zwar von allen!
    Wenn man mit 50 km/h auf eine Wand zufährt, nützt es nichts zu sagen: «Aber ich bremse ja schon auf 30 km/h herunter,  jetzt lass es endlich gut sein…». Der Aufprall wird trotzdem hart.
  6. «Andere Länder sind ja noch schlimmer – es nützt nichts, wenn die Schweiz vorangeht»
    -> Jeder Mensch ist verantwortlich für sein eigenes Handeln, jeder ist mitverantwortlich, weil jeder CO2 beiträgt. Wenn alle warten, bis die Schlimmsten zuerst handeln, dann vergrössert sich die Katastrophe weiter.
    -> Zudem: Wir haben es ja eben auch mit der Gesetzgebung und mit internationalem Druck/Einsatz in der Hand, die grössten CO2-Produzenten zur Reduktion ihres Ausstosses zu zwingen (Ölproduzenten; Frachtschiffe; Kreuzfahrtschiffe; etc.).
    -> Doch, es nützt: Jede Tonne CO2, die eingespart wird, hilft! Würden wir dasselbe auch in anderen Bereichen sagen wie z.B. bei der Abfalltrennung, dem Umsteigen auf den ÖV, dem Wasserverbrauch, etc.? Sollen wir uns nur noch egoistisch verhalten, weil der Beitrag jedes Einzelnen so klein ist? Nein, wir haben alle Mitverantwortung. Gott verlangt von uns, zu tun, was richtig ist, nicht nur dann, wenn andere es auch tun!
    Zudem bewegen sich andere Länder schnell: Die USA und die EU streben Klimaneutralität bis 2050 an und Dutzende von Ländern haben bereits ein Verbot von Benzinmotoren in den nächsten 15 Jahren beschlossen.

Foto von Janosch Diggelmann auf Unsplash

~ 5 min

ChristNet steht seit seiner Gründung für Frieden und gewaltlosen Widerstand ein. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs möchten wir aber nicht blauäugig den Pazifismus hochhalten und damit die Realität des ungerechtfertigten, barbarischen Angriffskrieges leugnen. Dennoch will ChristNet auch jetzt das Bemühen um Frieden nicht tabuisieren oder den Verteidigungskrieg verherrlichen. In diesem Sinne veröffentlichen wir das folgende Interview mit Hansuli Gerber vom Täuferischen Forum für Frieden und Gerechtigkeit (TFFG), der differenziert erklärt, was der Begriff Pazifismus genau bedeutet, warum dieser ein Ideal bleiben soll und weshalb Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch sind. Das heisst nicht, dass ChristNet mit allen Aussagen einverstanden ist.

Seit der Invasion Russlands in der Ukraine scheinen Bellizismus und Militarismus sehr en vogue zu sein bis weit ins linke politische Spektrum. Ist ein Verteidigungskrieg ein sinnvolles und berechtigtes Mittel gegen eine militärische Invasion?

Krieg geht von seinem Wesen ins Extreme und in die Länge. Dabei wird zwischen Zerstörung von Menschenleben und von Sachen kein Unterschied gemacht. Krieg ist immer ein Machtanspruch und sucht, diesen durch Zerstörung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erzwingen. Der Verteidigungskrieg beansprucht für sich, das Gute im Sinn zu haben, die Barbarei zu stoppen und vieles mehr. Doch ist auch er ein Krieg und ein Griff zur Barbarei, um Barbarei zu stoppen. Einen Verteidigungskrieg als geeignetes Gegengift gegen Krieg zu deklarieren ist zuerst mal eine Verharmlosung und Idealisierung des Kriegs und erst danach eine Missachtung der Einladung Gottes zur Liebe und Barmherzigkeit wie sie in Jesus Christus zum Ausdruck kommt.

Als Pazifistin bzw. Pazifist steht man heute plötzlich unter Rechtfertigungsdruck. Hat der Pazifismus versagt?

Der Pazifismus hat nie versagt. Menschen versagen und dass es in der Ukraine und anderswo Krieg gibt, liegt nicht am Pazifismus noch belegt es seine Unzulänglichkeit. Im Gegenteil, Krieg gibt es, weil er durch Aufrüstung vorbereitet wird und weil Menschen auf Waffen setzen, statt auf Begegnung und Kooperation. Weil die Gier vor dem Zusammenleben kommt. Weil das Geld regiert. In dieser Situation braucht es mehr Pazifismus, nicht weniger. Christen, welche Waffen ablehnen, müssen sich mit andern zusammentun, denn sie haben kein Monopol auf den Pazifismus. Menschen guten Willens, welche auf Gewaltlosigkeit setzen können zusammenarbeiten. Das Reich Gottes besteht nicht aus Christen, sondern aus gewaltloser Liebe. Gerade im Krieg ist für Christen der Aufruf «Liebet eure Feinde» die grosse und unumgängliche Herausforderung.

Was ist Gewaltlosigkeit genau? Oder umgekehrt: Was ist Gewalt, wie wird sie definiert? Worauf verzichtet jemand, der gewaltlos lebt?

Hinsichtlich der Gewalt gilt, dass sie einerseits als unausweichlich gesehen und gleichzeitig verharmlost wird. Da braucht es viel Forschung und Aufklärung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte zu Beginn der Jahre 2000 den ersten Bericht zu individueller und zwischenmenschlicher Gewalt. Darin stellte sie fest, dass Gewalt keine Fatalität sein muss und vermeidbar ist. Aufgrund dieses ausführlichen Berichts erklärte die die Versammlung der WHO 2003 Gewaltprävention zu einer Priorität des öffentlichen Gesundheitswesens. Individuelle bzw. zwischenmenschliche Gewalt wird von kollektiver Gewalt, also Krieg und Massengewalt, unterschieden und folgt anderen Logiken. Daher ist es nicht hilfreich, den Krieg und die Verteidigung inmitten des Kriegs mit der Vergewaltigung meiner Frau oder der Bedrohung oder Misshandlung deiner Kinder zu vergleichen. Hier ist Handeln und Widerstand angesagt, aber es ist Vorstellungsvermögen notwendig, es soll nicht zuerst an Waffengewalt gedacht werden, sondern an die vielen Möglichkeiten, den Angreifer zu überraschen und ihn so zu entwaffnen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Ich weiss von Menschen – und ich gehöre dazu, die bewusst keine Waffe im Haus haben, damit die Gefahr einer bewaffneten Eskalation verringert wird. Es ist der Mythos, dass Waffen uns bewahren, der so viele Menschen heute dazu verleitet, sich zu bewaffnen.

Wie kann man Gewalt verhindern?

Es geht darum, zu verstehen, dass Gewalt Gewalt hervorbringt und da ist aus theologischer Sicht unbewaffnetes und entwaffnendes Denken und Handeln angesagt. Dabei können wohl auch mal Tische und Stühle umgeworfen werden, was manche den Pazifisten und Pazifistinnen als Gewalttat Jesu vorhalten. Widerstand gegen Unrecht und Gewalt sind nicht nur legitim, sondern durchaus notwendig im Sinne des Evangeliums und der Bibel, und werden nicht umsonst von Theologen und Philosophinnen als Pflicht bezeichnet.

Gibt es Gewalt, die ihre Berechtigung hat? Beispielsweise Polizeigewalt bei einer Verhaftung?

Der Staat beansprucht ein Gewaltmonopol und das kann ihm zugestanden werden. Dabei muss man ohne Illusion sein: zu oft wird dieses Monopol missbraucht, was in der Struktur der Macht liegt. Der Staat wird von Menschen gemacht und die erliegen zu oft der Versuchung der Macht, welche zur Gewalt greift und diese einsetzt, nicht zur Bewahrung und Verteidigung von Menschen, sondern der bestehenden oder angestrebten Macht und Dominanz. Der Angriff auf die Ukraine verfolgt imperialistische Absichten. Diese machen vor Menschenopfern keinen Halt.

Das heisst, wenn man Pazifist:in ist und Gewalt ablehnt, muss man dem Staat gegenüber misstrauisch sein?

Pazifisten mögen ein sehr unterschiedliches Staats- und Demokratieverständnis haben. Wo zu Ende gedacht, hat Pazifismus nicht ein stures Prinzip, das religiös-ethisch-moralisch ist, sondern die Menschlichkeit im Auge. Dabei ist die Frage der Gerechtigkeit und der Macht- und Besitzverteilung unumgänglich. Das führt historisch immer dazu, dass Pazifismus mit Sozialismus und Anarchismus verbunden ist und damit mit einer Relativierung des staatlichen Absolutheitsanspruches. Auch die alten Täufer waren dem Staat gegenüber misstrauisch, und zu Recht, denn es ging ihm nicht um das Wohl der Menschen, sondern um die bestehende oder angestrebte Ordnung, in welcher die Privilegien und Macht klar auf der Seite der Herrschenden behielt. Wir suchen als Christen nicht, den Staat durch das Reich Gottes zu ersetzen. Doch wir folgen womöglich der Dynamik und den Regeln des Reiches Gottes, sowie Jesus dies gelebt hat. Wenn der Staat dadurch etwas menschlicher wird, umso besser. Unsere Mission ist, uns für die Liebe und gegen die Entmenschlichung einzusetzen. Entmenschlichung ist ein wichtiges Stichwort in einer von Krieg, Klimakrise und Technokratie geschüttelten Welt!

Ist Pazifismus immer mit Gewaltfreiheit gleichzusetzen oder geht Pazifismus auch mit Gewalt?

Der Begriff Pazifismus wird verschieden verstanden und je nach Kontext verschieden gebraucht. Vielleicht ist er weniger geeignet als Gewaltlosigkeit. Grundsätzlich bedeutet es, Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung oder zur Erreichung bestimmter Absichten abzulehnen, beziehungsweise die Teilnahme an gewalttätigen Handlungen zu verweigern. Es gibt verschiedene Pazifisten: Nuklearpazifistinnen beispielsweise lehnen Atombewaffnung aber nicht zwingend andere Waffen ab. Radikale Pazifisten dagegen stellen sich gegen jede militärische Bewaffnung und weigern sich, daran teilzunehmen. Es gibt Leute, die sind grundsätzlich der Gewaltlosigkeit verpflichtet, aber würden nicht in jedem Fall Gewalt ausschliessen. Das wohl grösste Problem mit dem Begriff ist, dass er mit Passivität verbunden wird oder gar mit Gleichgültigkeit. Das ist ein verhängnisvolles Missverständnis. Pazifismus hat einen nicht besonders guten Ruf und muss gewissermassen als Ideal rehabilitiert werden.

Inwiefern ist Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch?

Gewaltlosigkeit ist biblisch und vor allem evangelisch, weil sie den unbewaffneten Widerstand im Auge hat zum Wohl und zur Bewahrung aller betroffenen Menschen, statt einer bestimmten Ordnung. Sie weiss, dass wer zum Schwert greift, durch das Schwert umkommt. Und sei es die Generation danach. Jesus hat mit seiner unbewaffneten und entwaffnenden Art gezeigt, dass in der «Herrschaft» Gottes (Reich Gottes) andere Regeln gelten als im Staat und unter Menschen, die ihre Vorteile und Selbstbehauptung durchsetzen wollen. Die Natur ist wohl auf ihre Art gewalttätig, aber Gott ist gewaltlos und frei. Gott lässt den Menschen gewähren, sehr zu unserem Missfallen manchmal, aber das ist das Wesen seines Reiches, welches in Frieden, Gerechtigkeit und Freude besteht. Nicht mal der Gewaltherrschaft tritt Gott mit Gewalt entgegen. Er lässt die Reiche der Gewaltherrschaft einstürzen und diejenigen leer ausgehen, die nichts anderes als ihr Eigenes im Sinn hatten, wie es im Lobgesang von Maria steht.


Das Interview erschien erstmals auf www.menno.ch. Es wurde von Simon Rindlisbacher geführt.