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Der Philosoph und Ökonom Dominic Roser beschäftigt sich mit elementaren Fragen rund um Schöpfungsgestaltung, Klimarisiken und Umweltverantwortung. Das wirft nicht nur politische, sondern auch ethische und ganz praktische Fragen auf – und letztendlich auch Glaubensfragen.

Das Klima verändert sich
Die aktuellen Erkenntnisse über das Klima überfahren uns regelmässig. Ständig kommen neue Zahlen, Warnungen, politische Absichtserklärungen hinzu – es ist schwer, in der Flut der Meldungen einen Überblick zu behalten. Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, da blieben die Meldungen noch unter dem Radar der Öffentlichkeit. Unbeachtet von der breiten Masse tauchten bereits anfangs des 20. Jahrhunderts allererste Sorgen über den Klimawandel auf; und schon Mitte der Sechzigerjahre hat der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson vor der Gefahr gewarnt, die Zusammensetzung unserer Atmosphäre zu verändern. Ein lauter Weckruf erfolgte dann in den Siebzigerjahren mit dem Bestseller «Grenzen des Wachstums». Das Buch legte nahe, dass die herrschende Form unseres Wachstums langfristig zum Kollaps führen wird.

Es ging aufwärts …
Dieser Kollaps ist kurzfristig – jedenfalls bis jetzt – nicht eingetreten. Im Gegenteil: Die Menschheit hat seither grossartige Fortschritte gemacht. Im Schnitt sind die Menschen mehr als doppelt so reich wie in den Siebzigerjahren. Der Anteil der Analphabeten ist von rund einem Drittel auf rund einen Siebtel gesunken. Der Anteil der Menschen in extremer Armut ist sogar noch stärker gesunken! Schon nur in den letzten 25 Jahren hat sich die Zahl der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, halbiert – bei gleichzeitig stark wachsender Weltbevölkerung.

Bis vor rund fünf Jahren hat auch die Demokratisierung der Welt grosse Fortschritte verzeichnet. Das ist wunderbar und wir sollten diese positiven Trends bewusst wahrnehmen und feiern. Ja, wir sollten sogar anerkennen, wie diese Errungenschaften kaum möglich gewesen wären ohne all die Entwicklungen, die durch die Industrialisierung und ihren fossilen Energien in Gang gesetzt wurden.

… aber ohne solide Basis
Allerdings hat dieses Wachstum nicht auf einem tragfähigen Fundament stattgefunden. Die Menschheit als Ganzes ist vergleichbar mit einem Menschen in Armut, der überraschend die Chance aufs grosse Geld bekommen hat. Schnell wird eine Villa aus dem Boden gestampft. In der Hast und im Umgang mit unvertrauten Möglichkeiten wird das Haus auf Sand gebaut. Bei der Statik, beim Feuerschutz und bei der Sicherheit wird gespart. Das Haus ist einsturzgefährdet. So auch die Menschheit: All das Heil, das durch den technologischen Fortschritt in die Welt kam, ist real. Aber es ging alles so schnell, dass die Errungenschaften auf wackligem Boden stehen. Wenn wir Glück haben, geht es weiter aufwärts; wenn wir Pech haben, stürzt das Haus ein. Das 21. Jahrhundert könnte das beste oder das schlechteste Jahrhundert unserer Geschichte werden.

All die Risiken, die wir in Kauf nehmen
Der bisherige Fortschritt war echt, aber zwiespältig, weil er als Nebeneffekt die klimaschädlichen Treibhausgase mit sich brachte. Seit der Industrialisierung ist die Erde bereits rund ein Grad erhitzt worden und schon dieses eine Grad kam mit ernsten Schäden. Die Schweizer Gletscher sind in den letzten 40 Jahren um einen Drittel geschrumpft. Aber so prominent die Gletscher in der medialen Bildauswahl auch sind, die relevantesten Auswirkungen betreffen nicht das Eis, sondern die von der Schmelze betroffenen Menschen und Tiere. Und weil der Klimawandel zeitverzögert passiert, werden die grössten Schäden erst in Jahrzehnten anfallen. Und weil er nicht hauptsächlich dort wirkt, wo er verursacht wird, sondern besonders stark im Süden, stehen die Menschen in Armut besonders unter Druck. Und weil das Ausmass des Klimawandels mit grosser Unsicherheit behaftet ist, machen nicht die wahrscheinlichsten Szenarien am meisten Angst, sondern die kleine Chance, dass wir die Kontrolle über das Experiment mit unserer Atmosphäre komplett verlieren. Der Klimawandel ist auch nicht der einzige Schauplatz, wo wir grossartige Fortschritte nur mit schädlichen Nebenwirkungen erreicht haben: Künstliche Intelligenz, Luftverschmutzung, Tierausbeutung, Atombomben usw. sind ebenfalls auf der anderen Seite der Medaille der menschlichen Flucht aus der Armut der letzten 200 Jahre eingraviert. Es ist schwierig, all diese langsamen Trends unseres Wachstums – sowohl die positiven wie negativen – in einem Mal vor Augen zu halten.

Das Schiff muss wenden
Diese Situation ruft nach einer Umkehr. Die Hälfte der Menschheit, die die Flucht aus der Armut bereits geschafft hat, sollte den Fokus nicht auf weiteren Luxus legen, sondern diese Flucht der anderen Hälfte ebenfalls ermöglichen, und zwar auf eine Weise, die ohne drastische Risiken als Nebenwirkung auskommt. Das geschieht zurzeit nicht: Seit der Jahrtausendwende sind die globalen Treibhausgasemissionen nochmals um über einen Drittel gestiegen und an Schweizer Flughäfen steigen über 50 Prozent mehr Passagiere ein und aus. Dabei wäre das Ziel nicht nur ein Ende des Emissionswachstums, sondern eine Halbierung bis 2030 und danach eine schnelle Reduktion auf Netto-Null. Die Menschheit ist nicht daran, die Zusagen aus dem Übereinkommen von Paris von 2015 einzuhalten.

Neue Technologien sind unabdinglich
Es gibt aber Hoffnung! Ein Grund dafür ist: Weil die Klimaherausforderung global ist, zwingt sie uns auch zur globalen Zusammenarbeit. Wir können den Klimawandel dazu nützen, diese Zusammenarbeit zu üben, zu verbessern und positiv zu gestalten, so dass die weltweite Gemeinschaft andere Herausforderungen in der Pipeline – wie beispielsweise künstliche Intelligenz oder Antibiotikaresistenz – schneller und wirksamer angehen kann als den Klimawandel. Ein zweiter Grund zur Hoffnung ist, dass Chancen auf Lösungen da sind – wir müssen sie nur packen. Am hoffnungsvollsten stimmt das Potential sauberer Technologien. Saubere Technologien haben gegenüber anderen Lösungen den Vorteil, dass sie das Klima schützen und den Menschen in Armut (und auch den Menschen, die süchtig nach Wohlstand sind) trotzdem Wachstum ermöglichen. Saubere Technologien haben zudem den Vorteil, dass sie gefördert werden können, ohne dass zuerst auf der ganzen Welt Mehrheiten für den Klimaschutz gesucht werden müssen: Einzelne Länder und Individuen guten Willens können alleine vorangehen. Und: Grosse Sprünge sind möglich. Die Photovoltaik beispielsweise ist innerhalb eines Jahrzehnts um ganze 80 Prozent billiger geworden.

Allerdings macht Solarenergie immer noch weniger als zwei Prozent des globalen Primärenergieverbrauchs aus. Deshalb gilt es ohne Scheuklappen saubere Technologien auf der ganzen Linie zu fördern: Technologien, die der Atmosphäre Emissionen entziehen; sauberes Fleisch und saubere Milch; neue Formen der Kernkraft usw. Gott hat uns unsere Kreativität und Weisheit nicht nur gegeben, um die Schöpfung zu bewahren, sondern auch um sie zu gestalten. Eine Welt mit zehn Milliarden Menschen, die der Armut entkommen sind, braucht ein anderes Wirtschaften als die ländliche und spärlich besiedelte Welt zur Zeit der Bibel.

Klimagerechtigkeit – ein grosses Wort
Damit die Flucht aus der Armut nicht nur uns früh industrialisierten Ländern vorbehalten ist, müssen wir einerseits unsere eigenen Emissionen auf Netto-Null senken. Aber noch viel wichtiger: Wir müssen den Ländern in Armut die sauberen Technologien zur Verfügung stellen, die ihnen die Flucht aus der Armut ebenfalls ermöglichen, ohne dabei das Klima zu zerstören. Dabei sollten wir nicht darauf achten, ob andere reiche Länder wie die USA genauso fest mitziehen, sondern notfalls auch mutig alleine vorangehen. Klimagerechtigkeit heisst aber nicht nur, die Zukunft gut aufzugleisen, sondern auch vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. So hat Zachäus nach seiner Begegnung mit Jesus ausgerufen: «Sieh, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen. Und wenn ich von jemandem etwas erpresst habe, gebe ich es vierfach zurück.» Genauso müssen wir nicht nur die künftigen Emissionen reduzieren, sondern auch die Länder in Armut darin unterstützen, mit dem Klimawandel umzugehen, der aufgrund vergangener Emissionen nicht mehr aufzuhalten ist.

Eine neue Welt in Ewigkeit?
Wir Christen haben manchmal ein zu «statisches» Idealbild: Wir glauben, dass Gott die Welt erschaffen hat und wir nun dafür schauen sollen, sie im Ursprungszustand zu bewahren, bis unsere jetzige Welt eines Tages Platz macht für ein komplett neues Modell. Aber weder sollen wir die jetzige Welt einfach in ihrem gefallenen Zustand bewahren, noch sollen wir einfach auf einen zukünftigen Ersatz hoffen. Wir sollen die Welt mutig weiterentwickeln und bereits jetzt an der neuen Welt arbeiten: In aller Demut und mit Gottes Schwung gilt es, unsere Welt so zu gestalten, dass sie und alle Geschöpfe, denen Gott sie zum Zuhause gegeben hat, zum Aufblühen kommen.


Dieser Text stammt aus dem ERF Medien Magazin 01/2023, dem monatlich erscheinenden Printmagazin der ERF Medien. http://www.erf-medien.ch/magazin

Foto von Gabriel Garcia Marengo auf Unsplash

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Interne Dokumente der Ölindustrie zeigen, dass diese seit den 70er-Jahren von der Klimaerwärmung durch den CO2-Ausstoss weiss. Sie hat der Öffentlichkeit aber trotzdem immer das Gegenteil erzählt, wenn Wissenschafter vor der Klimaerwärmung warnten. Seither sind 50 Jahre vergangen und die Wissenschaft ist sich einig, dass die Erwärmung stattfindet, dass sie zum allergrössten Teil menschengemacht ist und die Folgen auch extreme Schäden beinhalten: Hitzetote, Dürren, Hunger, Migrationsströme, Überschwemmungen, Ansteigen des Meeresspiegels, Verschiebung der Klimazonen mit Verlust der Biodiversität, sowie volkswirtschaftliche Schäden von weit über 10’000 Milliarden Euro pro Jahr. Auf die Schweiz umgerechnet wären das mindestens 10 Milliarden Franken pro Jahr.

Verantwortung übernehmen

Unser Handeln wird also immer dringender. Jedes Jahr, das wir dabei verlieren, fügt noch mehr Schaden hinzu und verändert die Welt, in der unsere Kinder (und noch einige von uns) leben müssen. Sie werden den Preis für die Zerstörungen bezahlen, die wir anrichten. In unserem Rechtssystem sind wir es gewohnt, jemanden haftbar zu machen, der ein Gut zerstört oder jemandem Schaden zugefügt hat. In der Regel muss der Verursacher für den Schaden aufkommen. Sollen wir nun allen Ernstes behaupten, wir wollten weiter das Recht auf Vandalismus haben? Und unsere Kinder und die armen Länder, die am wenigsten CO2 produzieren, die Schäden zahlen lassen? Auch sie sind unsere Nächsten, die wir genauso lieben sollen wie uns selbst.

Was werden wir unseren Kindern sagen, wenn sie uns in 30 Jahren fragen, warum wir so wenig getan oder gar noch gegen Massnahmen gestimmt haben? Wenn wir weiterhin so die Lebensgrundlagen unserer Kinder zerstören, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie eine Wut auf uns entwickeln und sich dereinst auch nicht mehr um uns kümmern wollen, wenn wir alt sind.

Was sollen wir Gott antworten, wenn er uns fragt, warum wir seine schöne Schöpfung zerstört und die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Nächsten so ausgehöhlt haben?

Wir können nicht nur, wir müssen es uns leisten!

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Wir können also nicht sagen, wir könnten uns die Massnahmen nicht leisten. Das würde ja heissen, wir seien gezwungen, weiter auf Kosten unserer Kinder zu leben. Kann das sein? Darf das sein? Wenn wir uns eine Umstellung auf gleich viel nichtfossile Energie nicht leisten können, dann heisst das in der Konsequenz, dass wir unseren Energiekonsum vermindern und nicht weiter auf Kosten unserer Nachkommen leben sollen. Wir kommen also nicht darum herum, unseren Konsum und damit auch unsere Lebensinhalte zu überdenken. Weniger ist mehr! Gehen wir als Christen mutig voran!

Wagen wir den Schritt in die Solidarität

Gemäss Umfragen ist der Klimawandel eine der Hauptsorgen der Schweizer Bevölkerung. Aber Massnahmen dagegen werden letztendlich trotzdem abgelehnt. Die Angst vor den kurzfristigen persönlichen Konsequenzen ist bei vielen stärker als diejenige vor den langfristigen Folgen. Hier wäre auch unsere Solidarität mit denjenigen gefragt, die wegen der Massnahmen gegen den Klimawandel in echte Schwierigkeiten geraten. Dazu gehören Beihilfen für Armutsbetroffene und auch höhere Löhne.
Wir lassen uns aus Angst um unseren Lebensstandard auch leicht von der Propaganda von Vertreterinnen und Vertretern von Partikularinteressen beeinflussen, wie bei der Abstimmung zum CO2-Gesetz vor 2 Jahren, und glauben lieber denjenigen, die Zweifel an der Klimaerwärmung streuen. Lassen wir uns diesmal nicht wieder vom Handeln abhalten! Was haben wir für eine Alternative, wenn nicht dieses Gesetz? Freiwilligkeit genügt offensichtlich nicht. Die Gegner fordern, «dem Wahnsinn der rosa-grünen Linken ein Ende zu machen». Die Alternative ist demnach, den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis die Hitze uns den Hintern versengt…

Argumente

  1. Die Erderwärmung ist real und menschengemacht – Haben wir den Mut, der Realität in die Augen zu schauen!
    Es gibt kaum mehr wissenschaftlich haltbare Gegenargumente. Über 99 % der Klimatologen sind sich einig. Umso erstaunlicher, dass noch im Jahr 2020 nur 60 % der Schweizerinnen und Schweizer glaubten, dass der Klimawandel menschengemacht sei. 40 % entschieden sich also dafür, dem einen Prozent der «Skeptiker» und den Ausreden-Produzenten zu glauben. Wir haben enorm Mühe, etwas anzunehmen, was eine Verhaltensänderung erfordert. Wollen wir allen Ernstes behaupten, 99% der Klimatologen lägen falsch? Oder wollen wir allen Ernstes glauben, all die zehntausenden von Klimatologen seien bestochen und völlig geldgetrieben? Alle, die mal in der Wissenschaft gearbeitet haben, wissen, dass das unmöglich ist: Die meisten Wissenschafter haben die Wahrheitsfindung zum Ziel und es ist unmöglich, dass nicht eine Gruppe unter ihnen Bestechungen auf die Spur kommt.
    Wenn wir warten, bis kein einziger Skeptiker mehr da ist, ist es zu spät. In vielen Bereichen ist eine 100%-ige Sicherheit kaum möglich, aber es ist vernünftig und notwendig zu handeln. Wir werden sicher nicht sagen können, man hat es nicht so genau gewusst! Im 2021 sagte gar die Internationale Energieagentur, die bisher aufs Öl gesetzt hat, dass eine radikale Umkehr nötig ist: Keine neuen Ölfelder mehr erschliessen, massive Investitionen in alternative Energien.
  2. Gottes Schöpfung bewahren
    Gott hat die Erde geschaffen und am Schluss gesagt, es sei gut so. Was würden wir sagen, wenn wir ein schönes Kunstwerk schaffen und jemand anderes es verunstaltet oder zerstört? Wir wären betrübt! Was tun wir mit Gottes Schöpfung, einem fantastischen Kunstwerk? Ehren wir den Schöpfer, wenn wir sein Werk mit Füssen treten?
  3. Die Lebensgrundlagen der Nächsten bewahren
    Das höchste Gebot ist die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Die Klimaerwärmung bringt aber Milliarden unserer Nächsten in schwere Bedrängnis: Wenn tiefliegende fruchtbare Ebenen überschwemmt werden, Naturkatastrophen ganze Landstriche zerstören und noch mehr Gebiete zu Wüsten werden, ist Leben für sie dort nicht mehr möglich. Deshalb ist Klimaschutz gelebte Nächstenliebe.
  4. Die Schäden sind bereits gross, und sie werden riesig sein
    Bereits heute gehen die Schäden durch die Klimaerwärmung in die Milliarden. Das deutsche Umweltbundesamt rechnet bereits heute mit jährlichen Schäden alleine in Europa von 20 Milliarden Euro. In Zukunft sind eine Verschiebung der Klimazonen, noch mehr Dürren, Hungersnöte und damit grosse Migrationsströme zu erwarten. Damit steigen die Kosten ins Unermessliche. Wirtschaftliche Berechnungen gehen von weltweit weit über 10 Billionen Euro Schäden und einer massiv verringerten Wirtschaftsleistung aus. Wer kann das bezahlen?
  5. Wir brauchen Unabhängigkeit vom Öl von Regimes
    Die Hauptreserven von Öl liegen heute zu einem grossen Teil auf den Gebieten von Diktaturen auf der arabischen Halbinsel, in Irak, Iran, Libyen aber auch in Russland, China, Venezuela, Aserbaidschan, etc. Beim Gas sieht es noch schlimmer aus. Die Schweiz tut gut daran, sich aus der Abhängigkeit dieser diktatorischen Regimes zu befreien!

Gegenargumente – und was wir davon halten

  1. «Gott hat alles in der Hand»
    Dieses Argument wird in christlichen Kreisen manchmal so verwendet, wie wenn trotz unseres Handelns nichts passieren könnte.
    -> Gott hat alles in der Hand, aber er lässt uns auch frei walten. Wenn wir seine Schöpfung zerstören, räumt er nicht gleich hinter uns wieder auf.
    -> Die Realität zeigt ein anderes Bild: Nach der Abholzung der Wälder in den Alpen gab es zahlreiche Erdrutsche und Lawinenniedergänge, Gott hat diese nicht verhindert. Es waren die Menschen, die mit Wiederaufforstung reagieren mussten. Der Aralsee ist ausgetrocknet, die Umgebung durch Windablagerung versalzen; in vielen Regionen sind ganze Landstriche oder Flüsse und Seen verseucht und unbrauchbar geworden. Gott verhindert nicht die Folgen unseres Handelns.
  2. «Die Massnahmen sind zu teuer, wir können uns das nicht leisten»
    Die Gegner behaupten ohne glaubwürdige Berechnungen, der Umstieg auf Elektrizität und andere Energiequellen würde die Bevölkerung hunderte von Milliarden Franken kosten. Das sei nicht zahlbar. Dazu meinen wir:
    – Die Zahlen sind erstens völlig überrissen und gehen zweitens von einem technologischen Stillstand aus. In der Realität ist die Nachfrage aber ein Treiber von Innovation und damit von Preissenkung.
    – Schon nur die finanziellen und wirtschaftlichen Schäden eines Verbleibs bei fossilen Brennstoffen sind ab 2050 mit 10 Milliarden Franken pro Jahr zu veranschlagen. Langfristig sind die Kosten für alle also noch viel höher, dazu kommt die Hitze, der Verlust an Biodiversität und viel Leid.
    – Wir müssen also sowieso zahlen. Bei einem Nein bürden wir die Kosten unseren Nachkommen auf.
    – Ob benachteiligte Schichten die Heizung nicht mehr bezahlen können, hängt einzig davon ab, wie viel wir teilen! Es ist also Solidarität und gerechte Einkommensverteilung gefragt.
    – Welches Land kann sich denn Massnahmen leisten, wenn nicht wir? Wenn wir sagen, wir könnten es nicht, was werden dann die anderen Länder sagen?
    – Im Grunde richten wir Zerstörung an, wollen diese aber nicht berappen -> rein rechtlich gesehen, geht das nicht!
  3. Die Versorgungssicherheit ist mit der Umstellung gefährdet
    -> Schon vor dem Winter 2022/23 wurde die Angst vor einer Stromlücke geschürt. Und nirgends in Europa ist sie eingetreten. Sollen wir nun wieder auf diese Angstmache eingehen?
    -> Bei den nicht-fossilen Energiequellen wie Sonnen- oder Windenergie und Erdwärme sind noch riesige Potentiale lokaler Energiegewinnung unausgeschöpft.
    -> Wir werden nicht darum herumkommen, unseren Energiekonsum zu überdenken. Brauchen wir wirklich all das? Wann ist genug? Die meisten können ihren Konsum fossiler Brennstoffe zurückschrauben, wenn sie wollen: Flugreisen sind meist nicht zwingend, früher sind wir auch ohne Flugzeug in die Ferien gereist. Und für viele wäre der Gebrauch des ÖV oder zumindest der Verzicht auf einen SUV zumutbar.
  4. «Freiwilligkeit genügt»
    -> Bisher haben wir auf Freiwilligkeit gesetzt. Der Nachweis, dass dies nicht genügt ist längst erbracht: Der CO2-Ausstoss nimmt nur wenig ab und ein guter Teil der Verminderung ist der Verlagerung der Industrieproduktion ins Ausland geschuldet.
    -> Wenn Vandalen ein Auto beschädigen, fänden wir es akzeptabel, wenn die Polizei die Täter lediglich bittet, vielleicht, falls sie möchten, etwas an den Schaden zu zahlen? Dies widerspricht unserem Rechtsverständnis. Die Abgeltung eines verursachten Schadens darf nicht freiwillig sein. Warum sollen nur die einen zahlen und die andern nicht?
  5. «Aber wir tun doch schon so viel»
    Die Reduktion unseres CO2-Ausstosses genügt nie und nimmer, um bis 2050 klimaneutral zu sein. Es braucht leider noch viel mehr Engagement und zwar von allen!
    Wenn man mit 50 km/h auf eine Wand zufährt, nützt es nichts zu sagen: «Aber ich bremse ja schon auf 30 km/h herunter,  jetzt lass es endlich gut sein…». Der Aufprall wird trotzdem hart.
  6. «Andere Länder sind ja noch schlimmer – es nützt nichts, wenn die Schweiz vorangeht»
    -> Jeder Mensch ist verantwortlich für sein eigenes Handeln, jeder ist mitverantwortlich, weil jeder CO2 beiträgt. Wenn alle warten, bis die Schlimmsten zuerst handeln, dann vergrössert sich die Katastrophe weiter.
    -> Zudem: Wir haben es ja eben auch mit der Gesetzgebung und mit internationalem Druck/Einsatz in der Hand, die grössten CO2-Produzenten zur Reduktion ihres Ausstosses zu zwingen (Ölproduzenten; Frachtschiffe; Kreuzfahrtschiffe; etc.).
    -> Doch, es nützt: Jede Tonne CO2, die eingespart wird, hilft! Würden wir dasselbe auch in anderen Bereichen sagen wie z.B. bei der Abfalltrennung, dem Umsteigen auf den ÖV, dem Wasserverbrauch, etc.? Sollen wir uns nur noch egoistisch verhalten, weil der Beitrag jedes Einzelnen so klein ist? Nein, wir haben alle Mitverantwortung. Gott verlangt von uns, zu tun, was richtig ist, nicht nur dann, wenn andere es auch tun!
    Zudem bewegen sich andere Länder schnell: Die USA und die EU streben Klimaneutralität bis 2050 an und Dutzende von Ländern haben bereits ein Verbot von Benzinmotoren in den nächsten 15 Jahren beschlossen.

Foto von Janosch Diggelmann auf Unsplash

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ChristNet steht seit seiner Gründung für Frieden und gewaltlosen Widerstand ein. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs möchten wir aber nicht blauäugig den Pazifismus hochhalten und damit die Realität des ungerechtfertigten, barbarischen Angriffskrieges leugnen. Dennoch will ChristNet auch jetzt das Bemühen um Frieden nicht tabuisieren oder den Verteidigungskrieg verherrlichen. In diesem Sinne veröffentlichen wir das folgende Interview mit Hansuli Gerber vom Täuferischen Forum für Frieden und Gerechtigkeit (TFFG), der differenziert erklärt, was der Begriff Pazifismus genau bedeutet, warum dieser ein Ideal bleiben soll und weshalb Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch sind. Das heisst nicht, dass ChristNet mit allen Aussagen einverstanden ist.

Seit der Invasion Russlands in der Ukraine scheinen Bellizismus und Militarismus sehr en vogue zu sein bis weit ins linke politische Spektrum. Ist ein Verteidigungskrieg ein sinnvolles und berechtigtes Mittel gegen eine militärische Invasion?

Krieg geht von seinem Wesen ins Extreme und in die Länge. Dabei wird zwischen Zerstörung von Menschenleben und von Sachen kein Unterschied gemacht. Krieg ist immer ein Machtanspruch und sucht, diesen durch Zerstörung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erzwingen. Der Verteidigungskrieg beansprucht für sich, das Gute im Sinn zu haben, die Barbarei zu stoppen und vieles mehr. Doch ist auch er ein Krieg und ein Griff zur Barbarei, um Barbarei zu stoppen. Einen Verteidigungskrieg als geeignetes Gegengift gegen Krieg zu deklarieren ist zuerst mal eine Verharmlosung und Idealisierung des Kriegs und erst danach eine Missachtung der Einladung Gottes zur Liebe und Barmherzigkeit wie sie in Jesus Christus zum Ausdruck kommt.

Als Pazifistin bzw. Pazifist steht man heute plötzlich unter Rechtfertigungsdruck. Hat der Pazifismus versagt?

Der Pazifismus hat nie versagt. Menschen versagen und dass es in der Ukraine und anderswo Krieg gibt, liegt nicht am Pazifismus noch belegt es seine Unzulänglichkeit. Im Gegenteil, Krieg gibt es, weil er durch Aufrüstung vorbereitet wird und weil Menschen auf Waffen setzen, statt auf Begegnung und Kooperation. Weil die Gier vor dem Zusammenleben kommt. Weil das Geld regiert. In dieser Situation braucht es mehr Pazifismus, nicht weniger. Christen, welche Waffen ablehnen, müssen sich mit andern zusammentun, denn sie haben kein Monopol auf den Pazifismus. Menschen guten Willens, welche auf Gewaltlosigkeit setzen können zusammenarbeiten. Das Reich Gottes besteht nicht aus Christen, sondern aus gewaltloser Liebe. Gerade im Krieg ist für Christen der Aufruf «Liebet eure Feinde» die grosse und unumgängliche Herausforderung.

Was ist Gewaltlosigkeit genau? Oder umgekehrt: Was ist Gewalt, wie wird sie definiert? Worauf verzichtet jemand, der gewaltlos lebt?

Hinsichtlich der Gewalt gilt, dass sie einerseits als unausweichlich gesehen und gleichzeitig verharmlost wird. Da braucht es viel Forschung und Aufklärung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte zu Beginn der Jahre 2000 den ersten Bericht zu individueller und zwischenmenschlicher Gewalt. Darin stellte sie fest, dass Gewalt keine Fatalität sein muss und vermeidbar ist. Aufgrund dieses ausführlichen Berichts erklärte die die Versammlung der WHO 2003 Gewaltprävention zu einer Priorität des öffentlichen Gesundheitswesens. Individuelle bzw. zwischenmenschliche Gewalt wird von kollektiver Gewalt, also Krieg und Massengewalt, unterschieden und folgt anderen Logiken. Daher ist es nicht hilfreich, den Krieg und die Verteidigung inmitten des Kriegs mit der Vergewaltigung meiner Frau oder der Bedrohung oder Misshandlung deiner Kinder zu vergleichen. Hier ist Handeln und Widerstand angesagt, aber es ist Vorstellungsvermögen notwendig, es soll nicht zuerst an Waffengewalt gedacht werden, sondern an die vielen Möglichkeiten, den Angreifer zu überraschen und ihn so zu entwaffnen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Ich weiss von Menschen – und ich gehöre dazu, die bewusst keine Waffe im Haus haben, damit die Gefahr einer bewaffneten Eskalation verringert wird. Es ist der Mythos, dass Waffen uns bewahren, der so viele Menschen heute dazu verleitet, sich zu bewaffnen.

Wie kann man Gewalt verhindern?

Es geht darum, zu verstehen, dass Gewalt Gewalt hervorbringt und da ist aus theologischer Sicht unbewaffnetes und entwaffnendes Denken und Handeln angesagt. Dabei können wohl auch mal Tische und Stühle umgeworfen werden, was manche den Pazifisten und Pazifistinnen als Gewalttat Jesu vorhalten. Widerstand gegen Unrecht und Gewalt sind nicht nur legitim, sondern durchaus notwendig im Sinne des Evangeliums und der Bibel, und werden nicht umsonst von Theologen und Philosophinnen als Pflicht bezeichnet.

Gibt es Gewalt, die ihre Berechtigung hat? Beispielsweise Polizeigewalt bei einer Verhaftung?

Der Staat beansprucht ein Gewaltmonopol und das kann ihm zugestanden werden. Dabei muss man ohne Illusion sein: zu oft wird dieses Monopol missbraucht, was in der Struktur der Macht liegt. Der Staat wird von Menschen gemacht und die erliegen zu oft der Versuchung der Macht, welche zur Gewalt greift und diese einsetzt, nicht zur Bewahrung und Verteidigung von Menschen, sondern der bestehenden oder angestrebten Macht und Dominanz. Der Angriff auf die Ukraine verfolgt imperialistische Absichten. Diese machen vor Menschenopfern keinen Halt.

Das heisst, wenn man Pazifist:in ist und Gewalt ablehnt, muss man dem Staat gegenüber misstrauisch sein?

Pazifisten mögen ein sehr unterschiedliches Staats- und Demokratieverständnis haben. Wo zu Ende gedacht, hat Pazifismus nicht ein stures Prinzip, das religiös-ethisch-moralisch ist, sondern die Menschlichkeit im Auge. Dabei ist die Frage der Gerechtigkeit und der Macht- und Besitzverteilung unumgänglich. Das führt historisch immer dazu, dass Pazifismus mit Sozialismus und Anarchismus verbunden ist und damit mit einer Relativierung des staatlichen Absolutheitsanspruches. Auch die alten Täufer waren dem Staat gegenüber misstrauisch, und zu Recht, denn es ging ihm nicht um das Wohl der Menschen, sondern um die bestehende oder angestrebte Ordnung, in welcher die Privilegien und Macht klar auf der Seite der Herrschenden behielt. Wir suchen als Christen nicht, den Staat durch das Reich Gottes zu ersetzen. Doch wir folgen womöglich der Dynamik und den Regeln des Reiches Gottes, sowie Jesus dies gelebt hat. Wenn der Staat dadurch etwas menschlicher wird, umso besser. Unsere Mission ist, uns für die Liebe und gegen die Entmenschlichung einzusetzen. Entmenschlichung ist ein wichtiges Stichwort in einer von Krieg, Klimakrise und Technokratie geschüttelten Welt!

Ist Pazifismus immer mit Gewaltfreiheit gleichzusetzen oder geht Pazifismus auch mit Gewalt?

Der Begriff Pazifismus wird verschieden verstanden und je nach Kontext verschieden gebraucht. Vielleicht ist er weniger geeignet als Gewaltlosigkeit. Grundsätzlich bedeutet es, Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung oder zur Erreichung bestimmter Absichten abzulehnen, beziehungsweise die Teilnahme an gewalttätigen Handlungen zu verweigern. Es gibt verschiedene Pazifisten: Nuklearpazifistinnen beispielsweise lehnen Atombewaffnung aber nicht zwingend andere Waffen ab. Radikale Pazifisten dagegen stellen sich gegen jede militärische Bewaffnung und weigern sich, daran teilzunehmen. Es gibt Leute, die sind grundsätzlich der Gewaltlosigkeit verpflichtet, aber würden nicht in jedem Fall Gewalt ausschliessen. Das wohl grösste Problem mit dem Begriff ist, dass er mit Passivität verbunden wird oder gar mit Gleichgültigkeit. Das ist ein verhängnisvolles Missverständnis. Pazifismus hat einen nicht besonders guten Ruf und muss gewissermassen als Ideal rehabilitiert werden.

Inwiefern ist Pazifismus und Gewaltlosigkeit biblisch?

Gewaltlosigkeit ist biblisch und vor allem evangelisch, weil sie den unbewaffneten Widerstand im Auge hat zum Wohl und zur Bewahrung aller betroffenen Menschen, statt einer bestimmten Ordnung. Sie weiss, dass wer zum Schwert greift, durch das Schwert umkommt. Und sei es die Generation danach. Jesus hat mit seiner unbewaffneten und entwaffnenden Art gezeigt, dass in der «Herrschaft» Gottes (Reich Gottes) andere Regeln gelten als im Staat und unter Menschen, die ihre Vorteile und Selbstbehauptung durchsetzen wollen. Die Natur ist wohl auf ihre Art gewalttätig, aber Gott ist gewaltlos und frei. Gott lässt den Menschen gewähren, sehr zu unserem Missfallen manchmal, aber das ist das Wesen seines Reiches, welches in Frieden, Gerechtigkeit und Freude besteht. Nicht mal der Gewaltherrschaft tritt Gott mit Gewalt entgegen. Er lässt die Reiche der Gewaltherrschaft einstürzen und diejenigen leer ausgehen, die nichts anderes als ihr Eigenes im Sinn hatten, wie es im Lobgesang von Maria steht.


Das Interview erschien erstmals auf www.menno.ch. Es wurde von Simon Rindlisbacher geführt.

 

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Ein biblisch-theologischer Überblick

«ChristNet-Forum – Wie Geld die Politik und uns selber bestimmt
Samstag, 28. Januar 2023, Nägeligasse 9, Bern»
Es gilt das gesprochene Wort

Gott und Geld – es ist kompliziert

Gott und Geld – das passt nicht zusammen. Dieser Beziehungsstatus ist gelinde gesagt «kompliziert». Zu diesem Schluss muss kommen, wer an das bekannte Jesus-Wort denkt:
«Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon» (Mt 6,24).

Dieses Entweder-Oder irritiert, kennt das Alte Testament doch eine wesentlich differenzierte Sicht auf Geld, Wohlstand und Reichtum. Es lassen sich drei Positionen unterscheiden:1

  • Reichtum (Geld) als Segen
    Reichtum wird immer wied er ausdrücklich als Gabe Gottes genannt . Etwa wenn Abrahams Verwalter sagt: «Gott hat meinen Gebieter reichlich gesegnet, so dass
    er reich geworden ist; er hat ihm Schafe und Rinder, Silber und Gold, Sklavinnen und Sklaven, Kamele und Esel gegeben» Gen 24,35
  • Warnung vor den Gefahren des Reichtums
    Das AT verweist durchaus auf Gefahren des Reichtums, wenn etwa der weisheitliche Prediger festhält: «Wer das Geld lieb hat, wird des Geldes nicht satt» Koh 5,9
  • Kritik am Reichtum
    Diese Warnung geht in teils harsche Kritik an Reichtum über, der unrechtmässig erworben wurde. Die daraus folgenden sozialen Missstände werden von Propheten wie Jeremia schonungslos angeprangert: «[…] so sind ihre Häuser voll Betrug; dadurch sind sie mächtig und reich geworden, fett, feist. Auch sündigen sie durch ruchloses Tun. Das Recht pflegen sie nicht, dem Recht der Waisen verhalfen sie nicht zum Erfolg und die Sache der Armen entscheiden sie nicht» (Jer 5,27b-28).

Der hier kritisierten sozialen Ungerechtigkeit steht im Alten Testament eine umfassende Sozialordnung gegenüber, die diese Missstände beheben oder zumindest ausgleichen will.2 Die Kritik an den Reichen spitzt sich im Neuen Testament mit dem eingangs zitierten Jesus-Wort deutlich zu. Mit Burkhard Hose lässt sich sagen:
«Die Reichen haben es schwer im Neuen Testament. Gemessen an anderen Themen nehmen die reichtumskritischen Töne in den Jesusüberlieferungen einen verhältnismässig breiten Raum ein […]. Die Botschaft ist unmissverständlich: Geld versperrt den Weg zu Gott – zumindest, solange man es für sich behält.»3

Wie ist mit dieser biblischen Ambivalenz zum Thema «Geld» umzugehen?

Geld muss dienen

Als neu gewählter Papst veröffentlichte Franziskus im November 2013 sein erstes Apostolisches Schreiben.4 Darin warnt er vor der Vergötterung des Geldes und schreibt: «Das Geld muss dienen und nicht regieren!»5

In diesem Sinn rief der Papst dann 2014 die Teilnehmenden am WEF in Davos auf, «sicherzustellen, dass Wohlstand der Menschheit dient, anstatt sie zu beherrschen.»6

Diese Aussage des Papstes kann sich auf viele Stellen in der Bibel berufen. Sie hier umfassend und nuanciert darzustellen, ist nicht möglich. Ich muss mich hier auf ein Beispiel beschränken. Ein Beispiel, das zeigt: Geld darf nicht knechten. Es muss das Leben ermöglichen.

Mit Geld Gutes tun?

Ein erster kritischer Blick (Mk 12,41-44)

41 Und er [Jesus] setzte sich der Schatzkammer gegenüber und sah zu, wie die Leute Geld in den Opferstock warfen. Und viele Reiche warfen viel ein.
42 Da kam eine arme Witwe und warf zwei Lepta ein, das ist ein Quadrant.
43 Und er rief seine Jünger herbei und sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr eingeworfen als alle, die etwas in den Opferstock eingeworfen haben.
44 Denn alle haben aus ihrem Überfluss etwas eingeworfen, sie aber hat aus ihrem Mangel alles hergegeben, was sie hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt.

Dies Szene spielt im Tempelbereich.
Im Bereich der Tempelschatzkammer sind die Opferstöcke aufgestellt. Die Gaben werden von den Priestern überprüft und dann in den Opferstock gelegt. Jesus beobachtet mit seinen Jüngern die Szenerie. Die Jünger sind vermutlich von den hohen Spendensummen beeindruckt. Doch Jesus lenkt ihren Blick auf eine Witwe, die zwei Lepta gibt (ein Zehntel eines normalen Tageslohnes). Diese Witwe hat ihren ganzen Lebensunterhalt (ihr ganzes Leben: bi,oj) investiert. Jesus schaut kritisch auf das, was ihm da vor Augen liegt.

  • Mit Geld Gutes tun, ist für ihn mehr als grosszügige Wohltätigkeit.
  • Mit Geld Gutes tun, darf nicht zur (frommen) Selbstinszenierung verkommen.
  • Mit Geld Gutes tun, ist nicht eine Frage von möglichst ho hen Geldsummen.
  • Mit Geld Gutes tun, bedeu tet nicht lediglich vom Übermass geben, sondern beinhaltet auch den Verzicht zugunsten Anderer.
  • Mit Geld Gutes tun, stellt die Frage nach Motivation und Haltung.

Jesus lenkt den Blick auf die arme Witwe.

  • Gerne wird sie in ihrem Umgang mit Geld als Vorbild dargestellt.
  • Ihr Vorbild animiert dazu, nicht kleinlich zu sein. Mehr zu spenden und damit auch mehr Gutes zu tun.

Kritischer Einwand: Ist diese arme Witwe aber wirklich ein Vorbild?

  • Sicher: Ihre Haltung ist beeindruckend und die Sympathien in diese m Text sind klar bei ihr.
  • Aber: Jesus lobt ihr interessanterweise Verhalten nicht ausdrücklich. Er sagt  seinen Jüngern nicht: «Macht es wie diese Witwe.» Sie wird von ihm nicht als explizites Vorbild dargestellt das tun meist die, die über das Spenden predigen.

Ich wage daher noch einen zweiten kritischen Blick auf diese Szene. Und dieser ergibt sich aus dem textlichen Zusammenhang. Just vor dieser Passage mit der armen Witwe lesen wir folgendes:

Ein zweiter kritischer Blick (Mk 12,37b-40)

37bUnd viele Leute hörten ihm [Jesus] gerne zu.
38 Und er lehrte sie und sprach: Hütet euch vor den Schriftgelehrten, denen es gefällt, in langen Gewändern einherzugehen und auf den Marktplätzen gegrüsst zu werden
39 und in den Synagogen den Ehrensitz und bei den Gastmählern die Ehrenplätze einzunehmen,
40 die die Häuser der Witwen leer fressen und zum Schein lange Gebete verrichten – sie werden ein umso härteres Urteil empfangen.

Auch diese Szene spielt bereits im Tempel. Sie enthält eine Warnung vor den Schriftgelehrten. Denn die kommen ihrer Aufgabe als «Hirten» nicht nach. Schlimmer noch: Sie «fressen die Häuser der Witwen leer»!

Damit erscheint das Scherflein der Witwe in einem neuen Licht. Sie ist gewissermassen Opfer eines ungerechten Systems. Anstatt die Witwen zu schützen (vgl. Dtn 24,17.20-21) bereichern sich die Schriftgelehren – und damit das Tempelsystem – am Geld dieser armen Bevölkerungsschicht. → ausbeuterisches System

Mit Geld Gutes tun, bedeutet daher

  • nicht, dass eine arme Witwe noch ihren letzten Rappen geben muss
  • sondern, dass diese Witwe Geld erhält

Mit Geld Gutes tun, kann da geschehen, wo Finanzsysteme die Reichen nicht immer reicher und die Armen nicht immer ärmer macht.

Alternatives System

Geld muss dienen und nicht regieren! Diese Grundüberzeugung ist tief in den biblischen Schriften verankert. So gehört das Ringen um eine alternative Wirtschaftsform zu den bemerkenswerten Kennzeichen der Jerusalemer Gemeinde.

Die zuweilen als „Liebeskommunismus“ belächelte Gütergemeinschaft in Apostelgeschichte 4,32 war kein kommunistisches Ideal, wurde das Privateigentum doch nicht abgeschafft. Worauf es ankam, war aber die radikale Bereitschaft zum Teilen. Wenn der Bericht festhält, dass dies dazu führte, dass keiner unter ihnen Mangel litt (Apg 4,34), muss dies als Erfüllung der Sozialgesetzgebung aus Dtn 15,4f. gelesen werden, wo es heisst, dass es in Israel keine Armen geben soll.

Es ist dies eine Entscheidung für Gott und gegen den Mammon.

Geld – eine geistliche Frage

Denn die von Jesus formulierte Alternative – Gott oder Mammon – ist letztlich nicht eine moralische Frage, sondern eine spirituelle.

«Jesus spricht zunächst gar nicht über die Weise, wie man sein Geld benützt. Wenn er vom Reichtum spricht, geht es um die Frage, worauf man sein Dasein baut – und damit formuliert er auf dem Fundament der alttestamentlichen Tradition eine neue und radikalere Frage: Worauf baust du dein Leben? Welchem Gott gibst du dich hin?»7

Es ist daher durchaus bemerkenswert, dass der sogenannte «Sündenfall» in Genesis 3 aus ökonomischer Perspektive als «Konsumsünde» gelesen werden kann.8 Eine Frage der Schlange reicht, um die Aufmerksamkeit der Menschen mit klugem Marketing auf den einen Baum inmitten vieler Bäume zu lenken. Die anfängliche Neugier weicht rasch der Begierde.

Diesen einen Baum, seine Früchte – so schön. Das Produkt wird absolut begehrenswert. Das müssen wir haben. Nicht weil wir hungrig sind, sondern weil die Gier geweckt nach etwas geweckt ist, dass wir eigentlich nicht brauchen. Dafür riskiert der Mensch den paradiesischen Garten. Seine Gier entfernt ihn von Gott, seinen Mitmenschen und der übrigen Schöpfung.

Dieses Muster zieht sich durch die Menschheitsgeschichte, so dass der 1Timotheusbrief pauschalisierend festhält: «Denn Geldgier ist eine Wurzel alles Übels; danach hat einige gelüstet und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Schmerzen» (1Tim 6,10).

Solidarität und Gerechtigkeit

Wenn Geld dienen und nicht herrschen soll, darf Geld nicht zum Gott werden. Die Bibel appelliert daher im Umgang mit Reichtum und Besitz immer wieder an «Solidarität» und «Gerechtigkeit», um der lebensverhindernden Gier auf Kosten anderer zu begegnen.9

In der Erzählung von der armen Witwe zeigt sich, dass diese eine Verabschiedung von einer «Wohltäter-Mentalität»10 bedeutet. Reiche konnten sich ihren Status und Einfluss nicht mehr länger mit teils grosszügigen Spenden sichern. Gefordert ist eine Umverteilung, die neue Machtverhältnisse mit sich bringt:

«Das Verhältnis von Reich und Arm gestaltet sich nicht mehr vertikal – nach dem Motto: die Reichen geben von oben herab etwas von ihrem Geld, damit die Bedürftigen leben können, sondern horizontal: Wer reich ist, begibt sich auf eine Ebene mit den armen Gemeindegliedern und wir selber arm. Die Armen aber gewinnen an Ansehen und werden selber reich. […] Eine gerechte Umverteilung der Güter beinhaltet demnach immer auch die Notwendigkeit einer Beteiligung der Schwachen an der Macht.»11

Quer durch die Jahrhunderte gab es immer wieder Bewegungen, die auf diese Weise beitragen wollten, dass Geld nicht regiert, sondern dient. Wie unser Beitrag dazu aussieht, müssen wir für uns klären.


1. Vgl.RAINER KESSLER: Reichtum (AT), in: wibilex (2006) Online: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/33027/ [Zugriff am 23. Januar 2023]

2. Vgl. LUKAS AMSTUTZ: Werte, Menschenbild und soziale Verantwortung. Alttestamentliche Aspekte, in: Mennonitisches Jahrbuch (Soziale Verantwortung) (2007), S. 14–18 Ferner auch: LUKAS AMSTUTZ: Das Jubeljahr in Bibel und Theologie, in: Die Schweiz, Gott und das Geld, hrsg. von ChristNet, St. Prex 2013, S. 159–177.

3. BURKHARD HOSE: Kirche der Reichen? Ein neutestamentlicher Denkanstoss, in: BiKi 62 (2007), 1, S. 42–45, hier S. 43.

4. Deutscher Text von Evangelii gaudium online zugänglich: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html#Nein_zu_einem_Geld,_das_regiert,_statt_zu_dienen [Zugriff am 24. Januar 2023]

5. Absatz 58 im obigen Dokument.

6. Deutscher Text online zugänglich: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/messages/pont-messages/2014/documents/papa-francesco_20140117_messaggio-wef-davos.html [Zugriff am 23. Januar 2023]

7. DANIEL MARGUERAT: Gott und Geld – ein Widerspruch? Wie die Bibel Reichtum und Besitz einschätzt, in: Welt und Umwelt der Bibel [WuB] (2008), 1, S. 10–15, hier S. 12–14.

8. TOMÁŠ SEDLÁČEK: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2013 (Goldmann, 15754), S. 270–272.

9. Zu den Begriffen «Solidarität» und «Gerechtigkeit» als regulative Ideen der Bibel, siehe MICHAEL SCHRAMM: Das gelobte Land der Bibel und der moderne Kapitalismus. Vom „garstig breiten Graben“ zur „regulativen Idee“, in: BiKi 62 (2007), 1, S. 37–41.

10. Vgl. hierzu Gerd Theissen, Die Religion der ersten Christen: Eine Theorie des Urchristentums. 3. Aufl. Gütersloh 2003, 133-146.

11. Burkhard Hose, «Kirche der Reichen? Ein neutestamentlicher Denkanstoss», in: BiKi 1/2007, 42-45, hier 44.

 

~ 2 min

«Wie Geld die Politik und uns selber bestimmt». Unter diesem Thema lud die linksevangelikale Gruppe «ChristNet» am 28. Januar in Bern zu einem Forum ein. Gut 30 Teilnehmende wollten mehr darüber wissen.

Laut dem mennonitischen Theologen Lukas Amstutz gibt es im Alten Testament drei Positionen zum Geld: Reichtum als Segen – etwa bei Abraham –, die weisheitliche Warnung vor den Gefahren und die prophetische Kritik an unrechtmässig erworbenem Reichtum, der zu sozialen Ungerechtigkeiten führe. Die göttliche Reaktion darauf sei der Ausgleich dieser Ungerechtigkeiten. Im Neuen Testament gebe es dann eine breite Kritik an den Reichen. Geld versperre den Weg zu Gott, solange man es für sich behalte. Oder in den Worten des aktuellen Papstes: «Das Geld muss dienen, es darf nicht beherrschen.» Im Spendenverhalten am Opferstock in Markus 12 sieht Amstutz mehr als den Gegensatz zwischen Reichen, die aus ihrem Überfluss geben und einer Witwe, die trotz ihres Mangels alles gibt. Laut der Vorgeschichte gehe es viel mehr um die Ausbeutung dieser Witwe durch die Reichen, welche die Häuser der Witwen leer fressen. Eigentlich müsste die Witwe das Geld erhalten. Schon der Sündenfall sei eine Konsumsünde gewesen: eine Frage habe gereicht, um aus Neugierde Gier zu machen. Die Reichen sollten dafür sorgen, dass die
Armen selber reich werden können.

Die Berner Politologin Laura Brechbühler hat in ihrem Studium den Einfluss des Geldes in der Schweizer Politik durch Lobbying und Politikfinanzierung untersucht. Unterdessen müssten die Parlamentarier bezahlte und unbezahlte Mandate ausweisen, über deren Höhe wisse man aber wenig. Die Mitte werde dabei am meisten umworben. Das Haupt-Lobbying finde aber ausserhalb des Bundeshauses statt. Da es keine staatliche Politikfinanzierung gebe, seien Spenden entscheidend. Bei den rechten Parteien gebe es tendenziell weniger davon, weil dort die Unternehmen mehr investieren. Der genaue Einfluss sei aber unklar. Deshalb müsse es mehr Transparenz geben, wie dies mit dem Gegenvorschlag zur Transparenz-Initiative in den kommenden Parlamentswahlen erstmals geschehen sollte.

Der Baselbieter Nationalrat Eric Nussbaumer erläuterte das Parlamentarier-Shopping: Wer in einer Kommission sitzt, bekommt automatisch Mandate angetragen. Dies ist für ihn «die schlimmste Entwicklung». Nussbaumer wandte sich aber gegen den Eindruck, dass alle politisch Tätigen käuflich seien. Das Milizsystem sei im Kern ein bezahltes Lobbying. Deshalb bleibe die entscheidende Frage «Welche Werte beeinflussen mich?» Lobbyarbeit für die Schwächsten – etwa im Asylbereich – sei in der Regel nicht möglich. Das wirkliche Problem sei deshalb das Geld: «Das Problem mit dem Lobbyismus ist das Ungleichgewicht in der Interessenvertretung. Die verschiedenen Gruppen haben ungleiche Mittel, sich in der Politik Gehör zu verschaffen.» Christen sollten deshalb zu Lobbyisten werden für solche, die keine Lobby haben. Ziel sei die Ausgewogenheit aller politischen Entscheidungen, nachvollziehbar und transparent. Am Schluss zähle das wahre Argument, das – hoffentlich – nicht gekauft sei.

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Die Fussball-WM in Katar hat gestern begonnen und dauert bis am 18. Dezember 2022. Keine Fussball-WM der Vergangenheit stand so in der Kritik wie die in Katar. Hauke Burgarth von Livenet hat sich damit auseinandergesetzt, warum viele Christinnen und Christen dabei sind oder eben nicht.

Das Für und Wider in der Diskussion darüber, ob man die Spiele dieser Fussball-WM anschauen sollte, haben allerdings andere Schwerpunkte – und werden bei Christinnen und Christen noch um eine geistliche Komponente erweitert. Was also spricht für bzw. gegen das Anschauen der Spiele?

Pro – Warum viele die WM schauen werden

  • Der Sport steht im Vordergrund. Natürlich nehmen an einer Fussballweltmeisterschaft nicht nur demokratische, westlich orientierte oder christlich geprägte Staaten teil. Politik oder Religion steht dabei nicht im Vordergrund. Es geht um Sport – in diesem Falle um Fussball, die «schönste Nebensache der Welt».
  • Zwischen all den Krisen- und Kriegsnachrichten wird es richtig wohltuend sein, spannende Fussballspiele zu schauen und am 28. November mitzufiebern, ob Brasilien eine Chance gegen die Schweizer Nationalelf hat.
  • Eine Fussball-WM ist immer auch eine Chance fürs Evangelium. Das beginnt in unseren Breiten, wo die bekannte «Fussballbibel» von David Kadel rechtzeitig zur Meisterschaft neu herausgegeben wurde und zum Glauben an Jesus Christus einlädt. Und es endet noch lange nicht mit den Möglichkeiten zum Gespräch, die Christen aus aller Welt in Katar haben werden.
  • Trotzdem ist klar, dass Katar nicht gerade zu den freien Ländern der Erde zählt, aber gerade der Fokus aufs Land kann dort Veränderungen bewirken. Ohne die WM wären Menschenrechte und Arbeitsbedingungen in Katar sicher nie weltweit diskutiert worden.

Contra – Warum viele die WM nicht schauen werden

  • «Fussball gehört weder in den Winter noch in die Wüste», sagen etliche und verweisen damit auf die fehlende Fussballtradition des Emirats, das dieses Manko offensichtlich durch gekaufte Fans ausgleichen möchte (die Sportschau berichtete).
  • Viele Beobachter und auch die amerikanische Justiz sind sich einig, dass die WM durch Korruption nach Katar gekommen ist. 2010 erhielt der Wüstenstaat von der FIFA in Zürich, die damals von Sepp Blatter präsidiert wurde, den Zuschlag. Seither rissen die Gerüchte, dass Katar die WM kaufte, nicht ab, Ermittlungen wurden aufgenommen und 2015 fanden in der Schweiz in diesem Zusammenhang zahlreiche Verhaftungen statt.
  • Bereits im Vorfeld der WM gingen die Menschenrechtssituation und völlig unzulängliche Sicherheitsstandards für Arbeitsmigranten in Katar durch die Presse. 6’500 bis über 15’000 Menschen starben bei den Bauarbeiten für die WM. Das ist mehr als nur eine Schieflage bei einem Event, das sonst jede Kleinigkeit nach internationalen Standards regelt. Eine fünfstellige Zahl an Toten ist für eine WM nicht hinnehmbar.
  • Freiheit ist in Katar nach westlichen Massstäben ein Fremdwort: Das beginnt bei fast nicht existenten Frauenrechten und hört bei einer stark beschränkten Pressefreiheit noch lange nicht auf. Laut «Reporter ohne Grenzen» liegt Katar auf Rang 119 von 180 weltweit.
  • Eine freie Glaubensausübung im Land ist nur möglich, wenn man ein muslimischer Mann ist und das bleiben möchte. Ausländische Christen im Land werden laut Idea immer wieder Repressalien ausgesetzt. Einheimische Christen darf es laut Katar kaum geben. So verwundert es nicht, dass das Land auf dem Weltverfolgungsindex nach den «führenden» Nationen Afghanistan und Nordkorea Rang 18 bekleidet.

Und nun?

Dürfen Christinnen und Christen die Spiele der WM anschauen? Natürlich. Wer sollte es ihnen verbieten – sie werden ja sogar öffentlich ausgestrahlt. Ist es sinnvoll und richtig? Das muss wohl jede und jeder selbst entscheiden.

Organisationen wie Amnesty International tun sich schwer mit einer eindeutigen Haltung. Tendenziell lehnt Amnesty einen Boykott der WM ab, um weiterhin Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen zu können.

Bewusstes Feiern statt Boykott

Eine wegweisende Linie fährt das WM Public Viewing «Dr Bitz» in Köniz bei Bern. Dessen Veranstalter haben sich gegen einen Boykott entschieden und zeigen in einer leerstehenden Halle in Köniz mit rund 400 Plätzen sämtliche Fussballspiele während der WM. Diese werden ohne Werbepausen und Studiogespräche übertragen, da die Veranstalter den WM-Sponsoren keine Plattform bieten wollen. «Stattdessen wollen wir uns gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation Amnesty International aktiv mit der prekären Menschenrechtslage in Katar auseinandersetzen», erklärt der Veranstalter Beat Wenger gegenüber SRF. So sind neben den Matches Podiumsdiskussionen und eine Fotoausstellung zu Katar geplant. Zudem können Interessierte eine Petition von Amnesty International unterschreiben, die auf Entschädigungen für Arbeitsmigranten in Katar abzielt.

Auch er habe zuerst über einen WM-Boykott nachgedacht, räumt Wenger ein. «Dann ist mir bewusst geworden, dass Fussball Menschen weltweit verbinden kann und wir haben nach einem Weg gesucht, wie man den Sport an der Fussball-WM in Katar trotz vieler Schattenseiten zelebrieren kann.»

Der Artikel erschien erstmals auf Livenet.ch. Für ChristNet wurde der Anfang und Schluss leicht gekürzt und durch den letzten Abschnitt ergänzt.

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Putin führt seinen Krieg mit Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche. Rechtsevangelikale Christen in den USA sehen ihr Land als das neue gelobte Land. Und in der Schweiz wehren wir uns gegen alles, das unsere Souveränität in Frage stellt. Das Reich Gottes aber hat einen ganz anderen Horizont. Höchste Zeit also, umzudenken.

Jesus Christus ist nach biblischem Zeugnis der Sohn des dreieinen Gottes. Er ist Initiator und Zielpunkt von dem, was wir heute das Christentum nennen. Die inhaltliche Grundlage dazu hat er mit seinem Evangelium vom angebrochenen Reich Gottes 1 formuliert. Das ist eine gute Botschaft für die ganze Welt – und dies seit 2000 Jahren. Wenn wir deshalb unsere Hand auf die Bibel legen: Wieviel Nationalismus hat in diesem Evangelium Platz?

Putin: frommer Christ oder machtbewusster Despot?

Anlässlich des kürzlichen orthodoxen Osterfestes wagte sich der russische Präsident Putin wieder einmal nach draussen, zumindest unter das Dach der Kirche. Er nahm am orthodoxen Gottesdienst unter der Leitung des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill teil. Wie es sich gehört, schlug er ein Kreuz über seiner Brust. Er bekannte sich damit zum Sohn Gottes, der an Karfreitag an einem Kreuz für alle menschlichen Sünden gestorben ist. Auch für die Sünden des frommen Christen Wladimir Wladimirowitsch Putin. So weit so gut – und nötig.

Theodorus II., Oberhirte der Orthodoxen in Afrika, versichert: «Putin war ein gläubiger Christ, das weiss ich aus engster Erfahrung.» Die Verwandlung zum frömmelnden Gewaltherrscher schreibt er seinem ausufernden Machtrausch zu: «Zunächst glaubte er, ein neuer Zar zu sein.» Seine Alleinherrschaft habe ihn unterdessen vollends verblendet. Der Orientalist Heinz Gstrein erklärt diese Verwandlung2 unter anderem mit einer unheilvollen Veränderung der Geisteshaltung, die auch schon beim bekannten Schriftsteller Alexander Solschenizyn aufgetreten sei. In kommunistischen Straflagern vom Atheisten zum orthodoxen Christen geläutert, sei Solschenizyn in der Zeit Putins zum «pseudoreligiösen russischen Nationalisten» geworden, der, wie heute Putin, Russland vom «angeblich verderblichen westlichen Einfluss» erlösen wollte. Solscheniyzin wurde laut Gstrein zum Propheten jener Entwicklung in Osteuropa, «nach der die Befreiung von der kommunistischen Diktatur nicht in der liberalen Demokratie, sondern im Nationalismus … endet».

 

Ethnischer Nationalismus – ein Irrweg

Den Auslöser dieses Denkens sieht der Russlandexperte Martti J Kari in der Belagerung von Konstantinopel durch das Volk der Rus im Jahr 8603 . In der Folge seien in Osteuropa die Traditionen des byzantinischen Reiches übernommen und als Missionsauftrag der Russen an allen slawischen Völkern verstanden worden: die orthodoxe Religionslehre, der Konservativismus und das ungebrochene Verhältnis zu einer Autorität, die niemals in Frage gestellt werden darf, weil sie gottgegeben ist. In den folgenden Wirren der russischen Geschichte, in denen das Zarentum immer wieder vor dem Zusammenbruch stand, hat sich laut Martti J Kari die Gewissheit verdichtet, «dass ein starker Zar besser ist als ein schwacher Führer». Das habe sich auch nach dem Ende der Sowjetunion gezeigt, als der schwache Führer Boris Jelzin durch den starken «Zaren» Putin ersetzt wurde.

Was im Blick auf das biblische Evangelium zu denken gibt, ist die Tatsache, dass dieser autoritäre Nationalismus genährt wird von einer Kirche, die sich als russisch-orthodox bezeichnet. Sie verbindet ihren Auftrag damit mit einem ethnisch definierten Nationalismus und fühlt sich überall zuständig, wo Russen leben. Es war deshalb nicht erstaunlich, dass sich die orthodoxe Kirche in der Ukraine nach der russischen Annexion der Krim vom Moskauer Zentrum absetzte. 2019 erhielt sie vom ökumenischen (weltweiten) Patriarchen Bartholomaios von Konstantinopel die nationale Unabhängigkeit. Was vom Moskauer Patriarchen Kyrill postwendend als Spaltung kritisiert wurde. Offensichtlich führt der ethnische Nationalismus in eine Sackgasse.

 

Die Reformation führt zurück zu den Wurzeln

Nun, es sei nicht verschwiegen, dass sich autoritäre Züge schon nach der konstantinischen Wende im Jahr 313 in der Kirche ausgebreitet hatten. Das Denken in den Kategorien eines Heiligen Römischen Reiches (deutscher Nation) des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde aber dank der Reformationsbewegung von Martin Luther und seinen Nachfolgern nachhaltig in Frage gestellt. Die Proklamation eines biblischen Verständnisses des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen führte, verbunden mit dem Zugang zur Lektüre der Bibel für alle, zu einer Bildungsoffensive und zu einem Denken, das die spätere Aufklärung begünstigte. Die radikale Umsetzung dieses mehr individualistischen Ansatzes des Glaubens durch die Täufer wurde zwar als staatsgefährdend zurückgewiesen. Auch die politische Anwendung des Gleichheitsgedankens durch die Bauern, die ihre Unterjochung durch die Oberschicht abschütteln wollten, fand bei den Reformatoren wenig Gnade. Die Gegenbewegung zum autoritären Staat war aber nicht mehr aufzuhalten.

 

Die politische Fortsetzung in der Aufklärung

Die Aufklärung war ein nächster Schritt dazu. Sie gipfelte in einer ersten Erklärung der Menschenrechte im Vorfeld der französischen Revolution. Auch hier reagierten die Kirchen vorerst mit grosser Zurückhaltung. Neben bibel- und kirchenkritischen Vertretern waren bei der Aufklärung aber von Anfang an auch christliche Denker mit dabei. Während die kirchenfernen Aufklärer die Menschenrechte mit dem Naturrecht nur unscharf begründen konnten, hatten die christlichen Aufklärer starke Argumente. Der Autor Kurt Beutler bringt dies so auf den Punkt: «Wenn es denn wirklich so ist, dass Gott alle Menschen in seinem Bild erschuf und Jesus am Kreuz nicht nur die oberen Zehntausend, sondern sogar den Mörder erlöste, der am anderen Kreuz hing, dann sind alle Menschen gleichwertig4

Der englische Arzt und Christ John Locke (1632 bis 1704) gehörte zu den ersten Denkern, welche die Aufklärung und die Menschenrechte mit einem biblischen Weltbild verbanden. Die ersten drei Menschenrechte sprechen das Recht auf Leben, Besitz und die Meinungsfreiheit an. Sie wurden laut Kurt Beutler5  bereits im 11. Jahrhundert von der katholischen Kirche anlässlich der gregorianischen Reform in Anlehnung an das römische Recht für alle Menschen proklamiert. Daran habe John Locke im 17. Jahrhundert angeknüpft. «Allerdings zog er viel radikalere Konsequenzen als seine katholischen Vorgänger. Er erklärte alle Regierungen für illegal, welche die allgemeinen Menschenrechte nicht durchsetzten. Ja, er ging noch weiter: Die Regierungen aller Länder hätten keine andere Aufgabe, als dafür zu sorgen, dass alle Bürger zu ihrem Recht kämen. Ansonsten sei es Pflicht der Bürger, diese Regierungen zu stürzen und durch andere zu ersetzen.» John Locke und seine Anhänger wiesen angesichts der Sündhaftigkeit aller Menschen darauf hin, dass man letztlich keinem Menschen bedingungslos trauen könne. Jeder müsse deshalb kontrolliert und seine Macht zeitlich beschränkt werden. Sie plädierten deshalb für die Demokratie und die Gewaltentrennung zum Schutz der Menschenrechte.

 

Die USA gehen voran

Zu den ersten Weltregionen, in denen diese Gedanken im Rahmen einer Nation Frucht trugen, gehörten die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Unter den frühen Einwanderern bildeten laut Kurt Beutler die Anhänger von John Locke in einigen Staaten eine Mehrheit, etwa die Baptisten in Rhode Island und die Quäker in Pennsylvania, «so dass dort von jenen Freikirchenleuten die weltweit ersten wirklichen Demokratien gegründet wurden»6.

Die US-Christen übten aufgrund ihres biblisch fundierten Glaubens in diesem freien politischen Umfeld einen starken Einfluss aus. Manche sahen in den USA das neue Volk Israel, das der Welt das Heil bringen sollte. Dieses Selbstverständnis ist theologisch zwar nicht haltbar: Das Volk Israel und die mit ihm verknüpfte Verheissung gibt es nur einmal. Trotzdem wirkt dieses Denken unter rechtsevangelikalen Christen bis heute nach. Dass sich diese Kreise dann dazu hinreissen liessen, ihren Heilsbringer in Donald Trump zu sehen, zeigt, wie gefährlich Erwartungen sind, die nicht am Wirken des einen Messias – Jesus Christus – gemessen werden.

Zum Glück trat der übertriebene Nationalismus nach der Devise «America First» gegen Ende des zweiten Weltkrieges in den Hintergrund. Der damalige Internationalismus führte dazu, dass sich die USA mit andern Staaten zusammen nicht zu schade waren, ihre demokratischen Grundwerte militärisch gegen diktatorische Ansprüche durchzusetzen. Eine mittelfristige Frucht dieses Einsatzes waren nach dem gewonnenen zweiten Weltkrieg die NATO und die Europäische Union.

 

Verfassungsrechtlicher Nationalismus

Neben England und Frankreich entwickelten sich auch die übrigen westlichen europäischen Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts zu verfassungsrechtlich begründeten Nationalstaaten. Die Staatsgewalt ging nun nicht mehr von einer Elite aus. Sie war an eine Verfassung gebunden und durch die Gewaltentrennung begrenzt. In der Verfassung waren der organisatorische Staatsaufbau, die territoriale Gliederung des Staates und das Verhältnis zu anderen Staaten geregelt. Sie konnte nur in einem besonders geregelten demokratischen Verfahren, verbunden mit hohen politischen Hürden, geändert werden.

Diese Nationalstaaten waren nicht mehr ethnisch, sondern rechtlich und territorial begründet. Das gilt nicht zuletzt auch für die Schweiz. Unser Bundesstaat entstand bekanntlich im Zusammenhang mit der Neuordnung Europas am Wienerkongress von 1815 und fand nach einigem Hin und Her mit der Verfassung von 1848 die heutige Form. Die ehemaligen eidgenössischen Untertanengebiete und die deutschsprachigen Kernlande wurden nicht etwa unter die angrenzenden Länder verteilt, es entstand vielmehr eine neue multiethnische Nation mit gleichberechtigten Kantonen, die vorsichtshalber mit dem europäischen Neutralitätssiegel ruhiggestellt wurde.

Mit verschiedenen Verfassungsreformen holte der Bundesstaat immer mehr Gesellschaftsgruppen an Bord des Nationalstaates: 1874 mit der Einführung des fakultativen Referendums zumindest einen Teil der katholischen Bevölkerung, nach dem 1. Weltkrieg mit den Nationalratswahlen im Proporzsystem die Bauern und die (späteren) Sozialdemokraten. So entstand eine direkte Demokratie mit einem ausgebauten Föderalismus, kombiniert mit dem Subsidiaritätsprinzip bis hinunter in die einzelnen Gemeinden7 . Unter den Bedingungen einer weltweiten Pandemie wurde das Schweizer System kürzlich einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt, der wir mit einem blauen Auge – zumindest vorläufig – entkommen sind.

Weniger nachahmungswürdig sind unsere krummen wirtschaftlichen Geschäfte unter dem Deckmantel der «Neutralität» und der Verschwiegenheit. Ebenso schräg ist das hartnäckige Leugnen unserer internationalen Verflechtung in einer globalisierten Welt. Heute gibt es nach aussen keine souveränen Nationen mehr, sondern nur noch Staaten, die mehr oder weniger voneinander abhängig sind.

 

Das Reich Gottes ist international

Jesus hat mit seiner Botschaft die Grenzen des jüdischen Staates zumindest im Ansatz überwunden. Seine Jünger verbreiteten diese Botschaft und ihre Werte in der ganzen antiken Welt. Im Laufe der Kirchengeschichte wurden – trotz Fehlentwicklungen wie dem Kolonialismus – immer mehr ethnische und nationale Grenzen überwunden, so dass man heute sagen darf und muss: Christen denken und handeln international. Sie passen damit hervorragend in unsere globalisierte Welt.

Trotzdem macht es Sinn, dass sie sich auch um ihre Nation, ihre Region und ihren Wohnort kümmern. Sie haben auf allen politischen Ebenen Werte und Strategien einzubringen, die den Zielen des Reiches Gottes und seines Gründers entsprechen. Verfassungsrechtlich organisierte Demokratien mit einer konsequenten Gewaltentrennung sind heute auf dem Rückzug. Getrieben von Macht und Geld kommen auch mitten im «christlichen» Europa immer mehr autoritäre (meist) Männer ans Ruder; kollektivistische Regierungsformen à la China und Russland bzw. am Stammesdenken orientierte afrikanische Staaten, die das Individuum verachten, sind im Aufwind.

Höchste Zeit also, dass wir, erfrischt vom Lebenshauch des Heiligen Geistes, wieder ganz neu unser Umfeld, unser Land und die globalisierte Welt mit den Werten und der Botschaft des Evangeliums prägen. Und das ganz ohne nationalistische Scheuklappen. Unsere Väter und Mütter im Glauben haben uns vorgemacht, was das heissen könnte.

 

1. Markus 1,15

2. Internetportal Livenet, Newsletter vom 12.4.22

3. Das Magazin Nr. 14 vom 9.4.22, Autor: Mikael Krogerus

4. Internetportal Livenet, Newsletter vom 25.4.22

5. Internetportal Livenet, Newsletter vom 1.4.22

6. Internetportal Livenet, Newsletter vom 1.4.22

7. Es besagt, dass die Ebene der Regulierungskompetenz immer so niedrig wie möglich und so hoch wie nötig angesiedelt werden soll.


Artikel ursprünglich erschienen am 02. Mai 2022 auf https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/22-5-1-wieviel-nationalismus-ertraegt-das-evangelium.html

~ 2 min

Gott sorgt sich um unser Wohlergehen. Und um das unserer Nächsten. Dies gilt insbesondere für Menschen, die wirtschaftlich gesehen eine schwache Position haben. So steht in Jakobus 5,4:  «Siehe, der von euch vorenthaltene Lohn der Arbeiter, die eure Felder geschnitten haben, schreit, und das Geschrei der Schnitter ist vor die Ohren des Herrn Zebaoth gekommen.» In 1. Timotheus 5,18 wird nachgedoppelt: «Denn die Schrift sagt: ‚Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden‘, und: ‚Der Arbeiter ist seines Lohnes wert.’» Was hat das mit der Forderung nach einem Mindestlohn zu tun?


Um die wirtschaftlich Schwächsten zu schützen, wurden in vielen Ländern Mindestlöhne fixiert. Auch in der Schweiz versuchte eine Initiative im Jahr 2014, einen Mindestlohn von 4000 Franken einzuführen. Nach teilweiser Zustimmung in ersten Umfragen wurde die Initiative dann aber klar abgelehnt.

Wie gewichten wir die Armut?

Der Staat solle in Sachen Lohn nichts vorschreiben, war eines der Gegenargumente. Und mit einem definierten Mindestlohn würden Anreize geschaffen, welche die Schweiz für ausländische Arbeitnehmende attraktiver machen würde. Es ist bedenklich, wenn solche Argumente wichtiger sind als die Armut, in der viele Familien leben müssen. Nach dem Bundesamt für Statistik1 war im Jahr 2014 nämlich jedes 20. Kind in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen und jedes sechste Kind armutsgefährdet.

Arbeitsplätze verlieren oder gewinnen?

Ein weiterer Grund für die Ablehnung der Initiative war auch die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Dies ist einerseits verständlich und wurde von der Gegenseite im Abstimmungskampf auch intensiv bewirtschaftet. Vermutlich war das einer der Hauptgründe, dass schliesslich eine klare Ablehnung zustande kam.

Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Arbeitsplatz-Argument als falsch: In Grossbritannien wurde 1999 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der auch jährlich erhöht wurde. Wissenschaftliche Untersuchungen2 zeigten, dass dadurch insgesamt keine Arbeitsplätze vernichtet, sondern tendenziell eher mehr geschaffen wurden. Dies deshalb, weil wenig Verdienende das zusätzliche Geld nicht horten können, sondern meist grad wieder vor Ort ausgeben. Auch in den USA3 wurden ähnliche Erfahrungen gemacht.

Die Wirtschaft für alle fördern

Inzwischen haben in der Schweiz bereits fünf Kantone Mindestlöhne eingeführt: Jura, Neuenburg, Tessin, Genf und Basel-Stadt. Die Erfahrungen zeigen, dass dies positive Auswirkungen hatte. Arbeitsplatzverluste sind bisher nicht bekannt geworden.

Fazit: Es ist auch in der Schweiz möglich, würdige und zum Leben ausreichende Löhne zu bezahlen, wie es der biblischen Gesinnung entspricht.Das Thema muss deshalb auch politisch wieder auf den Tisch kommen. Eine Wirtschaftsförderung ohne Umverteilungsmassnahmen hat noch nirgends in den Industrieländern dazu geführt, dass es den Armen besser geht. Deshalb: Lasst uns das tun, was wirtschaftlich möglich ist und auch für die Schwächsten Sinn macht.


1 https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home.assetdetail.1320142.html

2 https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-grossbritannien-loehne-und-jobs-stabilisiert-10342.htm

3 https://www.letemps.ch/economie/six-enseignements-salaire-minimum

Dieser Beitrag ist erstmals im «Forum Integriertes Christsein» erschienen: https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/22-3-5-arbeit-mindestloehne-sind-christlich-und-moeglich.html

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Warum wir für das Mediengesetz ein Ja einlegen – wenn auch kein enthusiastisches.

Eine gesunde Medienlandschaft, sprich eine Bandbreite von unabhängigen und vielfältigen Verlagen mit gut ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten, ist essentiell für eine Demokratie wie die Schweiz. Denn es muss eine öffentliche Diskussion über politische Themen stattfinden, damit alle gehört werden und gemeinsame Lösungen gefunden werden können. Nur so kann das Beste für alle unsere Nächsten gefunden werden. Gleichzeitig kann auch nur so Wahrheit ertastet werden. Oder wie das Online-Magazin Republik es treffend formulierte: «Die grösste Leistung eines gesunden Mediensystems ist gerade das, was viele ihm vorwerfen: die Herstellung eines Mainstreams. Was heisst: ein Set an gemeinsamen Fakten, Werten und Benimmregeln, über die man sich dann streiten kann. Zerbricht der Mainstream, streitet man sich nicht mehr über verschiedene Interpretationen der Wirklichkeit, man lebt in verschiedenen Wirklichkeiten.»

Facebook ist kein Ersatz für eine Nachrichtenredaktion

Wer sich vorwiegend in den sozialen Medien informiert, läuft schnell Gefahr, in seiner eigenen Wirklichkeit (auch Bubble genannt) stecken zu bleiben. Denn die täglich konsumierten «News», die einem im Feed von Facebook, Twitter und Co angezeigt werden, sind nicht dieselben Inhalte, die auch den Nachbarn und anderen Landsleuten angezeigt werden. Sie werden vom Algorithmus eines Grosskonzerns für jeden User individuell zusammengestellt. Es befindet keine lokale Redaktion darüber, was relevant ist, sondern die Programmierer eines Unternehmens, das mit Werbeeinnahmen zu seiner Grösse heranwuchs und weiterhin davon abhängig ist. Allerdings kann man auch beim Konsum eines (immer demselben) anderen Mediums in eine Blase geraten.

Macht der Medien muss verteilt bleiben

Wenn die zahlreichen unabhängigen Medien weiter von den wenigen Big Players übernommen oder quasi als Spielzeug von Milliardären aufgekauft werden, erweisen wir unserem demokratischen System ebenfalls einen Bärendienst. Dann unterliegt die Meinungsbildung den Interessen der Konzerne und derer Aktionäre, sowie den Interessen der Einzelbesitzer. Abweichende Meinungen oder Kritik an gewissen Mächten und an Besitzverhältnissen ist dann nicht mehr möglich. Was es heisst, wenn Medien und damit die Meinungsbildung in den Händen weniger liegt, wird in immer mehr Ländern klar: In unser Bewusstsein getreten ist das Problem mit Medienmagnaten wie Rupert Murdoch, der in Grossbritannien Margaret Thatcher zum Durchbruch verhalf, dann auch Silvio Berlusconis Medienimperium (resp. Quasi-Monopol) in Italien, den Medienhäusern in Osteuropa und nun auch den immer grösseren Medienkonzernen in Westeuropa. Auch in Lateinamerika sind die Medien zum grossen Teil in den Händen der konservativen Oberschicht. So wird die demokratische Meinungsbildung verzerrt und erhalten Einzelinteressen die Macht, das Denken der Bevölkerung in eine bestimmte Richtung zu lenken oder kritische Meinungen und Minderheiten zu unterdrücken.

Abhängigkeit von privaten Geldern minimieren

Die Situation ist auch für die hiesige Demokratie problematisch: Eine Studie der Uni Zürich hat gezeigt, dass die Schweizer Medienkonzerne bei der Konzernverantwortungsinitiative viel mehr Artikel gegen als für die Initiative publiziert haben. Es ist naheliegend, dass die Medienhäuser ihre zahlungskräftigen Inserenten, die von der Annahme der Initiative betroffen gewesen wären, nicht gegen sich aufbringen wollten. So stellt sich die Frage, ob in Zukunft Initiativen, die wirtschaftliche Interessen von Konzernen bedrohen, überhaupt eine Chance haben werden. Staatliche Subventionen können durchaus dazu dienen, solche Abhängigkeiten zu minimieren.

Das zurzeit Bestmögliche

Nun wurde über Jahre an einer Subventionslösung gewerkelt, unzählige Interessengruppen haben die Arbeit beeinflusst, die Vorschläge wurden hin und her gereicht, bis schliesslich das herauskam, was uns jetzt als Mediengesetz vorgelegt wird und worüber wir im Februar abstimmen werden. Nun soll die Schweizer Presse jährlich mit 180 Millionen Franken unterstützt werden (zumindest für die nächsten sieben Jahre), statt wie bisher mit 50 Millionen. Kleine Onlinemedien erhalten 30 Millionen, die Grossen bekommen einen Grossteil der 70 Millionen, die für die Zustellung bestimmt sind, und Keystone-SDA, die Journalistenschule, der Presserat etc. erhalten weitere 30 Millionen. So richtig begeistert ist vom Endprodukt niemand – das haben Kompromisse so an sich. Eigentlich sollten vor allem kleine und unabhängige Medien finanziert werden. Das Schweizer Parlament hat es allerdings so an sich, dass Wirtschaftslobbies und Konzerne stark Einfluss nehmen können. Wohl auch deshalb, weil die Parteifinanzierung nicht transparent ist – eine Verzerrung der Gesetzgebung, die im Ausland schon längst angegangen wurde. So ist das vorliegende Gesetz das Beste, was unter unseren nicht bereinigten Umständen möglich ist, auch wenn es stossend ist, dass grosse Medienhäuser noch mehr Geld erhalten. Aber wenn es abgelehnt wird, dann wird in naher Zukunft auch kein besseres Gesetz möglich sein. Und damit wird die Machtkonzentration in der Meinungsbildung weitergehen.

Unser besonderes Anliegen ist, dass im öffentlichen Diskurs nicht nur die Lauten, sondern auch Minderheiten, wirtschaftlich Schwache und andere marginalisierte Gruppen Gehör finden. Es stellt sich also die Frage, ob das neue Mediengesetz dieses Anliegen fördert oder behindert. Wir denken, dass das neue Gesetz dieses Ziel erreicht. Mehr oder weniger.

https://www.republik.ch/2022/01/05/mediengesetz/befragung


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Nikotin hat ein ähnlich grosses Suchtpotential wie Heroin. Rund 14 % der Schweizer Bevölkerung sind schwer abhängig von diesem Stoff. Die Hälfte der stark Rauchenden stirbt vorzeitig. Das macht 9500 Tote pro Jahr, so viele Tote wie die Covid-Pandemie im ersten Jahr gefordert hat – nur fordert der Zigerettenkonsum jedes Jahr diesen Tribut. Es ist damit das mit Abstand grösste vermeidbare Gesundheitsproblem der Schweiz.

Auch wegen dem Wegsterben der Kunden muss die Tabakindustrie ständig neue Kunden gewinnen. Weil die Jugendlichen die Risiken ihrer Handlungen noch nicht genau abschätzen können und weil nach 21 Jahren kaum mehr jemand mit dem Rauchen anfängt konzentriert die Tabakindustrie heute ihre Werbeanstrengungen zu einem grossen Teil auf die Jugendlichen, dort wo sie unterwegs sind: An den Festivals, im Internet, in den sozialen Netzwerken, an den Kiosken und im Ausgang. Sie werden zwar nicht direkt angesprochen, sind aber immer mitgemeint. Das neue Tabakproduktegesetz hat die Werbung für Nikotinprodukte zwar leicht eingeschränkt, erlaubt aber die Werbung weiterhin genau an denjenigen Orten, wo besonders viele Jugendliche erreicht werden. Und die Forschung zeigt klar, dass die Werbung einen erheblichen Einfluss auf den Raucheinstieg hat.

Die meisten Menschen haben wohl Gewissensbisse, Jugendliche in eine Sucht zu locken. Aus christlicher Sicht ist umso klarer, dass wir unseren Nächsten Gutes und nicht Schlechtes tun sollen. Es sollte also klar sein, dass wir es nicht zulassen sollten, dass Menschen zu einer Sucht verführt werden, um sie dann finanziell auszusaugen und viele von Ihnen dem Tod zu überlassen. Dies umso mehr, als dass die meisten dieser Menschen zum Zeitpunkt der Verführung gar noch minderjährig sind! Genau wenn es um Minderjährige geht können sich Produzenten nicht damit herausreden, dass jeder Konsument ja eigenverantwortlich ist. Deshalb ist es höchste Zeit, die Werbung für Tabak und andere Nikotinprodukte zu verbieten, die Jugendliche erreicht!

www.kinderohnetabak.ch