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Jetzt abstimmen für ein wuchtiges Nein zur familienschädlichen Nachtarbeit

Die Befürworter von längeren Ladenöffnungszeiten haben bei kantonalen Abstimmungen meist Schiffbruch erlitten. Deshalb versuchen sie es nun mit einer Salamitaktik auf eidgenössischer Ebene. Den Start macht die Abstimmung vom 22. September.

Bereits heute existieren über 1300 Tankstellenshops. Sie sind meist deshalb entstanden, um von der Möglichkeit der Sonntagsöffnung zu profitieren, die ihnen das Arbeitsgesetz zugesteht. Ein Gummiparagraph sieht vor, dass Tankstellenshops auch sonntags und abends offen halten können, wenn sie an «Hauptverkehrswegen mit starkem Reiseverkehr» liegen. Bereits heute haben die meisten Tankstellenshops, die an grösseren Durchgangsstrassen liegen, am Sonntag offen. Und die meisten liegen in Städten und Agglomerationen und haben damit nichts mit Reiseverkehr zu tun.

So ist absehbar, dass nach der Aufweichung des Nachtarbeitsverbots immer mehr der insgesamt über 1300 Tankstellenshops auf 24-Stundenbetrieb umstellen werden. Um zu kontrollieren, ob sie dazu berechtigt sind, müsste jeder einzelne vor Gericht gezogen werden. Das ist schwierig und dauert lange. Eine unkontrollierte Ausbreitung des 24-Stundenbetriebs und damit mehr Verkehr, Gestank und Lärm sind die Folge. Dies hätte negative Folgen für die Familien und die Kinderbetreuung.

Hinter der Abstimmung zur Nachtarbeit in Tankstellenshops steht die Absicht, die Nacht- und Sonntagsarbeit im Detailhandel voranzutreiben. Dies zeigt der Aktivismus im Parlament für längere Ladenöffnungszeiten. Mit Verweis auf die neuen Regeln für Tankstellenshops und unter dem Motto «Gleiches Recht für alle» haben die Grünliberalen bereits die Abschaffung des Nacht- und Sonntagsarbeitsverbots für alle Läden vergleichbarer Grösse aufgegleist. Dass der Bundesrat diesen Vorstoss ablehnt, hilft da nicht viel. Denn das Parlament hat zuletzt im Juni bewiesen, dass es eine umfassende Ausweitung der Ladenöffnungszeiten will. Unter dem Deckmantel der «Tourismusförderung» hat das Parlament bereits beschlossen, den Sonntagsverkauf grossflächig einzuführen sowie zurückhaltende Kantone zu längeren Mindestöffnungszeiten von 6 bis 20 Uhr unter der Woche und von 6 bis 19 Uhr am Samstag zu zwingen.

Diese Salamitaktik des Parlaments muss jetzt gestoppt werden mit einem Nein zur Verschlechterung des Arbeitsgesetzes am 22. September.

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Flüchtlinge – Fakten statt Vorurteile

Unwissenheit bildet fruchtbaren Nährboden für Vorurteile. Diese Broschüre will vorgefassten Meinungen zum Schweizer Asylwesen mit Fakten entgegentreten. Wir möchten Sie alle dazu anregen, gegenüber den zuweilen lückenhaften Informationen zur Flüchtlingssituation kritisch zu bleiben. Geben Sie Intoleranz, die auf Stereotypen gründet, keine Chance.
Die Broschüre kann hier bestellt werden (Online-Formular).

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Am 9. Juni 2013 stimmen wir über die sogenannt dringlichen Änderungen des Asylgesetzes ab, die seit Ende 2012 in Kraft sind. Die Befürworter dieser Änderungen betonen, es handle sich dabei um Verbesserungen, die zur Beschleunigung der Asylverfahren führten, und keineswegs um Verschärfungen.1 Wirklich? Bei einer genaueren Betrachtung stellen sich so einige Fragen.

Kein Schutz bei Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung und Desertion

«Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden», 2  sind vom Asyl ausgeschlossen.

Anti-Eritreer-Bestimmung

Diese Bestimmung richtet sich in erster Linie gegen Asylsuchende aus Eritrea, die bisher relativ oft Asyl erhalten haben. Dazu ist es vielleicht nützlich zu wissen, dass in Eritrea eine brutale Diktatur herrscht, die das Land völlig militarisiert hat. Unter dem Vorwand des Kriegszustands mit seinen Nachbarn müssen – mit wenigen Ausnahmen – alle Bürger zwischen 18 und 50 Jahren entweder Militärdienst oder militärisch organisierten Arbeitsdienst leisten, dessen Dauer ungewiss und fast unbeschränkt ist (es wird wiederholt mobilisiert, aber nur vereinzelt demobilisiert). Wer sich dem entziehen will, gilt als Staatsfeind und muss mit extrem brutaler Haft rechnen: Folter, Hunger, unmenschliche Haftbedingungen; das Ganze natürlich ohne Gerichtsverfahren. Viele Häftlinge überleben das nicht.3

Es ändert sich nichts?

Es wird von Seiten der Befürworter argumentiert, in der Praxis ändere sich für eritreische Dienstverweigerer nicht viel: Wer unverhältnismässigen Strafen ausgesetzt sei, erhalte weiterhin Asyl.4 Was das genau heisst, ist allerdings unklar. Wenn Dienstverweigerung beispielsweise nur noch zu vorläufigen Aufnahmen5 führt, haben die Schutzsuchenden gegenüber gesetzlich anerkannten Flüchtlingen schlechtere Perspektiven und vor allem eine grosse Ungewissheit, was in Zukunft sein wird.6 Wenn sich hingegen so gut wie nichts ändert, ist fraglich, warum denn das Gesetz geändert werden musste.

Besonders gravierend erscheint an dieser Bestimmung, dass erstmals nicht «nur» die Verfahrensschraube angezogen wird. Hier geht es ganz konkret darum, die Asylgründe einzuschränken. Die Parlamentsmehrheit will also nicht einfach «Profiteuren» aussortieren, um die «echten» Flüchtlinge besser zu schützen. Gerade Menschen, die ganz konkret denselben Schutz in Anspruch nehmen wollen, den auch wir geniessen7 , werden hier vom Asyl ausgeschlossen.

Das Ende der Botschaftsgesuche

Botschaftsgesuche8 waren bis anhin gerade für Menschen, die nicht über die Mittel oder die körperliche Verfassung verfügten, sich illegal auf die gefahrvolle Reise nach Europa zu machen – also gerade für Frauen und Kinder – eine Möglichkeit, trotz allem Schutz zu erhalten. Zwar heisst es vonseiten der Befürworter, akut an Leib und Leben bedrohte Personen könnten ein humanitäres Visum beantragen, was vom EDA in Rücksprache mit dem Bundesamt für Migration geprüft werde.9 Doch wie will man beurteilen, ob jemand darauf Anspruch hat, ohne die Fluchtgründe zu prüfen? Läuft das de facto nicht auf ein ähnlich aufwändiges Verfahren hinaus, wie es die eigentliche Behandlung der Gesuche wäre? Oder soll dieses «humanitäre Visum» so restriktiv gehandhabt werden, dass auch tatsächlich Verfolgte keine Chance haben?

Neunzig Prozent Aufnahmen

Übrigens: Seit 1980 erhielten über 90% aller Personen, die im Rahmen des Botschaftsasyls in die Schweiz einreisten und deren Verfahren abgeschlossen ist, ein Aufenthaltsrecht (Asyl oder vorläufige Aufnahme).10 Auch hier bleibt der Eindruck, dass es bei dieser Gesetzesrevision nicht um eine Verfahrensbeschleunigung, sondern um einen Asylabbau geht.

Auch das Argument, kein anderes Land habe ein Botschaftsverfahren, zieht nicht. Nicht was die anderen tun, soll unser Handeln bestimmen, sondern was richtig ist. Dazu sagt Jesus: «Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan…» (Matth. 25)

Asylverfahren im Rahmen von Testphasen

Bei dieser Bestimmung mag es zwar verständlich sein, dass das zuständige Amt neue Verfahrensabläufe zuerst testen will.11 Doch ist unklar, was diese Vollmacht umfasst, die das Parlament dem Bundesrat ausstellt: Immerhin wird dieser ausdrücklich ermächtigt, in der zweijährigen Testphase, wenn nötig, vom geltenden Asyl- und Ausländergesetz abzuweichen.12 Ist dieses Sonderrecht ein Blankoscheck für «wilde» Experimente? Ist wenigstens vorgesehen, dass eine unabhängige Stelle Einblick hat oder weiss man zwei Jahre lang nicht, was läuft? Die Befürchtung ist naheliegend, dass die so geschaffenen juristischen Sachverhalte kaum rückgängig zu machen sind.13

Verkürzte Beschwerdefristen

Einen schweren Eingriff in die Rechte der Asylsuchenden bedeutet zudem die Verkürzung der Beschwerdefrist um zwei Drittel von 30 auf 10 Tage. In keinem anderen Rechtsbereich gibt es für so wichtige behördliche Verfügungen so kurze Rekurszeiten. Was für den Normalschweizer offenbar als unzumutbar erachtet wird, setzt die oft unter Stress und traumatisiert ankommenden Asylbewerber unter zusätzlichen Druck. An der Dauer der Asylverfahren ändert es nicht viel. Diese Regelung findet in der Testphase zwar nur in ordentlichen Verfahren Anwendung, bei denen keine weiteren Abklärungen notwendig sind. Doch es zu befürchten, dass bürgerliche Politiker diese verkürzte Frist später auch auf weitere Verfahren ausdehnen wollen.

Fazit

Dass einzelne der vorgeschlagenen Bestimmungen dazu beitragen, die Verfahren zu verkürzen, mag sein. Der Gesetzes- bzw. Abstimmungstext lässt allerdings viele Fragen offen. Man wird den Eindruck nicht los, dass da einige handfeste Verschärfungen durchgedrückt wurden, um der wahrgenommenen «Stimmung» in der Bevölkerung zu entsprechen.

In einem so sensiblen Bereich, wo über menschliche Schicksale entschieden wird, geht das nicht. Seit dem Inkrafttreten des Asylgesetzes 1981 werden in rascher Folge Verschärfungen beschlossen, die die Rechte der Schwächsten in der Gesellschaft einschränken und ihre Chancen auf ein menschenwürdiges Leben schmälern. Und weitere Änderungen (Verschärfungen) sind bereits geplant!

Der Kontrast zum Gott der Bibel, der Fremde liebt und ihre Rechte und Würde wiederholt im Gesetz für Israel festschreiben liess, könnte kaum grösser sein.14 Niemand behauptet, im Asylbereich stehe alles zum Besten, aber gerade wir Christen sollten für andere mögliche Lösungen aufstehen. Deshalb: Nein am 9. Juni 2013.

 


1. Argumentarium Pro (Zusammenstellung der Parlamentsdienste); http://www.parlament.ch/d/dokumentation/dossiers/asylgesetz/Seiten/asylgesetz-referendum.aspx

2. Art. 3, Abs. 3 Asylgesetz (neu).

3. Human Rights Watch: Service for Life. New York 2009. http://www.hrw.org/reports/2009/04/16/service-life-0

4. Argumentarium Pro, s. oben

5. Eine vorläufige Aufnahme bedeutet, dass der Asylentscheid zwar negativ ist, die Wegweisung aber zur Zeit nicht zulässig, nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Die vorläufige Aufnahme kann aufgehoben werden, wenn sich die Lage im Herkunftsland wesentlich ändert. http://www.bfm.admin.ch/content/bfm/de/home/themen/asyl/asylverfahren/drei_bespiele/entscheid.html , „Fall B“

7. Wir wollen nicht vergessen, dass bis 1996 auch in der Schweiz kein Zivildienst bestand, und jährlich mehrere Hundert Dienstverweigerer zu mehreren Monaten Gefängnis verknurrt wurden. Vgl. bernerzeitung.ch/schweiz/standard/Verweigerer-bleiben-Geaechtete/story/19652243

8. Art. 19, Abs. 2 Asylgesetz (aufgehoben).

9. Argumentarium Pro, s. oben;  Abstimmungsbüchlein S.19

11. Art 112b Asylgesetz (neu): Asylverfahren im Rahmen von Testphasen

12. Art 112b Abs 2 AsylG

14. Z.B. 5. Mose 5,18; 5. Mose 23,16. Weitere Gedanken zum biblischen Umgang mit den Ausländern unter folgendem Link: www.christnet.ch/de/content/der-unbequeme-n%C3%A4chste

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Wie ist die Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalität zu erklären?

Dieser Artikel ist am 28 September in „Vivre Ensemble“ erschienen (André Kuhn | Comment s’explique la surreprésentation des étrangers dans la criminalité, VE 139/septembre 2012). Deutsche Übersetzung von Nadine Buchmann 

Im vorliegenden Artikel soll versucht werden, auf einfache Weise aufzuzeigen, wie sehr die Verwendung von bivariaten Statistiken irreführend sein kann. So können diese sogar den Eindruck erwecken, dass die Farbe des Passes einen Einfluss auf die Straffälligkeit haben könnte, auch wenn dem keineswegs so ist.

I. Einführung: In Sachen Kriminalität ist es bei der Staatsangehörigkeit wie bei der Körpergrösse

Wie Leser dieses Beitrags wahrscheinlich schon gehört haben, begehen Erwachsene, die grösser sind als 1,75m mehr Straftaten als diejenigen, die weniger als 1,75m messen… Dies ist eine kriminologische Erkenntnis, deren Grund ganz einfach darin liegt, dass die erwachsene Bevölkerung mit einer Körpergrösse von mehr als 1,75m hauptsächlich von Männern gebildet wird, während unter Erwachsenen, die weniger als 1,75m messen, Frauen stark überrepräsentiert sind. Wenn man dazu noch weiss, dass Männer öfter als Frauen Straftaten begehen, ist es logisch, dass die grösseren Erwachsenen den Löwenanteil der Straftaten begehen. Dennoch wird jeder leicht verstehen, dass diese Überrepräsentation von grossen Leuten in den Kriminalstatistiken ganz offensichtlich nichts mit ihrer  Grösse, sondern mit ihrem Geschlecht zu tun hat. Niemand würde folglich einen Einfluss auf dieWachstumshormone oder das Abschneiden der Beine zur Prävention der Kriminalität befürworten…

Aber wenn diese Argumentation doch so schlüssig ist, warum sind so viele Menschen nicht imstande ihr entsprechend zu folgen, wenn es um die Beteiligung der Ausländer an der Kriminalität geht?

Genauso wie für Erwachsene, die mehr als 1,75m messen, ist es sehr einfach aufzuzeigen, dass Ausländer in der Kriminalität überrepräsentiert sind. Ausländer stellen etwa 20% der Bevölkerung der Schweiz, aber rund 50% der durch ein Schweizer Gericht verurteilten Personen dar1 . Gleich wie für die Erwachsenen von mehr als 1,75m ist es jedoch relativ leicht, aufzuzeigen, dass andere Elemente als die Staatsangehörigkeit die Straffälligkeit beeinflussen. 

II. Die wichtigsten Faktoren, die die Kriminalität beeinflussen

Wenn man weiss, dass die Überrepräsentation von Einwanderern in den Kriminalitätsstatistiken ein universelles Phänomen ist – das daher in allen Staaten zu beobachten ist – wird klar, dass sich die Problematik nicht auf die Farbe des Passes reduzieren lässt! Welches sind jedoch die bestimmenden Faktoren? Wie in der Einleitung erwähnt, ist das Geschlecht eine der wichtigsten erklärenden Variablen. Tatsächlich stehen einer ausgeglichenen Vertretung von Männern und Frauen in der Bevölkerung rund 85% Männer in der Strafurteilsstatistik der Schweiz und nur 15% Frauen gegenüber.

Eine andere wichtige Variable zur Erklärung der Kriminalität ist das Alter. Bei einem Anteil von etwa 30% an der Bevölkerung stellen Menschen unter 30 Jahren in der Schweiz ca. 50% der Strafurteilsstatistik dar.

Damit hängen die innerhalb eines Staates begangenen Straftaten auch stark von der demographischen Zusammensetzung der Bevölkerung ab. Tatsächlich zeigt sich, dass ein höherer Anteil an Menschen, deren Geschlecht und Alter kriminogener ist (d.h. Männer und junge Leute), mehr Kriminalität zur Folge hat.

Dazu kommt noch der sozioökonomische Status, da aus den neuesten Untersuchungen hervorgeht, dass etwa 60% der Straftaten auf das Konto der ca. 37% der Einwohner in der Schweizgehen, die der Unterschicht oder unteren Mittelschicht angehören. Die gemäss Umfragen 63% der Bevölkerung aus der oberen Mittelschicht und Oberschicht hingegen begehen ihrerseits etwa 40% der Straftaten2 .

Gleiches gilt für den Ausbildungsstand. So verfügt die Hälfte unserer Bevölkerung über einen « niedrigen » Ausbildungsstand (Primar- oder Sekundarniveau, Berufsfachschule, Lehre), während diese Leute rund 68% der inhaftierten Personen ausmachen3 .

III. Multivariates Modell

Was wir in den letzten beiden Abschnitten hergeleitet haben, zeigt, dass die Straffälligkeit bivariat mit mehreren Faktoren verknüpft ist. Aber dies bringt uns nicht viel weiter, da Straftaten anscheinend vor allem von grossen Leuten, von Ausländern, von jungen Menschen, von Männern, von Armen und/oder von weniger gut Ausgebildeten begangen werden. Von da ausgehend wird jeder seine Schlüsse ziehen, und zwar nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, sehr wohl aber auf der Grundlage seiner politischen Ausrichtung. Mit anderen Worten sagen uns diese bivariaten Korrelationen nicht viel – um nicht zu sagen gar nichts – über die Straffälligkeit. Wir werden im Folgenden daher versuchen, die Analyse zu verfeinern, um das Argument ein wenig wissenschaftlicher zu gestalten.

Wie wir bereits gesehen haben, hat die Grösse als solche keinen Einfluss auf die Straffälligkeit, sondern ist vollständig in die Variable des Geschlechtes eingebunden. Wir müssen nun noch die Gewichtung jeder der fünf verbleibenden Variablen in Bezug auf die Straffälligkeit bestimmen. Hierzu ist es notwendig, die oben ausgeführten erklärenden Variablen der Straffälligkeit im gleichen (nun nicht mehr bivariaten sondern multivariaten) Modell aufzuführen, das uns ermöglicht zu bestimmen, welche dieser Variablen am ausschlaggebendsten für die Straffälligkeit ist, um dann den zusätzlichen erklärenden Wert aller anderen Variablen in das Modell einzuführen.

Dabei kann beobachtet werden, dass die Variable Nummer eins zur Erklärung der Kriminalität das Geschlecht ist. Bei einem Mann ist es im Vergleich zu einer Frau daher ungleich wahrscheinlicher, dass er eine Straftat begeht4 . An zweiter Stelle folgt das Alter. Ein junger Mann zu sein ist somit kriminogener als irgend einer anderen Kategorie anzugehören. Als drittes kommt dann der sozioökonomische Status und letztlich der Ausbildungsstand.

Mit anderen Worten ist das Standardprofil eines Kriminellen ein Mann, jung, mit sozioökonomisch bescheidenerem Hintergrund und mit einem eher geringen Ausbildungsstand.

Wo findet sich darin die Staatsangehörigkeit? In der Regel erklärt sie keinen zusätzlichen Teil der Varianz der Kriminalität. Die zugewanderte Bevölkerung setzt sich zu einem Grossteil aus wirtschaftlich benachteiligten jungen Männern zusammen. Daraus geht hervor, dass die Variable « Staatsangehörigkeit » in den anderen enthalten ist und im Vergleich zu den anderen Variablen keineswegs eine zusätzliche Erklärung für Kriminalität bietet. Dies entspricht im einleitenden Beispiel der Körpergrösse, die im Geschlecht enthalten ist, da Männer im Schnitt grösser sind als Frauen.

Was wir soeben erläutert haben, erlaubt uns auch zu verstehen, warum die Feststellung, dass Ausländer öfter als Staatsangehörige straffällig werden, ein universelles Phänomen ist. Tatsächlich betrifft Migration im Allgemeinen vor allem junge und weniger oft ältere Menschen, und Männer eher als Frauen. Wenn man weiss, dass gerade junge Männer den kriminogeneren Teil der Bevölkerung repräsentieren, so macht es auch Sinn, dass Migranten kriminogener sind, als Leute, die sich nicht vom Ort ihrer Geburt entfernen.

Daher ist es völlig falsch, Ausländer mit Staatsangehörigen zu vergleichen, da sich die eine Bevölkerungsgruppe hauptsächlich aus jungen Männern zusammensetzt und die andere eine älter werdende Bevölkerung darstellt, in der beide Geschlechter zu etwa gleichen Anteilen vertreten sind. Wenn man die Kriminalitätsrate von Ausländern nämlich mit derjenigen der einheimischen Bevölkerung desselben Geschlechtes und sozioökonomischen Status, derselben Altersgruppe sowie desselben Ausbildungsstandes vergleicht, fallen die Unterschiede zwischen Einheimischen und Ausländern weg.

Die Staatsangehörigkeit kann dennoch einen kleinen Teil der Kriminalität erklären. Dies im Sonderfall von Zuwanderern aus einem Land, das sich im Krieg befindet. So kann das gewalttätige Beispiel von einem Staat im Krieg bei den Bürgern eine Enthemmung bewirken. Diese Bürger werden selber gewalttätiger und exportieren schliesslich ihre erhöhte Gewaltbereitschaft in das Gastland. Dieses Phänomen ist in der Kriminologie als „Brutalisierung“ (d.h. „Verrohung“) bekannt. So scheint es, dass bei der Einwanderung aus einem Land, das sich im Krieg befindet, die ersten vier Variablen (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status und Ausbildungsstand) nicht ausreichen, um die Kriminalität zu erklären. Die Staatsangehörigkeit findet somit in fünfter Position auch Eingang im erläuternden Modell. Im Gegensatz dazu hat bei der Zuwanderung aus Ländern, die nicht im Krieg sind, die Staatsangehörigkeit keine weitere Bedeutung als die ersten vier Variablen.

Dazu ist noch zu erwähnen, dass das Phänomen der « Brutalisierung », das wir oben angesprochen haben, auch erklärt, warum die Staaten, die die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten wieder eingeführt haben, anschliessend eine Zunahme der Gewaltverbrechen beobachtet haben5 . Wenn der Staat selbst Hinrichtungen durchführt, bestärkt er die Bürger in der Idee, dass Gewalt eine geeignete Möglichkeit zur Konfliktlösung darstellt, wodurch sich die Zahl der Gewaltverbrechen erhöht. Der gleiche « Brutalisierungseffekt »erlaubt wahrscheinlich auch zu verstehen, warum eine übliche Art der Bestrafung einiger Eltern in der Schweiz ist, ihre Kinder bei einer Missetat im Zimmer einzusperren, obwohl dies vom strafrechtlichen Standpunkt her eine Freiheitsberaubung darstellt, die mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet werden kann…Wir werden also alle durch unsere jeweiligen staatlichen Systeme « brutalisiert », deren Abläufe wir dann ohne es zu merken im kleineren Massstab wiederholen. 

IV. Kriminalpolitische Überlegungen

Wie wir gesehen haben, sind die Variablen, die die Straffälligkeit erklären in der Reihenfolge folgende:

  1. Das Geschlecht,
  2. Das Alter,
  3. Der sozioökonomische Status,
  4. Der Ausbildungsstand,
  5. Die Staatsangehörigkeit (manchmal).

Die Frage, die noch ergründet werden muss, ist, wie diese Erkenntnis in Präventivmassnahmen gegen Straftaten umgesetzt werden kann. Nehmen wir die Variablen in der Reihenfolge ihrer explikativen Bedeutung für die Straffälligkeit, so sollten politische Massnahmen in erster Linie eine Verringerung der Männlichkeit anstreben. Es versteht sich jedoch von selbst, dass politische Massnahmen, die die Abschaffung der Männer oder die Förderung von weiblichen Geburten befürworten nicht nur unsere Grundrechte verletzen, sondern auch unserem Sinn für Ethik absolut zuwiderlaufen würden. Die gleichen Einwände können gegen Massnahmen vorgebracht werden, die eine Beseitigung oder Ghettoisierung der jungen Menschen befürworten. Auch eine Politik der ‘Verminderung der Geburtenzahlen’ wäre auf lange Sicht nicht im Interesse des Staates.

Zu beachten ist jedoch, dass, was die Variable des Geschlechtes betrifft, die Feminisierung einer Gesellschaft nicht unbedingt durch eine physische Feminisierung stattfindet, sondern genauso gut soziologischer Natur sein könnte. Dies käme einer Ablehnung der allgemein dem männlichen Geschlecht zugeschriebenen Werte (z.B. Machismus) und der Förderung der Werte, die Frauen zugeschrieben werden (z.B. Zärtlichkeit) gleich.

An dritter Stelle – nach Geschlecht und Alter – wäre es möglich, darüber nachzudenken, zur Kriminalprävention mehr Gleichheit zwischen den Bewohnern eines Landes herzustellen, um so eine « Zweiklassen-Gesellschaft » zu vermeiden. An vierter Stelle stünde die Verbesserung des Ausbildungsstandes der wirtschaftlich Schlechtestgestellten und der am wenigsten gut Ausgebildeten.

V. Schlussfolgerung

Wenn das tatsächliche Ziel die Bekämpfung von Kriminalität sein soll, und man in Massnahmen investieren möchte, die das grösste Erfolgspotenzial haben, ist es unabdingbar, die die Straffälligkeit am ehesten erklärenden Variablen gezielt anzuvisieren. Wenn vorausgesetzt wird, dass die Ausrichtung auf Geschlecht und Alter schwer machbar und vor allem ethisch fragwürdig ist, scheinen soziale6 und Bildungsmassnahmen am sinnvollsten.

Nur verfehlt man sein Ziel beim Angriff auf Migranten genauso, wie wenn man die Körpergrösse ins Visier nimmt.Ausserdem ist es fraglich, ob eine Politik der Beseitigung der Ausländer ethisch vertretbarer ist als diejenige von jungen Menschen oder Männern.

André Kuhn ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an den Universitäten Lausanne, Neuenburg und Genf.

Teile des vorliegenden Textes – und vor allem das Ideengut, das hier vermittelt wird – wurden vom Autor bereits in früheren Texten veröffentlicht. Wo einige vielleicht den lächerlichen Begriff « Eigenplagiat » benutzen würden, tendiert der Autor zur Aussage, dass es sich vielmehr um ein positives Phänomen handelt, da es eine logische, konsequente und vor allem konstante Denkweise widerspiegelt.


1. Für genauere Daten verweisen wir den Leser auf die Website des Bundesamtes für Statistik (http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index.html), Rubrik 19 – Kriminalität, Strafrecht. Dies gilt auch für alle Zahlenangaben im vorliegenden Text, mit Ausnahme derjenigen, bei denen eine andere Quelle angegeben wird.

2. Quellen: Schweizer Erhebungen zu Selbstanzeige, Viktimisierung und Sentencing.

3. Quellen: Schweizer und US-amerikanische Statistiken aus dem Strafvollzug. Es gibt keine Schweizer Daten zum Ausbildungsstand verurteilter und/oder inhaftierter Personen.

4. Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle Männer Straftaten begehen und Frauen nie, sondern einfach, dass es unter Kriminellen eine starke Überrepräsentation von Männern gibt.

5. In diesem Zusammenhang wurde die Hypothese der « Brutalisierung » im Bundesstaat Oklahoma von W. C. Bailey überprüft: « Deterrence, Brutalization, andthe Death Penalty: AnotherExaminationofOklahoma’s Return to Capital Punishment », Criminology, vol. 36, 1998, pp. 711ss.

6. Diesen sind auch Integrationsmassnahmen von Ausländern zuzurechnen.

Dieser Artikel ist am 28 September in „Vivre Ensemble“ erschienen (André Kuhn | Comment s’explique la surreprésentation des étrangers dans les statistiques de la criminalité, VE 139/septembre 2012). Deutsche Übersetzung von Nadine Buchmann

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Rezension von Anne-Sylvie

Nach dem Kurs „Gerechte Menschen !? „Kurses, den wir in der ersten Hälfte des Jahres 2012 organisiert haben, beschloss unsere Gruppe, eine Aktion durchzuführen, die darin besteht, 2 Wochen lang weniger zu essen, um das eingesparte Geld einem Entwicklungsprojekt (ADENN) zukommen zu lassen. Zwei von uns beschlossen, nur eine Schüssel Reis pro Tag zu essen, aus Solidarität mit all den Menschen, die mit dieser Menge an Lebensmitteln leben.

Diese Erfahrung war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal machte es uns den Überfluss bewusst, in dem wir leben, und lehrte uns, für die Nahrung, die Gott uns in Menge gibt, dankbarer zu sein.

Dann konnten wir feststellen, dass wir mit wenig Nahrung in unserem täglichen Leben weniger effizient wurden, müde und ohne Energie. Dieses Gefühl, in unserem Fleisch zu leben, was so viele Menschen im Süden erleben, ließ uns erkennen, wie sehr der Hunger die armen Länder Ressourcen verlieren lässt.

Schließlich trafen wir uns mehrmals um die Mittagszeit zu einer Zeit der Meditation. Wir waren bewegt von verschiedenen Nachrichten, die in diesen Tagen herauskamen, und insbesondere von der Tatsache, dass jeder Schweizer Haushalt täglich den Gegenwert von einer Mahlzeit in den Müll wirft und dass die Zahl der Menschen auf der Welt, die nicht genug zu essen haben, 870 Millionen beträgt.

Darüber hinaus entdeckten wir einige Mahnungen für mehr Solidarität, von denen die Bibel voll ist. So fordert Paulus uns heraus, unsere Überflüssigen zu gebrauchen, um den Bedürftigen zu dienen (2. Korinther 8,13).

Freuen wir uns also über das, was wir haben, und scheuen wir uns nicht, großzügig zu teilen! Mit dieser „Reisschüssel“-Aktion konnten wir einen kleinen Schritt in diese Richtung machen.

Zeugnis von Alexander

Weniger essen, mehr leben: eine Woche mit einer Schüssel Reis pro Tag

Ein paar verschiedene Tage in meiner Ernährung zu erleben, hat mir viel gebracht. Ich spürte den Mangel, aber ich erkannte auch den Überfluss, in dem ich lebe. Mich selbst für einige Tage zu berauben, erlaubte mir, alles zu sehen, was ich mir nicht täglich vorenthalte, alles, was mir so natürlich erscheint, zu erwerben, zu konsumieren und wegzuwerfen. Es war mir möglich, konkreter über all die Menschen auf dieser Erde nachzudenken, die ohne so viel Reichtum leben und deren Alltag nicht aus Überfluss, sondern aus Armut besteht.

Die Erfahrung war um so stärker, als sie von mehreren Menschen gleichzeitig geteilt wurde, als eine Gemeinschaft in Askese. Ich kann diese Diät (!) nur empfehlen, um durch die Gnade Gottes einen Geist der Gerechtigkeit in unserem Leben und in der Welt zu entwickeln. In der Überzeugung, dass das christliche Leben von besonderen Zeiten geprägt sein sollte, die dem Lauf der Zeit einen Sinn geben, wäre ich bereit, dies jedes Jahr aufs Neue zu erleben!

 

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Am 16. August 2011 wurde von einem überparteilichen Komitee die «AHV-Erbschaftssteuer-Initiative» lanciert. ChristNet unterstützt sie aktiv, weil sie einen konkreten Beitrag zum biblischen Auftrag leistet, soziale Gerechtigkeit herzustellen und das Arm-Reich-Gefälle zu überwinden.

Umverteilung: ein biblisches Prinzip

Eines der Grundanliegen der Bibel ist die Überwindung des Arm-Reich-Gefälles, wobei sie besonders die Reichen in die Pflicht nimmt. So lesen wir, dass wir «dem Armen die Hand grosszügig öffnen» sollen (5. Mose 15,7-11). Die Sprüche warnen gar: «Wer Ohren verstopft vor dem Hilfeschrei der Geringen, der wird einst rufen und keine Antwort erhalten.» (21,13)

Im Neuen Testament identifiziert sich Jesus im Gleichnis des Weltgerichts ganz mit den Armen: «Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.» (Matthäus 25,31-46) Und Paulus doppelt noch nach: «Den Reichen in dieser Welt gebiete,… dass sie Gutes tun, reich werden an guten Werken, gerne geben…» (1. Timotheus 6,17-18).

Zur Überwindung des Arm-Reich-Gefälles wird in der Bibel grundsätzlich individuelle Solidarität und Almosengeben gefördert, gerade das Alte Testament sieht aber auch gesetzlich geregelte Umverteilung vor.

Das Halljahr

Ein Beispiel dafür ist das Halljahr: Gemäss jüdischem Gesetz wurde Land, das aus Not verkauft worden war, alle 50 Jahre an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben (3. Mose 25,8-31). Bei der Eroberung Kanaans hatte ursprünglich jede Familie ein Stück Land erhalten. Diese gleichmässige Landverteilung sollte dank der periodischen «Landreform» des Halljahres aufrecht er-halten bleiben.

Somit war das Halljahr eine Grundlage, um der strukturellen Ungerechtigkeit vorzubeugen und allen ein Auskommen zu ermöglichen. Landverlust bedeutete nämlich in der landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft Israels den Verlust der wirtschaftlichen Lebensgrundlage.

Soziale Ungerechtigkeit

Die biblische Forderung, Vermögen nicht anzuhäufen und Reichtum umzuverteilen, wird in unserer Gesellschaft heute nur sehr beschränkt befolgt: Grosse Vermögen, die von Generation zu Generation gehen, sind auch in der Schweiz einer der Hauptfaktoren für die Konzentration des Wohlstands in immer weniger Händen.

Daraus ergeben sich bleibende Armut 1 und soziale Probleme, sowie ein immer grösseres Gefälle zwischen Arm und Reich. So ist denn die Vermögensverteilung in der Schweiz so ungleich wie in kaum einem anderen Land. 2

AHV und Erbschaftssteuer

Es hat sich gezeigt, dass die AHV mit ihrem «Umlageverfahren», bei dem kein Kapital angehäuft, sondern die Einnahmen sofort für Renten ausgegeben werden, stark zur Bekämpfung der sozialen Ungerechtigkeit beiträgt. Sie setzt auch den Solidaritätsgedanken um, indem die jüngeren Erwerbstätigen direkt mit den Rentnern solidarisch sind. 3 Es scheint also dem biblischen Gedanken zu entsprechen, wenn die AHV gestärkt wird.

Zugleich kann die Besteuerung sehr grosser Erbschaften (ab 2 Millionen Franken) einen Beitrag zur Umsetzung des Halljahr-Gedankens darstellen. Sie ermöglicht es, dass familiengebundene Vermögen wieder der Allgemeinheit zufliessen, und trägt so zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums bei.

Somit bietet die AHV-Erbschafts-Initiative eine Gelegenheit, dem biblischen Ruf zu folgen, den Armen die Hand zu öffnen und den Reichen zu gebieten, dass sie grosszügig sind. Packen wir sie!


1. Gemäss Caritas sind fast 1 Million Menschen in der Schweiz arm.

2. Nur in Singapur und Namibia sind die Vermögen ungleicher verteilt als in der Schweiz (Global Wealth Databook. Credit Suisse, Zürich, 2010).

3. Im Gegensatz zur 2. und 3. Säule, bei der jeder für sich ein Alterskapital anhäuft.

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Fremde und Ausländer in der Bibel und in der Schweizer Politik

Fremde und Ausländer in der Bibel

Hat die mehr als 2000 Jahre alte Bibel noch etwas zur heutigen Migrationspolitik beizutragen? Sicher gibt es im Bereich der Migration etliche komplexe Fragen, die nicht anhand der Bibel beantwortet werden können. Aber was sie an Grundsätzlichem zur Einstellung und zum Menschenbild in Bezug auf «Fremde» und «Ausländer» zu sagen, ist es auch heute einen genauen Blick wert. Im ersten Teil dieses Textes werden die biblischen Aussagen grob zusammengefasst, im zweiten Teil die Positionen der grösseren Schweizer Parteien dargestellt, und im dritten Teil werden diese bewertet.

AT: «Ihr seid Fremde gewesen…»

Zunächst etwas zum Begriff: Der hebräische Begriff ger bezeichnete freie, dauernd in Israel wohnende «Ausländer» bzw. Angehörige anderer Völker, die in gewissen Bereichen von den Israeliten abhängig waren. Die meisten Gesetze der fünf Bücher Mose verwenden diesen Begriff. Der Begriff nakhri umfasste Fremde im allgemeinen Sinn, die sich nur zeitweilig beim Volk Israel aufhielten, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Sie brauchten offenbar, im Gegensatz zur ersten Gruppe, kaum Schutz durch das Gesetz.1 Die Fülle der Gesetzesbestimmungen, die sich mit den gerim, den Ausländern befassen, versuche ich ganz grob zusammenzufassen:

1.      Für die Fremden galt das gleiche Gesetz wie für die Israeliten: Sie hatten weitgehend dieselben Rechte und Pflichten2, sie konnten und sollten ebenso den Sabbat halten3, und auch im kultischen Bereich waren sie beinahe gleichberechtigt.4 Die Israeliten waren verpflichtet, Ausländer, die verarmt waren, ebenso zu unterstützen wie ihre Landsleute.5 Es ist überraschend, wie oft sie erwähnt werden, während sie z.B. in mesopotamischen Gesetzessammlungen kein Thema sind. 6

2.      Zusammen mit den Witwen und Waisen zählten die Ausländer offensichtlich zu den wirtschaftlich und sozial Schwachen in Israel. Sie brauchten den Schutz des Gesetzes vor Ausbeutung und Übervorteilung.7

3.      In wirtschaftlicher Hinsicht wird mehrmals die Nachlese erwähnt. Die Bauern waren dazu angehalten, ihre Felder, Weinberge und Olivenhaine nicht zu gründlich abzuernten, damit noch etwas für die Witwen, Waisen und Fremden übrigblieb und sie sich auf diese Weise selber versorgen konnten.8 Im 5. Buch Mose wird zusätzlich erwähnt, dass der Zehnte für Versorgung der Leviten sowie der Armen (Witwen, Waisen und Fremden) verwendet werden sollte.9

4.      Begründet werden diese Gebote einerseits mit der knappen Aussage «Ich bin der Herr, Euer Gott», oft aber – vor allem im Zusammenhang mit dem Verbot, die Ausländer auszubeuten und zu übervorteilen – auch mit dem Hinweis, «denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen»10. Das  Volk sollte also seinen «Migrationshintergrund» nicht etwa verdrängen. Dieser war im Gegenteil ein Teil seiner Identität: «Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir.»11 Dadurch sollten sie Verständnis für die Lage der Ausländer entwickeln und sich so zur Solidarität anregen lassen.  Bereits die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob, aber auch Mose wussten, was es bedeutete, in der Fremde bei einem anderen Volk zu leben.12

Erst in der Richter- und Königszeit wird Israel von einem Volk von Migranten zu einem Volk von Eroberern. David staunt, in welchem Mass Gott ihm fremde Völker untertan gemacht hat.13 Salomo benutzt die Ausländer als willkommene Arbeitskräfte in seinen gigantischen Bauprojekten.14

In den prophetischen Büchern wird Fremdenangst zunächst sehr real und begründet dargestellt. Für den Fall, dass das Volk Israel sich nicht an den Bund mit Gott hält, wird angedroht, dass Fremde zu Akteuren in Gottes Gericht werden, dass sie über sie herrschen, sich den Ertrag ihrer Äcker sichern und ihre Wertsachen rauben,15 und bekanntlich traf dies auch tatsächlich ein. Auf der anderen Seite ist unbarmherziges, unmoralisches Handeln der Israeliten an ihren Ausländern einer der Gründe, warum Gott ihnen das Gericht ankündigt.16

Nun kann ja bei uns Schweizern nicht unbedingt ein Migrationshintergrund vorausgesetzt werden – eine der Begründungen für einen barmherzigen Umgang der Israeliten mit ihren Ausländern. Gibt es dennoch Anhaltspunkte, dass diese Bestimmungen auch uns angehen? Hier ist eine Betrachtung des Neuen Testaments aufschlussreich. Zunächst bietet sich der Hebräerbrief an, der ja zahlreiche Motive aus dem Alten Testament aufnimmt.

NT: «Fremde und Gäste in der Welt»

Der Stammvater Abraham wird hier zum Vorbild des Glaubens. Der Glaube erlaubte ihm, «als Fremder im verheissenen Land wie in einem fremden Land» in Zelten zu leben, «denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hatte.»17 Das Selbstverständnis der Patriarchen und des Volkes Israel als Ausländer wird hier also auch auf die Nachfolger Jesu übertragen. Das Bild der Migranten oder Pilger, die auf dem Weg in die wahre Heimat sind, wird in den nächsten Versen weiter entfaltet.18 Auch Paulus sieht sich selber als einer, der in der Fremde lebt.19

Ebenso wendet sich der Verfasser des ersten Petrusbriefes «an die Auserwählten, die als Fremde in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien in der Zerstreuung leben.»20. Er ermahnt sie, solange sie in der Fremde sind, ein Leben in Gottesfurcht zu führen. Sie sind aus ihrer «sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise (…) mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel» freigekauft. Man erhält den Eindruck, dass hier das Bekenntnis zu Jesus und die daraus folgende neue Ethik die Christen zu «„Fremden und Gästen in dieser Welt»21macht, die eigentlich zu einer neuen Welt gehören.

Und Jesus selbst? Er spricht nicht viel von den Ausländern, aber wo er das tut, ist er ziemlich provokativ. Um das Gebot der Nächstenliebe zu illustrieren, erzählt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und stellt damit dem Gesetzeslehrer einen verachteten Ausländer vom Volk der Samaritaner als Vorbild vor die Nase: «Dann geh und handle genauso»22. Jesus dreht hier das Gebot der Nächstenliebe aus 3Mo 19,33-34 um, wo es heisst: «Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.» Noch weiter geht Jesus in Matthäus 25. Im Gleichnis der Schafe und Böcke  identifiziert er sich vollständig mit den Schwächsten und Verachtetsten unter den Menschen. Er ist der Nackte, Kranke, Gefangene, der Fremde und Obdachlose, dem die «Schafe» Gutes getan haben. «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan! » Und die «Böcke» haben ihn in Gestalt dieser Verachteten haben ignoriert.23

Die Bibel fordert uns also im Bereich Migrationspolitik und Migrationsethik ganz schön heraus, und das Neue Testament zeigt, dass auch dies ein Aspekt unserer Identität ist: Uns als Fremde und Gäste hier zu begreifen, die auf dem Weg in eine bessere, ewige Heimat sind. Ein solches Selbstverständnis scheint mir die Voraussetzung für den Umgang mit Migranten bei uns. Es wird uns helfen, sie als unsere Nächsten und quasi als Schicksalsgenossen zu sehen und ihnen barmherzig zu begegnen.

Positionen der Schweizer Parteien in der Migrationspolitik

Wie sehen die Schweizer Parteien im Blick auf die Wahlen 2011 die Migrationspolitik? Die aktuellen Parteiprogramme zeigen vieles, das zu erwarten war, aber teils auch Überraschendes.

SVP24. gegen «Schlendrian»

In ihrem Positionspapier anerkennt die SVP: «Die Schweizerinnen und Schweizer leben mit einem vergleichsweise äusserst hohen Ausländeranteil überaus friedlich zusammen. Und umgekehrt hält sich der Grossteil der Ausländer problemlos an unsere Rechtsordnung.»

Allerdings beklagt die Partei, im EJPD habe der Schlendrian im Asylbereich unter den Nachfolgerinnen von Christoph Blocker wieder zugenommen. Der Vollzug von Ausschaffungen sei ungenügend und die Asylverfahren dauerten zu lange, vor allem wegen diverser Wiedererwägungs- und Rekursmöglichkeiten. Ein weiteres Hindernis für ein «zweckmässiges Asylwesen» bilden für die Partei «die Profiteure wie Sozialarbeiter, Hilfswerkler und Asyljuristen. Sie entwickeln kaum Elan, um das Problem effizienter anzupacken, sondern sind vielmehr selber Teil des Problems. Überdies unterlaufen Gerichtsinstanzen gezielt die gesetzlichen Vorschriften und sogar den Volkswillen.»

Die SVP verlangt daher, dass nur noch erstinstanzliche Verfahren mit Rekursmöglichkeit durchzuführen seien, und dass das verschärfte Asylgesetz auch in den Kantonen konsequent anzuwenden sei. Weiter fordert die SVP: «Sogenannte Härtefallkommissionen in einzelnen Kantonen stiften nichts als Verwirrung und sind abzuschaffen.» Auch möchte sie Gerichtsurteile bekämpfen, «die das vom Souverän akzeptierte Asylgesetz unterlaufen.» Was sie damit konkret meint, bleibt unklar.

Weiter soll die Personenfreizügigkeit neu verhandelt und Kontingente wieder eingeführt werden, da die Masseneinwanderung in die Schweiz eine zunehmende Belastung darstelle. Die Ausschaffungsinitiative sei «ohne Wenn und Aber» durchzusetzen. Die Einbürgerung solle etwas kosten, an Bedingungen wie die Beherrschung der Landessprachen geknüpft und nur auf Probe erteilt werden.

SP25. für gleiche Rechte und Chancen

Die SP stellt ein Diskussionspapier zum Themenkreis «Heimat und Migration» ins Internet. Sie möchte längerfristig die Deutungshoheit über diese Themen erlangen. Heimat ist gemäss den Autoren etwas, das wir gemeinsam schaffen und das man nicht an die Politiker delegieren kann. Selbstverständlich hätten sich Zugewanderte an die hier gültigen Regeln zu halten, sie sollten aber auch die gleichen demokratischen und sozialen Rechte und Chancen wie Schweizer erhalten. Die Partei verknüpft diesen Themenbereich geschickt mit anderen sozialdemokratischen Forderungen, so etwa nach Löhnen, die zum Leben reichen. Denn wer 16 Stunden am Tag arbeiten müsse, habe keine Energie mehr für einen Sprachkurs. Die Autoren anerkennen, dass das Zusammenleben verschiedener Kulturen zu Reibungen führe, letztlich steige aber die gegenseitige Akzeptanz. Klar sei auch: «Die Schweiz kann nicht allen Armen dieser Welt einen Platz und ein Auskommen bieten. Umso dringlicher müssen wir eine Wirtschafts- und Entwicklungspolitik verfolgen, die arme Länder unterstützt statt sie auszubeuten und die die Demokratie fördert statt mit Diktatoren zu geschäften.» Ausländer sind gemäss der SP überdurchschnittlich kriminell. Dies sei aber keine Frage der Hautfarbe, sondern vielmehr des Platzes eines Menschen in der Gesellschaft und der Perspektiven, die sich ihm eröffnen. Sie fordert durchmischte Quartiere, Schulen mit Tagesstrukturen und Unterstützung beim Sprachenlernen für alle Kinder, Mindestlöhne, mehr Jugendrichter und allenfalls mehr Polizei. Bei der Personenfreizügigkeit brauche es flankierende Massnahmen. Ebenso müsse für bezahlbaren Wohnraum gekämpft werden. Die Partei setzt sich ausserdem für sozialen und materiellen Ausgleich ein, dies sei nötig, damit alle ein freies und selbstbestimmtes Leben führen könnten.

FDP26. «Hart, aber fair»

Die FDP hat zu verschiedenen Themen Faktenblätter zusammengestellt, so auch zur Ausländer- und Asylpolitik. Hier gilt für die Partei der Grundsatz „Hart, aber fair.“ Migrationspolitik im Sinne der FDP «sagt ja zur Einwanderung durch die Personenfreizügigkeit und beschränkt im Gegenzug die Einwanderung aus Drittstaaten.» Noch immer kämen aber zu viele Menschen aus Drittstaaten zu uns, vor allem über den Familiennachzug. Deshalb fordert die FDP härtere Regeln für den Familiennachzug. Als Teil der Integrationspolitik fordert die FDP die konsequente Durchsetzung der schweizerischen Rechtsordnung: «Mit unserem Rechtssystem und unseren Gesetzen darf nicht gespielt werden. Sämtliche Verstösse sind rasch und hart zu bestrafen. Wer hier leben will, ist willkommen, sofern unsere Kultur und Werte respektiert werden. Wer sich nicht daran hält, muss die Konsequenzen tragen.» Konkret heisst das für die FDP rasche und konsequente Bestrafung, Ausschaffung schwer krimineller Ausländer, Imam-Ausbildung in der Schweiz und Überwachung extremistischer Organisationen.

Die Personenfreizügigkeit ist für die FDP ein Erfolgsmodell mit einigen problematischen Begleiterscheinungen. Um diese zu beheben, schlägt sie eine Reihe von Massnahmen vor.

In der Asylpolitik fordert sie Konsequenz, um unechte Flüchtlinge abzuschrecken. Anerkannte Flüchtlinge sollen die Niederlassungsbewilligung unter den gleichen Voraussetzungen erhalten wie andere Ausländer aus Nicht-EU-Staaten, die nicht über den Asylbereich eingewandert sind. Die Asylverfahren seien so weit wie möglich zu verkürzen.

Unter dem Titel «Integration fordern und fördern» schlägt die FDP schweizweit einheitliche Mindeststandards und Resultatkontrolle vor. Integrationsvereinbarungen sollen die Ausländer in die Pflicht nehmen: Wer sich nicht integriert, soll sanktioniert werden. Nur wirklich integrierte Personen sollen eingebürgert werden. Dies werde durch strenge Einbürgerungskriterien und deren konsequente Prüfung erreicht. Die strengen Gesetze dazu seien vorhanden. Wer aber einmal den Schweizer Pass erhält, soll als Schweizer gelten.

CVP27. für eine «kontrollierte Zuwanderung»

Die CVP stellt an den Anfang ihres „Grundlagenpapiers Migration“ eine Bestandesaufnahme: Die Einwanderung habe der Schweiz dringend benötigte Arbeitskräfte und Wirtschaftswachstum verschafft. Trotz hohem Ausländeranteil sei das Lohnniveau hoch und die Arbeitslosigkeit tief. Dennoch bringe Migration auch Probleme wie Ausländerkriminalität, mangelhafte Integration oder eine relativ gesehen hohe Arbeitslosigkeit der Ausländer, religiöse und kulturelle Differenzen, die zu einer «Islam-Debatte» geführt haben, sowie Mängel bei der Einbürgerung und in der Asylpolitik.

Die CVP setzt sich «für eine kontrollierte, gesteuerte Zuwanderung ein.» Die CVP fordert deshalb weitere gezielte Massnahmen, Verhandlungen und Teilrevisionen von Gesetzen. Sie lehnt «unrealistische, nicht durchführbare Forderungen und Massnahmen ab, die zu Fremdenfeindlichkeit

führen oder dem Zusammenleben der ausländischen und der Schweizer Bevölkerung abträglich sind», ebenso Forderungen nach einem Alleingang der Schweiz in der Migrationspolitik. Konkrete Massnahmen, die die Partei vorschlägt, sind Gesetze gegen Zwangsheiraten und organisierte Ehen, sowie der Nachweis genügender Mittel beim Familiennachzug. Bei nicht oder schwer integrierbaren Personen soll wenn möglich «ein (finanzieller) Anreiz zur Ausreise» geschaffen werden.

Die Verlängerungen von Aufenthaltsbewilligungen für EU-Bürger sind genau zu prüfen, die Bezüge von Arbeitslosenentschädigungen einzuschränken. Die CVP ist weiter für die Verknüpfung der Niederlassungsbewilligung mit einem Sprachtest, Integrationsvereinbarungen und Zulassungsregeln für Lehrpersonen, weiter für Beschränkungen und Bedingungen bei der Einbürgerung.

In der Asylpolitik soll das Nothilferegime konsequent angewendet, die Verfahren verkürzt und Wegweisungen schnell vollzogen werden. Zur besseren Integration in den Arbeitsmarkt schlägt die CVP Beschäftigungsprogramme vor sowie die Verpflichtung der RAVs, anerkannte Flüchtlinge gleich wie Schweizer oder andere Ausländer zu vermitteln. Gegen Missbrauch und Kriminalität sollen vermehrte Kontrollen, Aufstockung der Polizeibehörden und die konsequente Ausschaffung in schweren Fällen helfen. In der Migrationsaussenpolitik schliesslich soll die Schweiz enger mit der EU und, mittels Migrationspartnerschaften, mit Herkunftsstaaten zusammenarbeiten und die Hilfe für Vertriebene in der Herkunftsregion verstärken.

Grüne Partei28. für eine «menschliche Politik»

Die Grünen stehen für eine «offene, menschliche Migrationspolitik» ein. Sie fordern ein Integrationsgesetz, das auf Chancengleichheit und den Respekt kultureller Vielfalt abzielt; ein liberaleres Ausländergesetz, das keinen Unterschied zwischen EU- und Nicht-EU-BürgerInnen macht, und Arbeitsbewilligungen für alle Personen, die in der Schweiz korrekt arbeiten, auch Sans-Papiers.

Weiter sind sie für eine erleichterte Einbürgerung von Ausländern der zweiten Generation sowie eine quasi automatische Einbürgerung für solche der dritten Generation. Die Partei wünscht sich eine effiziente, gerechte Asylpolitik; evtl. auch Flüchtlingskontingente, wie sie vom UNHCR angefragt werden. Schliesslich möchte die Partei, dass der Bund Non-Profit-Organisationen und Vereine im Migrationsbereich unterstützt.

EVP: für die Bekämpfung der Armut vor Ort

Die EVP hat Mitte September eine Resolution „10 Thesen zur Migrationspolitik“ verabschiedet.29 Darin empfiehlt sie, bei der Personenfreizügigkeit den bestehenden Spielraum zu nutzen, um die negativen Auswirkungen in den Griff zu bekommen. Wie auch andere Parteien und wie die Departementsvorsteherin fordert die EVP raschere Asylverfahren und mehr Ressourcen für den Vollzug von Wegweisungen. Migrationszusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit sollen gekoppelt und die Rückkehrhilfe soll ausgebaut werden. Die Partei möchte keine generelle Amnestie für Sans Papiers, jedoch soll in bestimmten Fällen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, insbesondere wenn Kinder und Jugendliche in Ausbildung betroffen sind. Verfolgte Christen sollen Asyl erhalten. Und wie früher sollen ab und zu Kontingente ausserhalb der Asylverfahren aufgenommen werden. Integration bedeute fordern und fördern, eine Niederlassungsbewilligung soll nur gegen einen Integrationsnachweis erteilt werden, der Staat bietet im Gegenzug Kurse und andere Unterstützung an. Der zweiten und dritten Generation ist die Einbürgerung zu erleichtern. Die Ausschaffungsinitiative sei wirkungslos, weil die meisten Straftaten von Ausländern ohne Aufenthaltserlaubnis begangen würden. Wer im Herkunftsland Perspektiven habe, nehme das Wagnis Migration nicht auf sich, deshalb soll die Schweiz ihre Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7% des BIP aufstocken.

EDU30. für freiwillige Integration

Die EDU bekennt sich zu einer humanitären Schweiz, die Personen in Not Hilfe gewährt. Sie wendet sich gegen die Regularisierung von Sans-Papiers. Überhaupt sollen illegale Einwanderer und solche ohne echte Asylgründe konsequent ausgeschafft werden. Zur Integration vertritt die EDU folgenden Standpunkt: «Integration heisst aus Sicht der EDU nicht, seine Wurzeln oder seine Identität zu verleugnen oder abzulegen, sondern lediglich bewusst und willentlich die Lebensweise und Spielregeln des Gastlandes zu akzeptieren und zu respektieren, sowie sich aktiv eigenverantwortlich um die sprachliche Verständigung in der Sprache des Gastlandes zu bemühen.» Integration könne nicht von oben verordnet, sondern müsse freiwillig angestrebt werden, wobei das Gastland geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen hat. Im Gastland soll, im Rahmen von Verfassung und Gesetz, Glaubens- und Religionsfreiheit gelten.

Ein zunehmendes Problem in der Begegnung mit anderen Kulturen sei eine ungenügende eigene Identität der Schweizer. «Deshalb ist aus Sicht der EDU ein klares Bekenntnis zum christlichen Fundament und zum aktiven, glaubwürdigen Leben des christlichen Glaubens an den Gott der Bibel durch unser Volk und unsere Gesellschaft die einzig wirksame Antwort auf die zunehmende Islamisierung Europas und der Schweiz.» Sie setzt sich daher für die Stärkung der eigenen Identität ein, als «Voraussetzung für die Fähigkeit, Fremde zu integrieren; fehlende Identität bewirkt Unsicherheit und Furcht vor dem Fremden.» Sie fordert Sprach- und Integrationskurse für Einwanderer, die aktive Unterstützung der Integration von Secondos in Schule und Berufsleben, und fakultative Integrationsvereinbarungen.

Bewertung

SVP: erwartungsgemäss hart

Die SVP vertritt erwartungsgemäss die härteste Haltung gegenüber Asylsuchenden und Ausländern; sie möchte ihnen auch keine Unterstützung im komplizierten schweizerischen Asylverfahren zugestehen. Insgesamt überwiegen in ihrer Haltung Skepsis und Misstrauen gegenüber den Ausländern; damit trifft sie wohl die Stimmung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung bei dieser Thematik. An dieser Stelle seien ein paar Bemerkungen zum Stil der SVP erlaubt: Die Stärke der Partei sind kernige Aussagen und Polemik, doch oft geht dies zu Lasten der Genauigkeit. So stellt sie zahlreiche Behauptungen auf, ohne diese zu belegen. Nur zwei Beispiele: «Überdies unterlaufen Gerichtsinstanzen gezielt die gesetzlichen Vorschriften und sogar den Volkswillen»“31 und „«Umfragen zeigen: Viele Millionen Menschen möchten gerne in die Schweiz einwandern.»“32 Beides sind gewagte Behauptungen, die nicht belegt werden. Wer hat diese Umfrage gemacht und Millionen Einwanderungswillige befragt? Wenn es um statistische Zahlen geht, gelten Eingebürgerte bei der SVP höchstens als halbe Schweizer, so ebenfalls auf Seite 53, wo es um den Ausländeranteil in der Schweiz geht: „«Ohne die Masseneinbürgerungen der letzten Jahre wären es sogar 34,3 Prozent.»“ Da wird zumindest an der Wahrheit geritzt.

SP: nahe an der Bibel

Die SP anerkennt, dass es im Asyl- und Ausländerbereich gewisse Probleme gibt, etwa mit der Kriminalität. Sie sieht die Ursachen dafür aber nicht in der Herkunft, sondern bei den geringeren Mitteln und Chancen dieser Personen, bzw. in strukturellen Problemen. Die Migrantinnen und Migranten betrachtet sie nicht unbedingt als separate Gruppe, sondern einfach als (oft schwächeren) Teil der Gesellschaft, und in dieser von den Sozialdemokraten angestrebten Gesellschaft sollen möglichst alle die gleichen Rechte und Chancen erhalten. Die SP positioniert sich damit nahe an der biblischen Haltung.

CVP: abgeschwächte SVP-Kopie

Die Positionen der CVP und der FDP unterscheiden sich von denen der SVP vor allem in Bezug auf die Personenfreizügigkeit, welche die Ersteren positiv beurteilen und nicht antasten wollen.

Ansonsten wirkt aber das Papier der CVP doch wie eine abgeschwächte und weniger klare Kopie des SVP-Programms, auch wenn es ein paar wenige Vorschläge zugunsten der Migranten enthält. Immerhin sieht die CVP auch verstärkte Hilfe in den Herkunftsregionen vor, was bei der SVP und der FDP nicht im Programm ist.

FDP: kaum mit Bibel in Einklang

Die FDP ihrerseits beurteilt Immigranten hauptsächlich nach deren wirtschaftlichem Nutzen für die Schweiz und will deshalb die Einwanderung aus Drittstaaten stark einschränken. Dies ist aufgrund ihres Mottos «Aus Liebe zur Schweiz» nachvollziehbar, lässt sich aber kaum mit einem biblischen Menschen- und Fremdenbild in Einklang bringen. Die Positionen der FDP in der Migrationspolitik waren nach deren Bekanntgabe auch innerhalb der Partei umstritten. So äusserte sich der Waadtländer Nationalrat Claude Ruey dazu, das Konzept sei «ethisch verwerflich.» Es lasse sich so zusammenfassen: «Der Ausländer ist eine Belästigung – ausser er nützt uns wirtschaftlich. Deshalb muss alles unternommen werden, damit er ja nicht in die Schweiz kommt.»33

Grüne: barmherzige Migrationspolitik

Die Grünen haben in der Migrationspolitik neben der SP die liberalsten Positionen aller grossen Parteien. Wie die SP sehen sie vorab Flüchtlinge und Sans-Papiers vorab als sozial schwache Gruppe, die Hilfe und Unterstützung benötigen, sowie eher als mögliche Bereicherung denn als Problem für die Schweiz. Mit anderen Worten, sie vertreten ebenfalls das, was man eine barmherzige Migrationspolitik nennen kann.

EVP: nimmt Spannungsfelder wahr

Die Positionen der EVP gleichen zum Teil jenen der CVP und der FDP, etwa bei den Asylverfahren, der Personenfreizügigkeit und der Integration. In anderen Punkten ist sie deutlich sozialer: Sie sieht das Problem der Sans-Papiers differenziert, wobei ihre diesbezüglichen Vorschläge wohl schwer umsetzbar sind. Wie die Grünen stellt die EVP Flüchtlingskontingente zur Diskussion, und als einzige Partei stellt sie die Erhöhung der Entwicklungshilfe in den Zusammenhang der Migrationsthematik. Auch benennt sie richtigerweise das Spannungsfeld zwischen der Migrationspolitik, die sich vorab um Zuzüger im Rahmen der Personenfreizügigkeit und Flüchtlinge gemäss Asylgesetz kümmert, und der Realität, dass viele Immigranten aus Nicht-EU-Staaten bei uns Arbeit und Perspektiven suchen. Hier müsste man weiterdenken, denn für dieses Spannungsfeld hat, soviel ich weiss, noch keine politische Partei eine Lösung, ebenso wenig wie die Exekutive (z.B. Bundesamt für Migration).

EDU: hart aber interessant

Die EDU vertritt in der Asylpolitik eine harte Position. Bezüglich der Integration bringt sie jedoch einen interessanten, differenzierten Ansatz ins Spiel (siehe oben). Bedenkenswert ist auch die Aussage, dass eine mangelnde Identität von uns Schweizern eines der Probleme sei und dass die Stärkung der eigenen Identität eine Voraussetzung für die erfolgreiche Integration von Menschen aus anderen Kulturen sei. Es wäre spannend, dieses Thema weiter zu verfolgen: Ist es realistisch, eine Rückkehr unserer post-christlichen Gesellschaft zum Fundament des christlichen Glaubens zu erwarten, wie das die EDU tut? Falls nein, worauf sonst können die Schweizerinnen und Schweizer ihre Identität heute realistischerweise abstützen?

Fazit: Christen sollen sich für Barmherzigkeit engagieren

Von «weltlichen» Parteien kann natürlich nicht unbedingt erwartet werden, dass sie in der Migrationspolitik oder in anderen Bereichen biblische Werte vertreten. Die biblischen Texte über Fremde, Ausländer und unsere eigene Identität provozieren zunächst uns Christen und fordern uns heraus: Sind wir bereit, unsere Schweizer Herkunft nicht als Errungenschaft zu sehen, die es gegen gierige Ausländer zu verteidigen gilt, sondern als geschenkten Segen? Und überdies als ein Provisorium? Warum haben viele Christen Angst vor allem vor muslimischen Immigranten? Hat das mit der von der EDU erwähnten fehlenden Identität zu tun? Sind wir in der Lage, gerade gegenüber Ausländern aus dem Asylbereich, unsere Vorurteile zu korrigieren und sie in einem ähnlich positiven Licht zu sehen, wie die Bibel und vor allem Gott selber es tut?34

Und schliesslich wäre es wichtig, dass sich Christen in diesem Bereich politisch engagieren, denn wir sind noch ein gutes Stück von einer menschenwürdigen Migrationspolitik entfernt. So verbirgt sich hinter dem kalten, sauberen Ausdruck «besserer» oder «rascherer Vollzug von Wegweisungen», den mehrere Parteien verwenden, der stossende Umstand, dass Menschen nur wegen ihres nicht-legalen Aufenthaltsstatus für bis zu 24 Monate inhaftiert und teilweise ohne ihre Familien in ihr Herkunftsland ausgeschafft werden.35

Gibt es eine einfache Lösung für jene, die nicht bleiben dürfen, aber aus ihrer Sicht nicht zurückkehren können? Wahrscheinlich nicht, biblisch gesehen liegt aber die Lösung sicher nicht in einer weiteren Gesetzesverschärfung, wie sie die rechtsbürgerlichen Parteien anregen.

Martin Züllig, 11. Oktober 2011

 

 


2.   2Mo 12,49; 4Mo 9,14; 4Mo 15,29-31

3.   2Mo 20,10

4.   3Mo 17; 3Mo 18,26

5.   3Mo 25,35

7.   2Mo 22,20; 2Mo 23,9; 5Mo 23,16, 5Mo 24,19 und weitere Stellen

8.  3Mo 19,10; 3Mo 23,22; 5Mo 24,19-20.

9.  5Mo 26,12-13

10.  2Mo 23,9; 3Mo 19,33-34; 5Mo 10,19; 5Mo 24,18

11.  3Mo 25,23

12.  1Mo 26,3; 1Mo 35,27; 1Mo 47,9; 2Mo 2,22

13.  2Sam 22,44-46

14.  2Chr 2,16-17

15.  Jes 1,7; Jer 5,19; Jer 8,10, Jer 32,29; Hes 7,20-21 usw.

16.  Jer 7,5-7; Mal 3,5

17. Hebr 11,9-10

18.   Hebr 11,13-16; s. auch Hebr 13,14.

19.  2Kor 5,6-8

20.   1Petr. 1,1. Der im Griechischen gebrauchte Begriff diáspora wird heute mancherorts auch für im Ausland lebende            ethnische Gemeinschaften verwendet, z.B. „die tamilische Diaspora in der Schweiz“. Vgl. z. B. die „Diaspora-Studien“         des Bundesamtes für Migration.

21. 1Petr 2,11

22.  Lk 10,25-37

23. Mt 25,31-46

24.  http://www.svp.ch/g3.cms/s_page/83750/s_name/parteiprogramm  (10.09.2011). Alle Inhalte und Zitate in diesem       Abschnitt stammen aus diesem Programm. Gleiches gilt für die anderen Parteien und die folgenden Abschnitte.

31.  Parteiprogramm der SVP 2011-2015, S.49

32.   Ebda., S.55

33.  Der Sonntag, 30. Januar 2011, S.6

34. 5Mo 10,18

35.  Der  sehenswerte Dokumentarfilm «Vol spécial» von Fernand Melgar zeigt das Schicksal einiger solcher Häftlinge.

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~ 2 min

Das folgende Mail haben wir als Reaktion auf den Text «Der politische Gegner: Feind oder Mitmensch?» erhalten. Maya ist ChristNetSympathisantin und engagiert sich seit mehreren Jahren im Rahmen des Solidaritätsnetzes Ostschweiz für Flüchtlinge und Asylsuchende.

Siehe dazu auch die Meldung vom 20.9.2010 der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht

Mels, im Oktober 2011

Lieber Markus,

Seit 14 Monaten kämpfe ich für einen menschenwürdigen Umgang der Behörden von Mels SG mit den ihrem Dorf zugeteilten Nothilfebezügern. Ohne jeglichen Erfolg.

Die Asylsuchenden müssen zu siebt in einem 20 Quadratmeter kleinen Container wohnen. Mobiliar: Vier Stockbetten, ein kleiner Tisch, zwei Stühle.

Keine Steckdose im Wohncontainer, keine Privatsphäre, kein Schrank erlaubt, keine Garderobe, im Sommer zu heiss, im Winter zu kalt, in der Dusche nicht genügend Warmwasser, …

Elektrische Geräte, die an der Rasiersteckdose des Sanitärcontainers hingen, wurden je nach Grösse entweder zerstört (z.B. ein kleiner geschenkter Fernseher) oder heimlich entfernt (z.B. Handylade­geräte). Der Sozialamtsleiter begründet sein Vorgehen damit, das komme die Gemeinde zu teuer zu stehen!

Das Schlimmste ist, dass den Asylsuchenden verboten wird, im oder vor dem Container zu kochen. Hingebrachte Rechauds wurden vom Sozialamtsleiter konfisziert.

Einer picknickt seit mehr als einem Jahr! Andere haben angefangen, kleine Mengen Drogen umzusetzen, um sich so das Geld für warme Mahlzeiten zu beschaffen.

Ich habe gestern den Gemeindepräsidenten nochmals im Namen der Betroffenen um die Erlaubnis gebeten, wenigstens vor dem Container kochen zu dürfen. Er bleibt stur und deckt den Entscheid des Sozialamtleiters. Das sei keine Unterkunft, sondern eine Notschlafstelle. Zu mehr seien sie nicht verpflichtet. Im gleichen Gespräch schimpfte er aber über den Drogenhandel gewisser Container­Bewohner.

Ein Afrikaner, dessen Familie ich seit drei Jahren betreue, hätte im Juli 2010 auch in diesen Container ziehen sollen. (Seine Frau schickte ihn von der Familie weg, weil sie ihn mit seiner Depression nicht mehr ertragen konnte). Er glaubt, in diesen Verhältnissen nicht überleben zu können und ist seither Nomade, immer darauf angewiesen, dass ihn jemand bei sich schlafen lässt. Er schämt sich, dass er seine drei Töchter an den Besuchstagen nie in ein Zuhause einladen kann. Er hat seit mehr als einem Jahr nicht einmal die 8 Fr. pro Tag, weil er nicht im Container wohnt. Er hatte in dieser Zeit mehr­heitlich kein Bett zum Schlafen und darum seit einigen Monaten massive Rückenprobleme.

Und da soll ich nicht wütend werden? Ich möchte nur noch schreien vor Wut, dass in einem Land mit so viel Wohlstand, solche Zustände herrschen dürfen und diese von der Chefin des Justizdeparte­mentes verteidigt werden. Gibt es denn in diesem Land kein Recht darauf, hin und wieder eine warme Mahlzeit essen zu dürfen? Ein Brief an die Vorsteherin des Gesundheitsdepartements (SP!) nützte auch nichts. Sie wolle ihrer Kollegin Karin Keller-Sutter nicht dreinreden.

Was können wir denn gegen eine solche Menschenverachtung tun?

Ich würde gerne einen Zeitungsartikel schreiben, aber ich bin so wütend, dass der wohl nicht gut herauskommen würde.

Lieber Markus, ich bin Dir für jeden konkreten Tipp dankbar.

Liebe Grüsse

Maya

~ 4 min

Die Familie ist ein wichtiger christlicher Wert, und in den letzten Jahren ist sie endlich wieder mehr im Blickfeld der Politik. In der nächsten Legislaturperiode wird die Besteuerung der Familien heiss diskutiert werden. Vor den Wahlen versuchen verschiedene Parteien, sich als Familienparteien zu profilieren. Der Wert der Familie soll wieder gestärkt, der Zusammenhalt gefördert und die Familie entlastet werden.

Unzureichende Ansätze

Verschiedene Studien zeigen, dass Familien heute das grösste Armutsrisiko tragen, dies auf Grund der hohen Kosten rund um die Kinder. Im Jahr 2007 lag die Working Poor-Quote in Familien mit drei oder mehr Kindern bei 15%, also drei Mal so hoch wie im Durchschnitt aller Betroffenen. Familien beziehen deshalb stark überdurchschnittlich oft Sozialhilfe. In der Stadt Biel sind heute 20% der Kinder Sozialhilfeempfänger. Bisherige Ansätze zur Entlastung von Familien haben deshalb zu kurz gegriffen.

Familie stützen oder Staat abbauen?

Steuersenkungen mit Hilfe von Abzügen auf dem steuerbaren Einkommen entlasten genau die Falschen und nützen Familien mit knappem Budget nichts. Denn diese bezahlen bereits heute sehr wenig Bundessteuern. Die CVP verlangt, dass Kinderzulagen nicht mehr versteuert werden müssen. Dies würde  ärmeren Familien aber ebenfalls nur wenig bringen, reicheren Familien auf Grund der Steuerprogression hingegen sehr viel. Die SVP verlangt in einer neuen Initiative einen Abzug auf dem steuerbaren Einkommen für Eltern, bei denen ein Elternteil zu Hause bleibt. Auch hier profitieren diejenigen, die es am meisten bräuchten, überhaupt nicht.

Wenn schon Steuersenkung, dann brauchen wir einen pauschalen Abzug pro Kind auf dem Steuerbetrag, und dies vor allem bei den kantonalen Steuern, da dort die Steuern für wenig Verdienende wirklich spürbar sind.

Manchmal werden Steuervergünstigungen für die Familie auch als Alibi für einen pauschalen Steuerabbau missbraucht. Steuersenkungen sind populär, deshalb wird dies oft als Patentrezept vorgeschlagen. Allerdings haben Steuersenkungen meist auch eine Verknappung der Steuereinnahmen und später eine Kürzung der Sozialleistungen pro Kopf zur Folge, was sehr oft genau die Familien trifft.

Was brauchen die Familien?

Manche Politiker wollen die Familie fördern, in dem sie möglichst verhindern wollen, dass familiäre Aufgaben an den Staat delegiert werden können. Ja, Kinder finden Geborgenheit meist am Besten in der Familie. Was wir brauchen, ist aber eine Politik, die Familie wirklich möglich macht. Eltern müssen frei sein, qualitativ gute Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.

Erstes Ziel muss es sein, dass Kinder von ihren eigenen Eltern betreut werden können. Es muss möglich sein, dass immer ein Elternteil bei den Kindern zu Hause ist (ob Mutter oder Vater spielt weniger eine Rolle). Dies ist vor Allem in den ersten Lebensjahren wichtig, in denen das Grundvertrauen, der innere Halt und der «feste Boden» entwickelt werden. Eine Betreuung durch die erweiterte Familie (Grosseltern etc.) ist heute aufgrund der geforderten beruflichen Mobilität und der Schwierigkeit, eine Wohnung am gewünschten Ort zu finden nicht mehr allen möglich. Eltern sollten zusammengezählt nicht mehr als 100% arbeiten müssen.

Umsetzungsmöglichkeiten

Um dies zu erreichen, sind folgende Voraussetzungen nötig:

1.           Löhne, die für eine Familie reichen

In vielen Wirtschaftssektoren sind die Löhne so tief, dass beide Elternteile erwerbstätig sein müssen. Hier braucht es höhere Löhne für die unteren Einkommen durch Förderung von Gesamtarbeitsverträgen und Mindestlöhnen.

2.           Jobsharing ermöglichen

Damit beide Elternteile an der Erziehungsarbeit teilhaben können, müssten Arbeitgeber etwas umdenken: Auch in Teilzeitarbeit sollte verantwortungsvolle Arbeit möglich sein. Viele Eltern wagen es heute nicht, in der Kleinkinderzeit kürzer zu treten oder die Karriere zu unterbrechen, weil sie sonst den Anschluss verlieren.

3.           Kinderzulagen erhöhen

Dies ist die direkteste Methode. Der Bundesrat und die beiden Kammern meinen aber, hierfür habe man zu wenig Geld und es handle sich dabei um ein unerwünschtes Giesskannenprinzip. Diese Einschätzung steht im krassen Widerspruch zu den von denselben Gremien angestrebten Steuersenkungen, mit denen auf Milliardenbeträge verzichtet werden soll, was einem Giesskannenprinzip in Potenz entspricht…

4.           Heimbetreuung ermöglichen

Statt blind Kinderkrippen für alle zu finanzieren, wie die SP es will, sollte ein Teil dieses Geldes als Kinderbetreuungsgeld denjenigen Eltern ausbezahlt werden, die für ihre Kinder teilweise zu Hause bleiben. Dieser Ansatz ist in Deutschland bereits erfolgreich erprobt worden.

5.           Kinderbetreuung an AHV und Pensionskasse anrechnen

Wenn jemand während einer gewissen Zeit nicht arbeitet, um Kinder zu betreuen, fällt er bei der Altersvorsorge (AHV, Pensionskasse) in ein Loch. Dies darf nicht sein. Kinderbetreuung muss genauso als Arbeit gelten, auch wenn sie niemand bezahlt!

6.           Familienfreundliche Arbeitszeiten

Seit den 1990-er Jahren hat die Flexibilisierung der Arbeitszeit zugenommen. Aus «Gründen der Wirtschaftlichkeit» ist die Abend-, Nacht und Sonntagsarbeit massiv ausgedehnt worden. Das Familienleben leidet darunter, wie ich es in meiner Zeit als Gewerkschaftssekretär von Nahem gesehen habe. Wir müssen uns der weiteren Deregulierung der Arbeits- und Ladenöffnungszeiten widersetzen, sonst opfern wir die Familien auf dem Altar der Wirtschaft und des Konsums ohne Grenzen.

7.           Grosse Wohnungen für die Familien

Der Bund müsste den Bau grosser Wohnungen fördern, anstatt die Subventionen für Genossenschaften, die heute meist Familienwohnungen erstellen, abzubauen. Zusätzlich braucht es gesetzliche Massnahmen, um den Zugang für Familien zu grossen Wohnungen oder Bauhypotheken zu erleichtern. Denn Vermieter und Hypothekengeber ziehen Doppelverdiener ohne Kinder den Familien vor, weil letztere ein grösseres finanzielles «Risiko» darstellen.

8.           Krankenkassenprämien

Kinder müssen gratis versichert werden. Die Grundversicherung darf gerne etwas entrümpelt werden, vor allem müssen aber einkommensabhängige Prämien eingeführt werden.

9.           Familienverträglichkeitsprüfung

Bei politischen Entscheiden könnte eine Familienverträglichkeitsprüfung eingeführt werden. Eine solche hätte beispielsweise beim Entscheid von Bundesrat Burkhalter, auch Kinderbrillen nicht mehr durch die Krankenkassen bezahlen zu lassen, seine Wirkung gezeigt.

Eine echte Familienpolitik braucht nicht primär Steuersenkung, sondern Ermöglichung. Das bedeutet auch Einschränkung und Teilen. Und die Angst vor «dem Staat» abzulegen. Ist unsere Gesellschaft dazu bereit?

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Weihnachtsrevoluzzer und Chouf-nüt-Tag 2010 in den Medien.

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