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In diesem Jahr feiern wir das 75-jährige Jubiläum der Genfer Konventionen, die das Fundament des humanitären Völkerrechts bilden. Die Schweiz, stolz auf ihre Rolle als Hüterin dieser Konventionen, trägt eine besondere Verantwortung für den Schutz und die Förderung des humanitären Völkerrechts.

Doch wie vereinbart sich diese Verantwortung mit der Weigerung der Schweiz, dem Atomwaffenverbotsvertrag (Wikipedia) beizutreten? Ein Vertrag, der die unmenschlichen Folgen von Atomwaffen klar benennt und deren Einsatz sowie Androhung verbietet.

Atomwaffen widersprechen den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: Sie töten wahllos, verletzen das Gebot der Verhältnismässigkeit, verursachen unsägliches Leid und nehmen Menschen das grundlegendste Recht auf Leben und Sicherheit. Kein Land der Welt wäre vor den katastrophalen humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes gefeit.

Auch aus christlicher Sicht ist der Einsatz von Atomwaffen schwer zu rechtfertigen. Diese Form der massiven Zerstörung steht im Widerspruch zu grundlegenden christlichen Prinzipien wie Nächstenliebe, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Friedensförderung und Gewaltlosigkeit. Deshalb unterstützen viele Kirchen und internationale christliche Verbände den Atomwaffenverbotsvertrag, darunter der Ökumenische Rat der Kirchen und die katholische Kirche. Papst Franziskus hat dazu klar Stellung bezogen und spricht von einer „falschen Logik der Angst“, die dem Besitz solcher Waffen zugrunde liege. Für ihn ist nicht nur der Einsatz von Atomwaffen ein „Verbrechen“, sondern bereits ihr Besitz „unmoralisch“ 1 . Auch die Weltweite Evangelische Allianz befürwortet die Nichtverbreitung von Atomwaffen, doch herrscht keine Einigkeit über ein vollständiges Verbot.

Die Argumente der Befürworter von Atomwaffen basieren vor allem auf der Abschreckungstheorie: Der Besitz von Atomwaffen soll potenzielle Angreifer davon abhalten, einen Angriff zu starten. Ein genanntes Beispiel ist die Ukraine, die nach Ansicht einiger Analysten wohl nicht unter russischen Angriff geraten wäre, hätte sie Nukleararsenal 1994 nicht abgegeben. Diese militärische Strategie ist als Mutual Assured Destruction (MAD) bekannt und war auch ein Grund, warum es während des Kalten Krieges zu keiner direkten Konfrontation zwischen den Supermächten USA und UdSSR kam. In diesem Szenario würden Atomwaffen niemals eingesetzt werden müssen, weil niemand es wagen würde, einen Atomstaat anzugreifen.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil. Diese Strategie ist extrem riskant, da sie keinen Raum für Fehler lässt, deren Folgen katastrophal wären. Ich wünsche mir daher einen Frieden, der auf einer anderen Vision basiert: auf das Völkerrecht und auf gegenseitigem Respekt zwischen allen Völkern und Mitgliedern der menschlichen Familie – oder aus christlicher Perspektive: auf Nächstenliebe.

Doch die Vorstellung, dass der Weltfrieden allein durch Abschreckung – also durch die Angst vor gegenseitiger Zerstörung – gesichert werden kann, halte ich für fragwürdig und instabil.

Dass die Schweiz dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beigetreten ist, obwohl sie sich an den vorbereitenden Verhandlungen aktiv beteiligt hat, liegt wohl weniger daran, dass sie viel auf die Abschreckungstheorie gibt. Vielmehr sieht sie den Nutzen des Vertrags für die nukleare Abrüstung als ungewiss an. Ein Beitritt würde keinen konkreten Nutzen bringen und hätte aussen- und sicherheitspolitische Nachteile (siehe Bericht des Bundesrats). Diese Entscheidung ist reines realpolitisches Kalkül: Man möchte seine Verbündeten nicht unnötig verärgern.

Zwar ist es grundsätzlich sinnvoll, Bündnispartner nicht zu verärgern, doch sollte dies nicht gelten, wenn es um so grundlegende Fragen wie die nukleare Abrüstung geht. Es sollte uns egal sein, ob unsere Forderungen auf Zustimmung stossen oder nicht – wir sollten meiner Meinung nach Teil der globalen Bemühungen um ein Atomwaffenverbot sein. Gerade weil die Schweiz eine starke humanitäre Tradition hat, sollte sie hier als Vorbild vorangehen.

Die Entscheidung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beizutreten, stellt einen Bruch mit der humanitären Tradition der Schweiz dar und beschädigt unsere Glaubwürdigkeit als humanitäre Akteurin. Diese Tradition ist stark von christlichem Gedankengut geprägt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Henri Dunant, der Gründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1863) und erster Sekretär der Genfer Sektion der Evangelischen Allianz. Dunant, ein tiefgläubiger Christ, war erschüttert vom Leid der Verwundeten nach der Schlacht von Solferino (1859). Seine religiösen Überzeugungen motivierten ihn, sich für humanitäre Hilfe einzusetzen und eine Organisation zu gründen, die in Konflikten neutral und unabhängig agiert, um allen Verwundeten Hilfe zu leisten. Diese Tradition prägt bis heute das humanitäre Engagement der Schweiz und sollte uns – und besonders auch die Christinnen und Christen – weiterhin inspirieren. Ein Beitritt zum Vertrag wäre ein klares Bekenntnis zu unserer humanitären Verantwortung und eine Fortsetzung unseres langjährigen Engagements für nukleare Abrüstung.

Ich fordere mit der Allianz für ein Atomwaffenverbot die Schweiz auf, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden. Denn wer, wenn nicht die Schweiz, sollte für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einstehen?

1. https://www.swissinfo.ch/ger/papst-nennt-atomwaffen-anschlag-auf-menschheit/45388980

Photo: Flickr Commons, Public Domain (Link)

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Drei Viertel der Evangelikalen Christinnen und Christen wählten bei den letzten zwei Präsidentschaftswahlen Donald Trump. Eine Auseinandersetzung damit, warum viele amerikanische Evangelikale den derzeitigen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner unterstützen, obwohl er sich gegen ihre moralischen Werte verhält.

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Am 17. Oktober wird weltweit der Internationale Tag zur Bekämpfung der Armut begangen. Gerade in Zeiten von bewaffneten Konflikten besteht die Gefahr, das Anliegen nachhaltiger Entwicklung und der internationalen Solidarität zugunsten des eigenen Sicherheitsbedürfnisses und der unmittelbaren Nothilfe zurückzustellen. Doch besonders Christinnen und Christen sind aufgerufen, sich in einer Zeit von Unsicherheit und wachsender sozialer Ungleichheit für Gerechtigkeit einzusetzen. Mit dem Projekt «Sonntag für unsere Nächsten» bietet StopArmut eine praktische Grundlage an, sich in Kirchgemeinden mit dem Thema auseinander zu setzen.

Auch in Krisenzeiten Nächstenliebe und nachhaltige Entwicklung wahren
Dass in ungewissen Zeiten das Sicherheitsbedürfnis stärker in den Vordergrund tritt, ist verständlich. So beschäftigt sich das Schweizer Parlament in diesem Jahr intensiv mit der Frage einer Erhöhung des Militärbudgets auf Kosten der internationalen Zusammenarbeit. Dies würde global die ärmsten Länder treffen und ist zutiefst unsolidarisch. Da Sicherheit und Entwicklung eng miteinander verknüpft sind, sollten Armee und Entwicklungszusammenarbeit nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Diese Tendenzen in der Politik widerspiegeln häufig das individuelle Denken: Auch im persönlichen Leben ist es oft nicht leicht, in Krisenzeiten den Nächsten zu priorisieren. Doch gerade Christinnen und Christen sind aufgerufen, sich auch unter erschwerten Bedingungen für die Schwächsten einzusetzen und Nächstenliebe aktiv zu leben. So dürfen wir angesichts einer Welt, in der laut der Weltbank noch immer ca. 700 Millionen Menschen in extremer Armut (mit weniger als $2.15 pro Tag) leben, nicht untätig bleiben.

Der «Sonntag für unsere Nächsten»
Angesichts globaler Krisen fühlen sich viele Menschen hilflos und frustriert. Deswegen ist die Rolle der Gemeinschaft und der Kirche umso wichtiger, denn der Einsatz für unsere Nächsten ist eine vereinte Aufgabe der Glaubensgemeinschaft. Um Kirchgemeinden zu ermutigen, das Thema Armutsbekämpfung stärker in den Fokus zu nehmen, haben StopArmut und Trägerorganisationen zum dritten Mal einen «Sonntag für unsere Nächsten» lanciert. Dafür stehen umfangreiche Materialien zur Verfügung, um in Gottesdiensten und im Alltag eine bewusste Auseinandersetzung zu fördern. Kirchgemeinden, die sich über StopArmut.ch registrieren, erhalten kostenlosen Zugang zu einem Dossier mit Predigtanregungen, Kreativmaterialien und Ideen für konkrete Aktionen.

Ein kleiner Schritt – eine grosse Wirkung
Christinnen und Christen können durch Gebet, Bewusstseinsbildung sowie die finanzielle Unterstützung von Projekten einen Unterschied machen. StopArmut lädt Kirchen im ganzen Land ein, den 17. Oktober zu nutzen, um sich neu für eine gerechtere Welt einzusetzen – im Glauben, in den Kirchgemeinden und darüber hinaus. So können sie gemeinsam zeigen, dass Glaube und Gerechtigkeit untrennbar miteinander verbunden sind.


Kontakte
Katia Aeby
Verantwortliche Kommunikation & Marketing
Tel. 076 330 76 50
katia.aeby@interaction-schweiz.ch

Anja Eschbach
Kampagnenleiterin StopArmut, Projektleiterin Sonntag für unsere Nächsten
Tel. 078 953 34 03
anja.eschbach@stoparmut.ch

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Für Christen ist es klar, dass die staatliche Gemeinschaft das Recht und die Pflicht hat, Steuern zu erheben, um die Aufgaben des Gemeinwesens auf allen Stufen zu finanzieren. Schon Jesus sagte, man müsse Gott das geben, was ihm gehört und dem Staat das, was dieser beansprucht.

In einem demokratischen Rechtsstaat können wir mitbestimmen, was für welche Zwecke eingefordert werden darf. Was also darf neben den Einkommens- und Vermögenssteuern verlangt werden? Die Erbschaftssteuer liegt in der Kompetenz der Kantone. Sie wurde in den meisten Kantonen immer mehr reduziert. Eine Erbschaftssteuer könnte aber viel bringen, wenn sie zu einer nationalen Steuer umgewandelt würde. Erbschaften fallen bei den Erben an, ohne dass diese dafür etwas geleistet haben. Es handelt sich somit für die Erben um arbeitslose Einkommen. Die Erbschaftssteuer sei die gerechteste Steuer. Das sagte unser früherer Finanzminister, Bundesrat Kasper Villiger, den ich in der Finanzkommission des Nationalrates erleben durfte, als der Bund im Jahre 2003 ein Entlastungsprogramm zur Sanierung des Bundeshaushaltes vorlegte.

Ein erster Versuch scheitert

Nachdem dem Gesamt-Bundesrat der Wille fehlte, diese Bundessteuer ernsthaft vorzuschlagen, reichte ich damals im Nationalrat eine parlamentarische Initiative ein. Da auch diese nicht zum Erfolg führte, lancierten EVP, SP und Grüne eine Volksinititative: «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform)». Im Zentrum stand die Forderung, dass Nachlässe ab 2 Mio. Franken der Erbschaftssteuer unterstehen. Vom Ertrag wäre ein Drittel an die Kantone gegangen, zwei Drittel an die AHV. Politisch und medial wurden wir mit aller Vehemenz bekämpft. 2015 erfolgte die Ablehnung bei nur 29% Ja-Stimmen. Die Zeit war offensichtlich nicht reif.

Die aktuelle Initiative ist unrealistisch

Gegenwärtig ist die Erbschaftssteuer wieder zum Streitpunkt geworden. Die Jungsozialisten bringen mit ihrer zustande gekommenen Volksinitiative «Für eine soziale Klimapolitik – steuerlich gerecht finanziert (Initiative für eine Zukunft)» einen neuen Vorschlag. Diese fordert die Einführung einer Nachlasssteuer von 50% auf Vermögen über dem Freibetrag von 50 Millionen Franken. Die Erträge wären zugunsten des Klimaschutzes zu verwenden. Erfolgreiche Unternehmer wie Peter Spuhler meldeten engagiert, dass sie aufgrund dieses Begehrens die Schweiz verlassen müssten. Diese Form der Erbschaftssteuer wäre für sie nicht verkraftbar. Einige Betroffene erwähnen, dass sie mit einer tieferen Erbschaftssteuer leben könnten. Bereits haben auch bekannte Mitglieder der SP erklärt, dass sie die Forderung ihrer Jungpartei nicht mittragen können.

Sollte die Volksinitiative angenommen werden, würde sie in der Realität zu einem Flop. Die Reichsten würden unser Land verlassen und das Ziel, im Jahr mehrere Milliarden für Bund und Kantone zu erhalten, würde verfehlt. Die Chancen der JUSO-Initiative dürften nicht gross sein; doch weiss man nie zum Voraus, wie Volk und Stände entscheiden werden.

Politisch stellt sich ernsthaft die Forderung, dieser JUSO-Initiative einen Gegenvorschlag gegenüberzustellen.

Ein nächster Versuch lohnt sich

EVP-Nationalrat Marc Jost (Bern) hat am 18. April 2024 eine parlamentarische Initiative «AHV-Solidaritätsabgabe auf Millionen-Nachlässe» eingereicht. Der Text lautet: «Der Bund erhebt zugunsten der Finanzierung der AHV eine Steuer auf Millionen-Nachlässe von natürlichen Personen. Die Steuer wird von den Kantonen veranlagt und eingezogen. Die Bundesverfassungsartikel 112 und 129b sind entsprechend anzupassen.»

Dieser Vorstoss geht nun in die Kommission Wirtschaft und Abgaben (WAK) des Nationalrates. Wenn diese mehrheitlich Handlungsbedarf feststellt, geht der Vorstoss an die WAK des Ständerates. Wenn auch diese dem Handlungsbedarf zustimmt, kann die nationalrätliche Kommission unter Beizug der Bundesverwaltung eine Vorlage vorbereiten. Der Vorstoss ist von Mitgliedern mehrerer Parteien mitunterzeichnet. Man darf gespannt sein, wie es parlamentarisch weitergeht.

Es ist wichtig, eine moderate nationale Erbschaftssteuer anzustreben. Naheliegend wäre als Zweckbestimmung die AHV. Wenn endlich die Heiratsstrafe – Rentnerehepaare erhalten nur 1,5 Altersrenten – abgeschafft oder zumindest gemildert werden könnte, wäre dies eine gesellschaftspolitisch gute Sache.

Wichtig ist: Die Erbschaftssteuer ist wieder auf der Tagesordnung. Da lohnt sich unser Einsatz.


Dieser Artikel erschien zuerst auf INSIST.

Foto von Claudio Schwarz auf Unsplash

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Das Hauptargument der Biodiversitätsinitiative, über die das Schweizer Volk am 22. September 2024 abstimmt, beschäftigt sich mit der Vielfalt der Arten und Lebensräume als Lebensgrundlage des Menschen. Dieser Satz klingt zuerst etwas übertrieben. Doch in den ersten Versen der Bibel finden wir eine Geschichte, welche diese Aussage bestätigt.

In der Schöpfungsgeschichte in Genesis 1, 1–31 lesen wir, wie Gott Tag für Tag die Grundlagen für menschliches Leben legte. Zuerst erschuf er das Licht. Dann trennte er Wasser und Land. Danach folgten die Bepflanzung des Landes und die Bildung der Gestirne am Himmel. Anschliessend belebten Vögel, Fische und Landtiere die noch junge Erde. Als der Mensch als Höhepunkt der Schöpfung dazu stiess, fand er einen perfekten Lebensraum vor. Es mangelte weder an Nahrung noch an sauberem Trinkwasser. Der Boden war fruchtbar und die Luft war rein. Es wimmelte von einer unglaublichen Vielfalt an Tieren und Pflanzen. Für Naturschützende heute wäre dieser Zustand wohl das absolute Ideal.

Abhängigkeit von der Natur
Selbstverständlich gibt es kein Zurück zu diesem Garten Eden-Zustand der Schöpfung und auch die Biodiversitätsinitiative spricht von keinem Ideal, das unbedingt erreicht werden muss. Die Initiative und Schöpfungsgeschichte erinnern uns aber daran, dass der Mensch direkt von der Natur und deren Zustand abhängig ist. Je artenreicher die Lebensräume sind, in denen sich der Mensch bewegt, desto einfacher gestaltet sich zum Beispiel die Ernährung. Über Jahrtausende hinweg hat der Mensch kulturelle Praktiken entwickelt, die den Anbau und die Vermehrung von Pflanzen sowie die Haltung von Tieren vereinfachen. Die gesamte Landwirtschaft, Imkerei, Fischerei und Forstwirtschaft beruhen auf diesem sogenannten technologisch-ökologischen oder biokulturellem Wissen, dass über Generationen weitergegeben wird. Der Verlust von Biodiversität hat somit auch den Verlust von uraltem Wissen über die Zusammenarbeit mit der Natur zur Folge. Dieses Wissen brauchen wir jedoch zwingend, zum Beispiel um gute Anpassungsstrategien an den Klimawandel zu entwickeln.

Gottes Auftrag missachtet

«Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt die Erde, und macht sie ⟨euch⟩ untertan; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen!» (EBF, Genesis 1, 28).

Der Mensch hat also den unmissverständlichen Auftrag erhalten, sich die Erde untertan zu machen und über die Pflanzen und Tiere zu herrschen. Ein guter Herrscher sorgt sich aber um seine Untertanen und beutet sie nicht für selbstgefällige Zwecke aus. Die Schweiz weist dank ihrer Topografie 160 Lebensraumtypen und 56‘ 009 einheimische Arten vor. Leider misst das Alpenland diesem Arten- und Lebensraumreichtum zu wenig Wert bei. Gemäss Bundesamt für Umwelt sind von 10‘844 einheimischen Arten, deren Gefährdung bewertet wurde, 35 Prozent gefährdet oder bereits ausgestorben. Von den 160 Lebensraumtypen sind 48 Prozent bedroht und die wenigstens stehen unter Schutz. Die Schweiz bildet somit das Schlusslicht bei den Schutzgebieten im Vergleich zu unseren Nachbarländern und weist eine deutlich höhere Gefährdung der Tier- und Pflanzenarten vor. Der Verlust an Biodiversität in der Schweiz zeigt auf, dass die Bevölkerung dem Auftrag Gottes zum sorgsamen Herrschen nicht nachkommt.

Sorgsame Herrscher werden
Mit der Annahme der Biodiversitätsinitiative am 22. September 2024 würde die Schweizer Bevölkerung der Biodiversität den Wert zurückgeben, der ihr seit Anbeginn der Zeit zusteht. Denn jedes Lebewesen besitzt einen inhärenten Wert, der respektiert werden muss. Das Volk würde mit einem JA an der Urne seine Lebensgrundlage schützen, biokulturelles Wissen bewahren und die Rolle des sorgsamen Herrschers über die Schöpfung endlich wahrnehmen. Als Christen haben wir zudem die Verantwortung, unsere Mitmenschen stets an diesen Auftrag zu erinnern. Die Initiative ist für alle eine Ermutigung, im Alltag konkrete Massnahmen für den Biodiversitätsschutz umzusetzen und den Lebensstil nachhaltiger zu gestalten, um die Erde in ihrer Vielfalt und Fülle für kommende Generationen zu bewahren.


Quellen
Argumente, Faktenblatt Biodiversität: www.biodiversitaetsinitiative.ch (Stand: 18. August 2024)
Fragen und Antworten: www.biodiversitaetsinitiative.ch (Stand: 18. August 2024)
Elberfelder Bibel, Genesis 1, 1–31
Positionspapier der AKU: Ein Ja zur Biodiversität ist ein Ja zu Gottes Schöpfung | Each
Stellungnahme der Christ:innen für Klimaschutz

Foto: Knut Burmeister

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Gott fordert uns auf, uns für die Nächsten und für Gerechtigkeit einzusetzen, was bei strukturellen Ursachen für Elend und Ungerechtigkeit auch ein politisches Engagement erfordert. Die Kirchen nehmen dabei eine wichtige Rolle als Sprachrohr und als ethische Autorität ein.

Die Kirchen sind in den letzten Jahren unter Druck gekommen, wenn sie in politischen Belangen die Stimme erhoben. Sie wagen es kaum noch, sich politisch zu äussern. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese ethische Autorität mundtot gemacht wird, und müssen sie stützen und ermutigen. Daniel Winkler, der sich als Pfarrer in Riggisberg für Flüchtlinge engagiert, unterstrich am 5. Juni 2024 in seiner Kolumne «Maulkörbe helfen nicht aus der Krise» in der Zeitung «Der Bund»: «Es gehört zum Kernauftrag der Kirchen, sich für die Schwächsten einzusetzen.»1

Kirchen haben seit jeher die Rolle, die Stimme zu erheben, wenn die zentralen Werte des Christentums in Gefahr sind. Nach Jesus ist das zentrale Gesetz, an dem alles hängt: Du sollst deinen Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn unsere Nächsten in Gefahr sind oder ihre Rechte gebeugt werden, dann sind wir aufgefordert, Unrecht anzuprangern. Die Kirche, als Organisation der Christen, hat deshalb auch die Pflicht, die Stimme zu erheben. Dies hat sie in der Vergangenheit immer wieder getan, so z. B. wenn das Recht auf Asyl für verfolgte Menschen in Gefahr war, oder wenn Schuldknechtschaft der Länder im Süden Not und Elend zur Folge hatte.

Die Stimme stösst auf Widerstand und wird zurückgedrängt

Die Konzernverantwortungsinitiative hatte ebenfalls das Anliegen, die Rechte und das Wohl von benachteiligten Menschen im Süden zu schützen und ethische Standards einzufordern. Doch betroffenen wirtschaftlichen Kreisen und deren Vertretern – sowie Menschen, die mit der Initiative nicht einverstanden waren – ging dies zu weit, und sie organisierten ein Kesseltreiben gegen die Kirchen mit der Forderung, dass sie sich nicht mehr einmischen sollen. Kirchlichen Hilfswerken wurde daraufhin Entwicklungshilfegeld verweigert, wenn sie nicht nur Hilfsprojekte organisierten, sondern sich auch für Veränderung der strukturellen Ursachen des Elends einsetzen, also politische Forderungen stellten.2 Der Sensibilisierungkampagne StopArmut zum Beispiel wurde daraufhin die Unterstützung durch das DEZA gestrichen. Auch die diesbezügliche Aufklärung in den Schulen wurde fortan verboten. Wer unsere gesellschaftliche Mitverantwortung für Ausbeutung anspricht, wird also zensuriert. Kirchen und Hilfswerke sowie christliche Medien zögern heute, sich noch politisch zu äussern. Sie haben Angst vor der Verminderung der Spendeneinnahmen und praktizieren damit eine Selbstzensur. 2022, in der Folge der Konzernverantwortungsinitiative, wehrte sich die landeskirchliche Gruppierung «Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung»3 mit einem bedenkenswerten Manifest «Gegen das Schweigen der Kirchen»4 gegen diese Entwicklung.

Die ethische Autorität stützen – und im Dialog bleiben

Wir dürfen nicht zulassen, dass die letzte ethische Autorität, die grenzenlose Machtausübung behindert, mundtot gemacht wird. Das ist genau die Voraussage des ersten Beschreibers des Postmodernismus, Jean-François Lyotard, der sagte, wenn keine Wahrheit und keine gemeinsame Ethik mehr akzeptiert werden und alles beliebig wird, dann wird Macht nicht mehr eingeschränkt und bleibt einziges Kriterium für die Entscheidungsfindung.
Die biblischen Forderungen und ethischen Standards sind klar. Wir dürfen nicht erst dann die Stimme erheben, wenn sich alle Christen einig sind. Es ist klar, dass wir auch auf Widerstand unter Christen stossen, wenn es für das Gewissen unangenehm wird oder wenn unser Wohlstand in Frage gestellt wird. Wenn wir aufdecken und Umkehr fordern, wo Mammon vor Gott herrscht, dann müssen wir immer mit heftigen Reaktionen rechnen, zum Teil auch aus christlichen Kreisen. Unsere Aufgabe ist es, im Dialog zu bleiben, Gegenargumenten zuzuhören, Befindlichkeiten zu validieren und wo möglich gemeinsame Visionen zu entwickeln. Wir dürfen uns aber nicht davon abhalten lassen, Leben zu schützen, uns für die Schwächsten einzusetzen und Gerechtigkeit herzustellen – auch in der Politik. Es darf nicht so weit kommen wie in vielen Ländern, wo Christen und Kirchen aus einem Minderheitsreflex heraus, sichvor der «bösen Welt» abschotten und nur noch einen Kampf für ihre eigene Gruppe führen. Dabei werfen sie sich Führern an den Hals, die Hass säen und die Rechte der Nächsten mit Füssen treten.

Stützen wir also die Kirchen und christlichen Medien, die sich für christliche Werte und Nächstenliebe auch politisch äussern.


1. Kirche unter Druck: Maulkörbe helfen nicht aus der Krise | Der Bund

2. https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-verschaerft-regeln-fuer-entwicklungshilfe-staatsgelder-duerfen-nicht-in-polit-kampagnen-fliessen-ld.1604901

3. Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung – Kirche?

4. Stimme_der_Kirchen_Manifest_Pierre Buehler_dt_fr


Foto von Hansjörg Keller auf Unsplash

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Am Samstag, 23. November 2024, organisieren ChristNet und A Rocha mit der Theologischen Hochschule HET-Pro in St-Légier VD eine Studientagung rund um die erstaunlich aktuellen Gedanken des französischen Technikkritikers und Theologen Jacques Ellul unter dem Titel «Welche Hoffnung in einer krisengeschüttelten Zeit?».

Auch 30 Jahre nach seinem Tod verhilft Ellul dazu, aus festgefahrenen Denkmustern auszubrechen. Angesichts der Krisen unserer Zeit übernehmen viele Christinnen und Christen unbesehen die vorherrschenden Ideologien wie Konsumismus, Nationalismus, Kapitalismus, Militarismus usw. Doch lösen diese Denk- und Handlungssysteme die Probleme nicht wie erhofft.

An dieser Tagung, die im christlichen Umfeld der Romandie schon jetzt auf grosses Interesse stösst, stellen acht Referenten aus Fachbereichen wie Theologie, Philosophie, Sozial-, Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften das vielfältige Werk von Ellul in Referaten, Workshops sowie einer Podiums- und Publikumsdiskussion vor.

Key-Note-Redner ist Frédéric Rognon, Ethikprofessor an der Universität Strassburg und einer der aktuell profundesten Ellul-Kenner. Er referiert einen der zentralen Begriffe des Werks des visionären Theologen, die «non-puissance» («Nicht-Macht») im Sinne eines Machtverzichts, der es den Gläubigen ermöglicht, hoffnungsfroh in der Welt zu stehen. David Bouillon, Professor an der HET-Pro, wirft mit einer Deutung des Jona-Buches von Ellul ein biblisches Licht auf den Katastrophismus. Jacob Marques Rollison, Theologe und Worker in der Gemeinschaft L’Abri, bespricht, wie die Technik dem Menschen Macht verleiht und ihn zugleich in Verzweiflung stürzt.

Ein visionärer Denker

Der französische Soziologe und Theologe Jacques Ellul (1912–1994) war einer der visionärsten christlichen Denker seiner Zeit, der auch zu unseren heutigen Herausforderungen viel zu sagen hat. Bereits in den 1950er Jahren beschrieb er die Wirkung der Technik auf die Gesellschaft, kritisierte die Logik des «technisierten Systems», das unsere Gesellschaft durchdringt und ganz der Steigerung der Effizienz, der Innovation und des Profits verschrieben ist, dabei aber Umwelt, Mensch und Kultur zerstört. Er kritisierte insbesondere den vorherrschenden Diskurs, der die Technik als Lösung für alle Übel anpreist.

Dagegen formulierte er eine Ethik der Freiheit, die auf eine entsprechende Bibel-Auslegung basiert. Der Begriff «non-puissance» ist für ihn eng mit der christlichen Hoffnung verknüpft, dem Durst nach Gott, der dem Menschen den rechten Platz zuweist.

Mehr zu diesem untypischen christlichen Autor, der im englischsprachigen Raum eine breite Wirkung entfaltet hat, im deutschsprachigen aber weitgehend unbekannt ist, findet sich im angehängten PDF-Dokument «Wer um alles in der Welt ist Jacques Ellul?»

Eine partizipative Tagung

An der Jacques Ellul Tagung, die auf Französisch stattfindet, werden die Teilnehmenden aktiv mitarbeiten. Ein Höhepunkt sind die acht Workshops am Nachmittag, die über eine Stunde dauern und Raum bieten für einen kollektiven Schöpfungsprozess (Co-Kreation). Dabei sollen konkrete Lösungsansätze für die behandelten Problemfelder gesucht werden. Das Ergebnis wird am Podiumsgespräch im Plenum vorgestellt und diskutiert. Die Organisatoren hoffen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer so Ansätze finden, um in unserer krisengeschüttelten Gesellschaft ihren Platz zu finden.

Weitere Informationen und Anmeldung auf der französischsprachigen Website.

 

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Vor etwas mehr als 50 Jahren brachte die Banane, oder besser gesagt ihr Preis, eine Handvoll Frauen in Bewegung. Die sogenannten Bananenfrauen haben darüber sinniert, weshalb die Banane in der Schweiz trotz ihres langen Transportweges derartig günstig ist. Das Engagement dieser Frauen hat sogar die Geschäftsleitung des Detailhandels der Migros provoziert. Dies alles begann mit einer entscheidenden Frage, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat.

Die Banane gehört – wie kaum eine andere Frucht – zum Repertoire unserer Beschimpfungen. So ist es kein Kompliment, wenn jemand als eine totale Banane bezeichnet wird. Oder wenn eine Politikerin oder ein Politiker das Wort Bananenrepublik benützt, dann ist kaum eine attraktive Urlaubsdestination in der Ferne gemeint. Über die Banane wird gelegentlich auch gewitzelt: «Warum ist deine Banane krumm?» fragt die kecke 8-Jährige ihren Schulkameraden, der gerade herzhaft in die Frucht beisst. «Damit sie in die Schale passt», erwidert sie gleich selbst und grinst.

Wenn Pfarrfrauen die richtige Frage stellen

Nicht selten leiten einfache Warum-Fragen Veränderungen ein. So hat auch diese eine Frage das Schicksal der «Bananenfrauen» rund um Ursula Brunner bestimmt. Sie war durch den Film «Bananera Libertad» von Peter von Gunten ausgelöst worden1 . Das in den frühen 1970er-Jahren noch eher unbekannte Bananengeschäft wurde von Pfarrfrauen in ihren regelmässigen Frauentreffen in Frauenfeld diskutiert. Es blieb aber nicht nur beim Reden. Die Frauen schritten zur Tat: Sie schrieben auf unorthodoxe Weise den Migros-Genossenschafts-Bund an. Dieser konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass Frauen eine derartige Frage stellten.

Die Geschichte der «Bananenfrauen» ist spannend. Sie gleicht einem Abenteuer, das sie nicht selbst gewählt haben. Der Detailhandelsriese Migros liess sich damals zwar auf ein Gespräch ein, war jedoch nicht gewillt, den Bananenproduzenten einen höheren Ankaufspreis zu bezahlen. Daraufhin suchten die Frauen das Gespräch mit den Konsumentinnen und Konsumenten auf der Strasse. Sie machten so in vielen Schweizer Städten auf die erdrückende Situation bei der Produktion von Bananen aufmerksam. Diese Aktionen lösten ein breites Echo aus und brachte viele Menschen zum Nachdenken.

Hören und dem Ruf nachgehen – alles Weitere ist Zugabe

Was diese Frauen damals nicht wussten: Sie legten mit ihren Aktionen einen Grundstein für das Anliegen «Faire Produkte». Die Erklärung von Bern (heute Public Eye) war fast zeitgleich die treibende Kraft bei der Kaffee-Aktion Ujamaa – sie sprach sich für einen limitierten fairen Kaffee aus –, sowie bei der Jute-statt-Plastik-Aktion Mitte der 1970er-Jahre. Hier wurde ein Jutebeutel mit der Aufschrift «Jute statt Plastic»2 lanciert. Die Aktion wurde zum Symbol der Sensibilisierung für einen sorgfältigeren Konsumstil3 .
Ende der 1970er-Jahre gründeten dann mehrere Schweizer NGOs eine Importgesellschaft namens OS3, heute Claro Fair Trade, um Fair Trade-Produkte in der Schweiz zu verkaufen. In den 1990er-Jahren wurden schliesslich verschiedene Fair Trade-Labels eingeführt: das Bekannteste unter ihnen war 1992 das Label «Max Havelaar». Es zeichnet heute eine grosse Anzahl von Produkten im Detailhandel aus, die unter fairen Bedingungen produziert worden sind – unter anderen auch die Banane.

Als die Fair Trade-Bewegung in den 1980er-Jahren von einer breiteren Zivilbevölkerung aufgenommen wurde – allen voran von NGOs –, war der Interpretationsrahmen stets der Kalte Krieg. So argumentiert etwa der Kulturanthropologe Konrad Kuhn, dass der starke Gegenwind gegen den Verkauf von Fair-Trade-Produkten zu Teilen in der Strukturveränderung lag, welche die Bewegung beabsichtigte4 . In Zeiten des Kalten Krieges wurden Strukturveränderungen sofort politisch interpretiert, völlig unabhängig vom eigentlichen Problemfeld. Dieser hochpolitische Deutungsrahmen legte sich nach dem Ende des Kalten Krieges. Nun wurde nicht mehr jedes Wort politisch gedeutet. Ab 1991 gewannen vordergründig dann Aspekte der Wirtschaft ein höheres Gewicht.

Der Weg der «Bananenfrauen» war ähnlich mit dem, wie die Jungfrau zu ihrem Kinde kam: Der Ruf ihrer Zeit hatte diese Frauen und diese hatten ihre Berufung gefunden. Sie betrieben keine Parteipolitik, was jedoch nicht heisst, dass sie nicht politisch waren. Die fair produzierte Banane wurde 1992 von Max Havelaar übernommen. Die «Bananenfrauen» hatten aber schon zwei Jahrzehnte vorher entscheidende Impulse für den fairen Handel gegeben.

Die Warum-Frage bleibt auch heute aktuell

Heute die «Bananenfrauen» nachahmen zu wollen, würde heissen, in der Vergangenheit zu schwelgen. Der Konsum von Fair Trade-Produkten ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Rückblickend ist das Engagement der «Bananenfrauen» zweifellos beeindruckend.

Trotz und gerade wegen ihres Engagements sollten wir uns auch heute fragen, welche Probleme denn heute vorhanden sind. Wie heissen heute die brennenden Themen rund um den Konsum – und darüber hinaus? Und vor allem: Haben wir gegenwärtig überhaupt noch Orte, an denen wir diese Warum-Fragen stellen können? Oder stehen vor allem die Konzepte, durch die wir Menschen für unsere Ideen und Programme erreichen möchten, im Vordergrund?

Inspiriert von den «Bananenfrauen» möchte ich an dieser Stelle eine der heutigen Warum-Fragen aufwerfen, in der Hoffnung, dass andere in diese Frage einsteigen und die Frage weiterdenken. Meine Frage lautet: Warum sind eigentlich Kirchgemeinden und Organisationen, ja selbst unsere persönliche Karriere so stark auf Wachstum und Wirksamkeit ausgerichtet? Eine Ausrichtung nach Wachstumsindikatoren ist ja direkt oder indirekt immer mit Produzieren und Konsumieren verbunden, auch dann, wenn das äussere Erscheinungsbild unserer Aktionen trendig als «authentisch» bezeichnet wird. Warum spielen wir eigentlich dieses unauthentische Spiel in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft, inklusive Kirchen und Organisationen, mit?

Zum Beispiel Hamburg

Ein Beispiel soll Anregungen geben, wie heute Menschen statt Konsum und Programme im Vordergrund stehen können, ohne Strukturen und Planung zu diskreditieren.

Am Hamburger Bahnhof kommen auf engem Raum täglich 550‘000 Reisende an. Konflikte sind keine Seltenheit. Beispielsweise haben während der Flüchtlingskrise 2016 viele Geflüchtete u.a. vor den Einkaufsgeschäften ihre wenigen Habseligkeiten ausgebreitet, um zu schlafen, was wiederum das Einkaufen für Passanten verunmöglichte und so die Umsatzzahlen der Läden tangierte. Wie geht die Bahnhofsmission damit um?

Bei einem Besuch beim Leiter der Bahnhofsmission Hamburg, Axel Mangad, werden keine Mission Statements oder Alleinstellungsmerkmale der 140-jährigen Organisation zitiert. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, da gebe es keine genauen Ziele, die verfolgt werden, was sicherlich den einen oder anderen Geschäftsführer beunruhigen würde.

Wenn Axel Mangad erzählt, dann fällt auf, dass die Menschen im Vordergrund stehen. Er erzählt, dass die Bahnhofsmission flexibel sein will, um auf schnelle Veränderungen wie zum Beispiel eine Flüchtlingskrise reagieren zu können.

Das sind keine eingeübten Floskeln, das neu eingeweihte Gebäude bestätigt seine Erklärungen: Mitten im Raum steht eine Empfangstheke, damit die Mitarbeitenden sofort bei den Hilfesuchenden sind. Mit einer Falttür könnte der kleine Raum zum Beispiel sofort in ein kleines Café umgewandelt werden, falls nötig. Der Sanitätsraum nebenan, der mit ausgebildeten Pflegefachkräften besetzt ist, dient Menschen mit medizinischen Beschwerden, die etwa aus Scham über gewohnte Wege keinen Arzt aufsuchen würden. Ebenso können Menschen ihr mobiles Telefon zum Aufladen abgeben. Klingt banal, aber welcher fremden Person würde man heute das Telefon mit persönlichen Daten geben? Das geht nur, wenn ein hohes Grundvertrauen vorhanden ist. Das neugebaute Gebäude ist natürlich sorgfältig geplant worden. Aber das Konzept ist so ausgearbeitet worden, damit nicht der Konsum, sondern Menschen mit ihrer Not im Vordergrund stehen.

Wie wäre es, wenn wir lernen würden, zuallererst an die Menschen zu denken und erst dann an Strukturen und Zahlen? Der Inhalt kann dann völlig unterschiedlich sein, wie bei den «Bananenfrauen» vor 50 Jahren oder aktuell in der Bahnhofsmission in Hamburg. Der entscheidende Punkt liegt darin, die Fragen richtig zu stellen.


1. vgl. Brunner, Ursula: Bananenfrauen. Frauenfeld, 1999, insbesondere die Seiten 16-38

2. Der Slogan «Jute statt Plastic» steht mit Jute für die die natürlichen Materialien, «Plastic» mit einem c statt k symbolisierte das Fremde.

3. vgl. Strahm: Der aktionserprobte Achtundsechziger im Team der EvB 1974-1978, (2008), Seiten 139-140; in: Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf: Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968-1985), Zürich, 2008 (Seiten 113-166).

4. vgl. Kuhn, Konrad J.: Fairer Handel und Kalter Krieg. Selbstwahrnehmung und Positionierung der Fair-Trade-Bewegung in der Schweiz 1972-1990. Bern, 2005, Seiten 115-117

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Juni 2024 auf Forum Integriertes Christsein.

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~ 7 min

Viele Menschen spüren eine zunehmende Verunsicherung. Die Globalisierung, die Komplexität vieler Zusammenhänge und die Digitalisierung lassen immer mehr Menschen ratlos zurück. Und auch die Kriege an den Rändern Europas sind eine Realität, von der wir dachten, dass wir sie überwunden hätten.

In dieser um sich greifenden Rat- und Hilflosigkeit erstarken die Extreme, die uns Sicherheit und Klarheit versprechen. In vielen Ländern erleben die rechtspopulistischen und nationalistischen Kräfte starken Zulauf. Diktatoren haben Hochkonjunktur, weil sie einfache Lösungen für komplexe Fragestellungen anbieten. Was passiert gerade mit unserer Welt, mit unserer Kultur und unserer Gesellschaft?

Normalität

Was viele Menschen aktuell als verunsichernd und anstrengend erleben, ist der Verlust der Normalität. «Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.» (Wikipedia) Wir kommen aus einer längeren Phase gesellschaftlicher Normalitäten. Vieles war geklärt, galt als «normal» und fand breite Akzeptanz. Man musste nicht ständig überlegen, wie man in der Norm bleibt. In der normierten Normalität kann man sich unbeschwert bewegen, weil einem viele Entscheidungen abgenommen sind. Normalität schafft Sicherheit, Orientierung und Geborgenheit. Sie ist unsere Komfortzone. Normalität ist eine Art verbindende Schnittmenge der Gesellschaft.

«Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.»

Verlust der Normalität

Seit Jahren erleben wir, wie das Feld der Normalität kleiner wird – und die Verunsicherung grösser. Die Schnittmenge wird kleiner, weil die Diversität der Gesellschaft grösser wird. Was über Jahrzehnte als geklärt galt, wird neu verhandelt und infrage gestellt. Wir erleben den Verlust an Normalität in einem Tempo, wie das selten zuvor der Fall war. Im Folgenden nenne ich einige Beispiele, die diese Verunsicherung und Normverluste zum Ausdruck bringen.

Unsere Sprache

Wie dürfen wir noch reden? Plötzlich löst man durch einen Satz oder ein Wort einen Shitstorm aus. Darf ich Begriffe, die mir mein ganzes Leben lang vertraut waren, überhaupt noch gebrauchen oder diskriminiere ich damit jemanden? Darf ein Restaurant noch «Zum Mohren» heissen? Muss ein Strassenname umbenannt werden, wenn er nach einem General aus dem Ersten Weltkrieg benannt ist? Auch das Gendern bedroht die Normalität unserer Sprache. Der Sprachfluss verändert sich und neue Endungen müssen kreiert werden. Selbst in einer der neuesten Kinderbibeln wird konsequent gegendert, was das Vorlesen offen gesagt herausfordernd macht.

Kultur und Nationalität

Eine andere Verunsicherung betrifft Fragen der Kultur und Nationalität. Dürfen meine Kinder an Fasching noch als «Indianer» verkleidet in den Kindergarten gehen? Darf ich als Schweizer Dreadlocks tragen, einen Sombrero aufziehen und Paella kochen – oder ist das bereits kulturelle Aneignung? Dürfen die Kirchenglocken in einem Dorf noch läuten oder ist das jetzt Ruhestörung? Ist die klassische Familie mit Mutter, Vater und Kindern noch der Normalfall oder wird das durch alternative Familienmodelle abgelöst? Und dann hat uns zudem die Coronakrise unverhofft aus unserer Alltagsnormalität herausgerissen.

Konsequenzen

Eine Konsequenz dieses Normalitätsverlusts ist die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach der alten Normalität. Und viele, die eine Rückkehr zu den alten Normen versprechen, erleben Zulauf, egal ob radikale Partei oder fundamentalistische Religion. Eine weitere Konsequenz ist der Rückzug in die eigenen vier Wände und dadurch die Abkehr von der Verunsicherung da draussen. Es wächst das Zugehörigkeitsgefühl zu denen, die den Verlust an Normalität ebenfalls beklagen und gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung denen gegenüber, die diese neuen Klärungen einfordern. Damit vergrössert sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Die Menschen werden fremdenfeindlicher, weil es «die Fremden» sind, die mit ihrer Kultur, ihren Sitten und Werten unsere Normen bedrohen. Und gleichzeitig werden die Fremden unzufriedener, weil sie durch ihren sozialen Stand und den Mangel an Ressourcen ihre eigene vertraute Normalität nicht wieder aufbauen können. Die Anziehungskraft der eigenen Normalität ist daher auch einer der Gründe, warum Integration oft nur schwer gelingt. Integration bedeutet nämlich für fremde Menschen, ihre Normalität aufzugeben und dafür unsere Normalität zu übernehmen. Aber Normalität wächst über Jahrzehnte, über Generationen hinweg und lässt sich nicht einfach austauschen. Und wer Vertreibung, Krieg oder Flucht hinter sich hat, verspürt umso mehr das Bedürfnis nach vertrauter Normalität. Der Mangel an Integrationsbereitschaft muss nicht Ablehnung der neuen Kultur bedeuten, sondern bringt vielmehr die starke Anziehungskraft des Vertrauten zum Ausdruck, die sich in der eigenen Kultur, der eigenen Sprache, den eigenen Traditionen und Sitten zeigt. Bei alledem gibt es eine Schizophrenie in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite will man den maximalen Individualismus, die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen. Und auf der anderen Seite will man ganz viel Normalität und eine möglichst grosse Schnittmenge in der Gesellschaft. Aber man kann auf Dauer nicht beides haben. Wie gehen wir als Christen und als Gemeinden mit dem Verlust von Normalität um?

1. Die Schattenseiten der Normalität wahrnehmen

Ich habe bisher die Vorzüge von Normalität geschildert. Die Geschichte zeigt: Normalität war auch ein Machtinstrument, ein Werkzeug der Unterdrückung. Die Normalität hat Blut an ihren Fingern. Sie war der Nährboden, auf dem ausgegrenzt, ausgeschlossen, diffamiert, denunziert, kriminalisiert und eingesperrt wurde. «Arisch» galt in der Nazi-Ideologie als normal und darum wurden Juden als Ungeziefer betrachtet, die es auszurotten galt. «Weiss-Sein» galt als normal und darum durfte man dunkelhäutige Menschen als Sklaven halten. «Katholisch-Sein» galt als normal und darum durfte man Protestanten verfolgen. Der Mann als Ebenbild Gottes galt als normal und darum wurde in vielen Kirchen Frauen das Lehren und Leiten untersagt. Heterosexualität gilt in vielen Ländern als normal und darum werden in manchen davon queere Menschen mit lebenslanger Haft oder dem Tode bestraft. In Anbetracht dieser Beispiele hat der Verlust der Normalität auch etwas Gutes, denn er zerstört gewachsene Unterdrückungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen.

2. Christen haben schon lange den Bereich der Normalität verlassen

Die Geschichte der Jahwe-Religion ist im Kern die Geschichte des Auszugs und des Aufbruchs aus der Normalität. Abraham als Vater der jüdischen Religion hört von Gott: «Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!» (Gen 12,1). Land, Heimat und Verwandtschaft sind der Inbegriff der Normalität. Aber genau aus dieser Normalität musste Abraham aufbrechen in die Fremde, ins Unbekannte, ins Ungewisse. Und bis heute ist für die Juden der Exodus unter Mose ihre konstituierende Erfahrung als Volk und als Religion. Das Volk Gottes ist und bleibt ein Volk im Aufbruch, ein Volk auf Wanderschaft, ein Volk in der Fremde. Auch im Neuen Testament bestätigt Petrus diese Fremdheit der Christen: «Ihr wisst, liebe Geschwister, dass ihr in dieser Welt nur Ausländer und Fremde seid» (1Petr 2,11). Und Paulus redet davon, dass wir unser Bürgerrecht im Himmel haben (Phil 3,20). Aus der irdischen Normalität wurde für uns eine himmlische Identität. Das griechische Wort für Gemeinde (Ecclesia) heisst wörtlich «die Herausgerufenen». Wir sind herausgerufen aus den Normen der irdischen Gesellschaft. Unsere Zugehörigkeit, Heimat, Verbundenheit und Sicherheit nehmen wir nicht aus dem Bereich der irdischen Normalität, sondern aus der Kraft unserer himmlischen Identität. Was für uns Christen normal ist, orientiert sich nicht an irdischen Normen, sondern an himmlischen Werten. Nicht am gesellschaftlichen Konsens, sondern am Lebensstil Jesu. Als Bürger des Himmels hätte ich viel früher damit beginnen müssen, mich den Machtstrukturen der Normalität entgegenzustellen, mich auf die Seite der Diskriminierten, der Benachteiligten, der Fremden und der Vergessenen zu stellen und mich der betäubenden Wirkung der Normalität zu widersetzen.

3. Die Bedeutung von Solidarität

Dem Verlust der Normalität folgt der Verlust der Solidarität. Der höhere Energieverbrauch für ein Leben mit geringerer Normalität muss irgendwo kompensiert werden. Als Konsequenz konzentrieren wir uns auf uns selbst und müssen uns ganz neu zurechtfinden. Oft geht das auf Kosten der Solidarität, des Ehrenamts und der Hilfsbereitschaft. Alle wollen frische Brötchen am Sonntagmorgen, aber keiner will um 4:00 Uhr diese Brötchen backen. Alle wollen am Sonntag in die Notaufnahme gehen können, aber immer weniger Menschen sind bereit, am Wochenende zu arbeiten. Alle sind dankbar, wenn ihre Kinder im Sportverein gefördert werden, aber an vielen Orten fehlt es an ehrenamtlichen Trainern oder Trainerinnen. Ich erlebe einen dramatischen Rückgang an Solidarität in unserer Gesellschaft. Und der Grund ist nicht, dass Menschen so gottlos, böse und egozentrisch sind, sondern der Verlust der Normalität wird als so verunsichernd und anstrengend erlebt, dass keine Energie und Kapazität übrigbleiben. Als Christen werden wir keine neue Normalität erschaffen! Aber wir können eine Kultur der Solidarität prägen. Wir können unserem Umfeld auf Schritt und Tritt zeigen, was es heisst, solidarisch zu sein. Wir können vorleben, dass sich unsere Solidarität nicht aus der Normalität speist, sondern aus den Werten des Himmels und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unserem Leben. Wir können nicht erst dann wieder solidarisch sein, wenn wir in unserer Komfortzone zurückgefunden haben. Solidarität bezeichnet eine Haltung der Verbundenheit mit – und eine Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten, Bedürfnissen und Zielen anderer Menschen und Geschöpfe. Das ist nichts anderes als Nächstenliebe. Wie wäre es also, wenn wir als Kinder Gottes mithelfen würden, dort die Normalität zu hinterfragen, wo sie als Machtinstrument missbraucht wird, um Menschen oder diese Schöpfung zu dominieren, zu diskriminieren, auszubeuten oder auf ihre Kosten zu leben? Und wie wäre es, wenn wir unser eigenes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit weniger aus der Normalität um uns herum speisen, sondern viel mehr aus dem Bewusstsein, in dieser Welt Fremde zu bleiben, deren Heimat, deren Familie und deren Bürgerrecht im Reich Gottes und in unserem Vater im Himmel liegen? Und wie wäre es, wenn wir trotz dem Verlust an Normalität umso mehr um Solidarität bemüht sind? Wenn wir überall dort, wo wir sind, den Geruch der Solidarität hinterlassen und so unsere Gesellschaft inmitten des Normalitätsverlusts stärken? Diese drei Dinge wünsche ich mir für die Christen.

Dieser Artikel ist erstmals im Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2024 erschienen.

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~ 12 min

Die weltweite Popularisierung des Internets in den 90er-Jahren war eine echte Errungenschaft. Mit E-Mails konnte man plötzlich ganz unkompliziert Freunde erreichen und ihnen Dokumente übermitteln; Websites machten es möglich, die Botschaft der eigenen Firma oder Institution in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Mit den sozialen Medien, KI und dem Verfälschen von Bildern und Tönen hat diese faszinierende Informationswelt ihre Unschuld verloren. Heute droht eine Desinformationsgesellschaft, die zu einer wachsenden Gefahr für uns alle wird. Gibt es Auswege?

Als Journalist war ich von Anfang an dabei, als das Internet für alle verfügbar wurde. Das Zischen und Surren während des Aufbaus einer Verbindung faszinierte nicht nur mich, sondern auch meine Kinder. Ich führte sie nach und nach in diese faszinierende Welt ein. Anfangs verbunden mit einer strengen Zeitlimite. Wer sich länger im Internet bewegen wollte, musste das mit seinem eigenen Sackgeld bezahlen.

Für das Verbreiten der christlichen Botschaft eröffneten sich auf einen Schlag neue Möglichkeiten, insbesondere in den wenig entwickelten Gebieten unserer Welt. Sobald dort Internetverbindungen verfügbar waren, musste der Missionar nicht mehr zwingend persönlich anwesend sein. Er konnte seine Texte – so etwa Bibelübersetzungen – bequem digital übermitteln. Es wurde möglich, auch im Weltsüden digitale Unterrichtseinheiten für eine breite Bevölkerung anzubieten. Eine schöne neue Informationswelt!

Die Blütezeit von Facebook

Für den Studenten Mark Zuckerberg und seine Freunde war Facebook anfangs nur ein Gag, um den Wettbewerb um hübsche Studentinnen anzuheizen. Er spürte aber rasch, dass mit Social Media mehr möglich war. Schliesslich liess sich das Ganze ja mit Werbung verbinden und damit finanzieren. 2007 war der 23-jährige CEO von Facebook bereits Milliardär. An der Börse gewann das junge Unternehmen immer mehr das Interesse von Kapitalisten. Innert Kürze war Facebook 15 Milliarden Dollar wert.

Anfangs gab es noch keine Like-Funktion, «niemand konnte seinen Selbstwert an den Daumen messen, die von andern geklickt wurden»1 . Auch das unendliche Scrollen gab es noch nicht. Wenn man alle Reaktionen von Bekannten gelesen hatte, war der eingegebene Beitrag – der Post – an seinem Ende angelangt. «Kein Algorithmus steuerte die Beiträge, sie erschienen schlicht in der Reihenfolge, in der sie publiziert worden waren».

Jessica King schildert diese Blütezeit von Facebook so: «Es ging ja auch nicht darum, in eine manipulierte Parallelwelt einzutauchen, in der alle anderen Menschen scheinbar aufregendere Leben führen. Stattdessen benutzten wir die Plattform, um am banalen Alltag anderer teilzunehmen, … Gruppen mit lustigen Namen zu gründen, … sich zum Geburtstag zu gratulieren und die Profile von Menschen zu suchen, die man an der Uni sonst nur von weitem sah. Es war ein Tool, um Verbindungen zu schaffen und zu intensivieren.» Also ein ähnlicher Effekt, der mit der Einführung des Internets eingeläutet worden war.

Der Anfang vom Ende

Am 9. Februar 2009 führte Facebook den Like-Button ein. Jessica King reagierte mit dem folgenden Post: «Wer diesen Beitrag liked, ist doof.» Die Reaktion kam sofort: «Schon klickten mehrere auf das Däumchen, und zum ersten Mal spürte ich den kleinen Dopamin-Rausch der digitalen Zuneigung. Bald brütete ich über der Frage, warum gewisse Posts besser funktionierten als andere, versuchte meine Performance zu optimieren. Ich verglich mich mit anderen und spürte einen leichten Anflug von Scham, wenn ich weniger Likes als Kommilitoninnen und Kommilitonen erzielte.»

Parallel zur Lancierung des Like-Buttons kam Facebook in der Schweiz auf eine Million Nutzer. Nun wurde die Plattform zunehmend gesteuert. Jessica King stellt fest, dass Facebook immer häufiger andere Formate mit ihren eigenen Beiträgen verknüpfte, mit «Werbung, News und Beiträgen bislang unbekannter Seiten, ‚die mir gefallen könnten’». 2011 entschied sich Facebook, die fremden Beiträge nicht mehr chronologisch sondern von Algorithmen gesteuert aufzulisten. Damit begann das unendliche Scrollen auf der Suche nach einem noch spannenderen Beitrag zum Thema. Jessica King schildert ihre Erfahrung so: «Immer länger blieb ich nun am Bildschirm sitzen, scrollte und scrollte und scrollte, in der Welt des blauen Riesen gefangen.»

Mark Zuckerberg begann nun, sein Unternehmen auszubauen. Er schluckte Konkurrenten wie Instagram und Whatsapp und bezahlte dafür 1 bzw. 19 Milliarden Dollar. «Dass Profit immer wichtiger wurde, spürten wir im Alltag», sagt Jessica King dazu. «Versprühte Facebook zu Beginn noch ein karge Ästhetik, wurde die Plattform zunehmend mit knalliger Werbung, verwirrenden Feeds und unkontrollierbaren Sidebars zugekleistert.»

Als sich 2011 der Arabische Frühling entlud, trugen Facebook und der Konkurrent Twitter die Proteste aus Tunesien in alle Welt. Jessica King frohlockt: «Der Glaube an die politische Macht von Facebook wuchs – sogar Diktatoren konnte man damit stürzen! Wir posteten unsere Unterstützung, nutzten ab 2013 dafür Hashtags2 , die Facebook eingeführt hatte, und glaubten, mit diesem digitalen Aktivismus den Unterdrückten der Welt geholfen zu haben.»

2014 wurde das Symbol # in der Schweiz zum Wort des Jahres gewählt. Die wichtigsten Hashtags waren 2014 dann aber nicht Themen rund um die Ungerechtigkeit in unserer Welt, sondern zum Beispiel #IceBucketChallenge. Unter dieser Adresse leerten sich Menschen rund den Globus eiskaltes Wasser über den Kopf und dokumentierten dies mit einem Videoclip, in der Erwartung, möglichst viele Likes zu erhalten. Zu den bekanntesten Hashtags gehört #MeToo, der seit Mitte Oktober 2017 im Zuge des Weinstein-Skandals Verbreitung in den sozialen Netzwerken erfuhr und eine soziale Bewegung für die Rechte der Frauen bei sexuellen Übergriffen auslöste.

Mit den erwähnten neuen Möglichkeiten war die Plattform Facebook aber unkontrollierbar geworden. Missbrauch machte sich breit. Jessica King sagt zur Entwicklung von 20 Jahre Facebook, die Internetplattform habe sich vom lieblichen digitalen Dorf zur Gefahr für Demokratien gewandelt, Mark Zuckerberg vom kindlichen Jungunternehmer zum kaltblütigen Überkapitalisten, der sich vor dem amerikanischen Kongress erklären muss.

Bei Google werden die Daten jeder Suchanfrage aufgezeichnet. «Dazu gehören der Standort, Suchbegriffe, das Suchverhalten und Webseitenklicks», schrieb Debby Blaser im Magazin INSIST. «Auf vielen Webseiten werden die Nutzer ‚verfolgt‘, indem anhand der IP-Adresse aufgezeichnet wird, wer die Webseite besucht hat. Diese Daten machen es möglich, dass mir auf Facebook in einer Werbeanzeige genau der Turnschuh angezeigt wird, den ich mir vor kurzem auf Zalando angeschaut habe. Was praktisch ist für Werbetreibende, empfinden manche Nutzer jedoch als Eingriff in ihre Privatsphäre3

Die asozialen Medien werden zum Tummelfeld für Empörungen

Die sozialen Medien erlauben es den Nutzern, zu allen möglichen und unmöglichen Themen rasch eine Meinung zu bilden und diese dann mit andern zu teilen. Bei grosser Zustimmung wächst die Verbreitung dieser Meinung und kann Prozesse in Gang bringen, die kaum noch zu zügeln sind.

Die Journalistin Alexandra Föderl-Schmid, Nahost-Spezialistin der «Süddeutschen Zeitung», hat kürzlich mutmasslich versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr wurde vorgeworfen, in mindestens drei Fällen Erläuterungen öffentlicher Institutionen im Wortlaut übernommen zu haben, ohne dies entsprechend zu deklarieren. Sie habe damit ein Plagiat abgeliefert – eine Todsünde für Journalisten. Das deutsche Portal «Nius» engagierte darauf den «Plagiatsjäger» Stefan Weber, weitere Plagiate – etwa in der Dissertation der Journalistin – aufzudecken. Weber fertigt gegen Geld Gutachten zu akademischen Arbeiten an. «Webers Analysen bringen regelmässig prominente Personen in Schwierigkeiten», schreibt dazu die Journalistin Raphaela Birrer und fügt hinzu: «Häufig erfolgen allerdings seine Anschuldigungen zu Unrecht.» Für sie geht es bei solchen Debatten und Gutachten «längst nicht mehr um intellektuelle Redlichkeit oder universitäre Standards. Es geht um politische Motive, Rachefeldzüge, Rufmord.»

Die asozialen Medien eignen sich hervorragend, um diese Empörungen zu verbreiten. Obwohl eine Untersuchung zeigte, dass an den Vorwürfen bezüglich der Dissertation von Alexandra Föderl-Schmid wenig dran war, kam es zu Hasskommentaren mit Befürwortungen des Suizidversuchs und geschmacklosen persönlichen Angriffen. Die Meinungen waren schon gemacht und liessen sich durch nichts erschüttern. Raphaela Birrer meint zu den Undifferenziertheiten und zur Empörung im Fall Föderl-Schmid: «Sie liefern unfreiwillig Anschauungsunterricht für die degenerative Entwicklung digitaler Debatten. Und sie verdeutlichen, dass es im Moment schwierig bis unmöglich ist, Diskussionen … nüchtern zu führen. Nicht einmal dann, wenn ein Diskurs fast tödliche Folgen hat4

Künstliche Intelligenz und Hacking verstärken das Problem

Künstliche Intelligenz mag helfen, maschinelle Prozesse schneller zu machen. Wenn sie aber im Internet zum Zuge kommt, droht eine Verschärfung der genannten Probleme. Man füttert KI mit einem Gesicht und einer Stimme. Aus diesen Daten erstellt die KI dann eine Matrix, die als Vorlage für jede weitere Version dient. Im März letzten Jahres sei ein Video mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Umlauf gekommen, der seine Truppen aufgefordert habe, die Waffen niederzulegen und sich Russland zu ergeben, schreibt Andrian Kreye. Es sei aber sofort klar geworden, «dass jemand seinen Kopf auf einen Rumpf montiert hatte»5 .

In einem anderen Beispiel spricht der Fussballer Lionel Messi an einer Pressekonferenz verständliches Englisch, obwohl er grundsätzlich immer spanisch spricht. Die dahinter stehende Technologie nennt sich Voice-Cloning, die mit Übersetzer-KI vereint wurde. Ein eher harmloses Beispiel.

Wenn Fälschungen (Deepfake) aber dazu gebraucht werden, Nacktbilder des Popstars Taylor Swift in pornografischer Absicht zu generieren, ist das persönlichkeitsverletzend im höchsten Masse. Deepfake-Pornografie wird nicht selten auch zur Erpressung eingesetzt6 .

Womit wir in der untersten Schublade angekommen wären: der Möglichkeit, das Internet zu hacken und so an vertrauliche Daten zu gelangen – sei es um Firmen zu erpressen oder falsche Botschaften zu verbreiten. Diese Hackerangriffe nehmen exponenziell zu, auch in der Schweiz. 2022 gingen beim Nationalen Zentrum für Cybersicherheit des Bundes 34’000 Meldungen zu Cybervorfällen ein, dreimal so viele wie 2020. Laut dem Journalisten Michael Bucher wird für 2025 «eine weltweite Schadenssumme durch Cyberattacken von gegen 11 Billionen Franken prognostiziert. Das wären rund 40-mal höhere Kosten als Naturkatastrophen im Jahr 2022 verursacht haben7

Am kürzlichen Weltwirtschaftsforum in Davos wurden Fake News als grösste Gefahr für die Menschheit in den nächsten zwei Jahren bezeichnet. Falschinformationen im Internet könnten die Gesellschaft weiter spalten. «Mit Technologien wie ChatGPT oder neuen Versionen von Photoshop ist es leicht möglich, Texte zu erstellen oder etwa Bilder zu fälschen»8 . Auf diese Weise können «gezielt gestreute Fehlinformationen anstehende Wahlen in den USA beeinflussen.» Das könnte Zweifel an neu gewählten Regierungen wecken und politische Unruhen auslösen. Eine Gefahr für die Demokratie!

Was können wir tun?

Auf dem Weg von der Information zur Desinformation bleibt die Wahrheit auf der Strecke: wir folgen der Lüge. Der selbstgerechte Laie wird sich darüber nicht weiter aufhalten. Aufgrund der Informationen, die ihm dank seinem Profil zugespielt wurden, weiss er ja, was Sache ist. Damit verbunden ist die wachsende Skepsis gegenüber der Wissenschaft. 2016 stimmten gemäss einer US-Studie 44 Prozent einer breiten Öffentlichkeit der Aussage zu, «Experten sei weniger zu trauen als Laien». Wenn sich aber Laien zu Spezialisten aufschwingen, regiert die Ahnungslosigkeit. «Und was Wahrheit ist, bestimmen im Netz die Lautesten mit der grössten Followerschaft9

Dem Vater der Lüge zu folgen, kann für Christen aber keine Option sein. Was also soll getan werden? Glaubens- und Religionsführer aus Grossbritannien stellten nach einem kürzlichen Treffen über ethische Fragen rund um KI fest, Glaubensgemeinschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen müssten als «kritische Wächter fungieren, die sowohl KI-Entwickler als auch die politischen Entscheidungsträger zur Verantwortung ziehen». In einem nächsten Treffen wollen sie eine Kommission ins Leben rufen, «mit dem Ziel, die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz für das menschliche Wohlergehen zu nutzen und gleichzeitig Gemeinschaften vor potenziellem Schaden zu schützen»10 .

Dieser Schutz kann durch Institutionen gewährleistet werden, die demokratisch legitimiert sind. Der SVP-Nationalrat Andreas Glarner setzte gegen seine politische Gegnerin Sibel Arslan von den Grünen ein Fake-Video ein. Wenige Tage vor den letztjährigen Parlamentswahlen veröffentlichte Glarner ein täuschend echtes Video von Arslan auf X und Instagram, das mittels künstlicher Intelligenz erzeugt worden war. In diesem Fake-Video äusserte sie dann Meinungen, die dem Gegenteil ihrer tatsächlichen Überzeugungen entsprachen. Arslan ging vor Gericht. Gemäss einem kürzlichen Urteil des baselstädtischen Zivilgerichtes muss Glarner die Gerichts- und Arslans Anwaltskosten für diesen Fall übernehmen. Sie erwägt zur Zeit als nächsten Schritt eine Strafanzeige gegen Glarner. Diese könnte zum Präzedenzfall für einen neuen Straftatbestand werden, der erst seit dem 1. September 2023 in Kraft ist: für den Strafbestand des Identitätsmissbrauchs11 .

Nur Stunden nach der Terrorattacke der Hamas gegen Israel im vergangenen Oktober kursierten auf der Plattform X manipulierte Fotos und Videos anderer Kriege, es gab darunter sogar Sequenzen aus Videospielen und Aufnahmen von Silvesterfeuerwerk. Nutzer verbreiteten diese Bilder als Stimmungsmache gegen Israel oder gegen Palästinenser. «X, die weltweit grösste Quelle für Echtzeitnachrichten, wirkt in diesen Tagen wie ein Verteilzentrum für irreführende Nachrichten», schreibt dazu Jan Diesteldorf. Die EU will nun X-Eigentümer Elon Musk anklagen, der versprochen hatte, die EU-Regeln für digitale Dienste einzuhalten. Gemäss diesen müsste X «schnell, sorgfältig und effektiv auf Hinweise reagieren, illegale Inhalte löschen und ‚wirksam Risiken für die öffentliche Sicherheit und den gesellschaftlichen Diskurs bekämpfen, die von Desinformation ausgehen’»12 .

«Die klassischen Medien verlieren die Kontrolle über den Nachrichtenzyklus, und Algorithmen scheinen zum Teil falsche und sensationsheischende Nachrichten schneller zu verbreiten», führte Silke Adam, Professorin am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaften im vergangenen Herbst an einem Workshop der Uni Bern aus. Sie folgerte daraus: «Desinformation gefährdet unsere Demokratie und kann ein Auslöser sein, dass sich Menschen polarisieren13

Daraus lässt sich schliessen, dass wir die klassischen Medien nicht aus den Augen verlieren sollten, vor allem Medien wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder Radio und die parteiunabhängigen Printmedien. Diese sollten in der Lage sein, Fakten statt Fake zu präsentieren, damit wir uns unsere Meinung möglichst in der Kombination von mehreren Medien zuverlässiger bilden können.

Was oft vergessen geht: KI ist verbunden mit einer Verletzung des Urheberrechtes. Zur Zeit läuft ein Prozess der «New York Times» gegen den KI-Anbieter Chat-GPT. Dieser hatte teils wortgetreue Textkopien als KI-Texte ausgegeben. Gary Marcus, Professor für Neurowissenschaften an der New York University, hat selber mehrere Firmen für KI-Anwendungen aufgebaut. Heute gilt er als Stimme der Vernunft in der KI-Debatte. Er sieht keine raschen Lösungen: «Solange niemand eine neue Architektur erfindet, mit der die Herkunft von generativen Texten oder generativen Bildern zuverlässig verfolgt werden kann, wird es weiterhin zu Rechtsverletzungen kommen14

Immerhin gibt es erste Fortschritte. Wer bei Chat-GPT nach den Grundlagen für eine werteorientierte Dorfentwicklung fragte, erhielt eine Antwort, deren Inhalt mir sehr bekannt vorkam. Wer dieselbe Anfrage bei Copilot eingibt, bekommt ebenfalls Antworten aus den WDRS-Publikationen, diesmal aber mit einer sauberen Quellenangabe und mit Links zu den ursprünglichen Beiträgen, etwa in unserem Forum.

Es steht uns frei, unser Medienverhalten der neuen Lage anzupassen. Debby Blaser weist darauf hin, dass es für Suchmaschinen wie Google Alternativen gibt, die keine Daten aufzeichnen und keine Informationen an Drittpersonen verkaufen, etwa Swisscows oder DuckDuckGo15 .

Die Präsenz von Facebook ist heute am Abnehmen. Aber auch seine Nachfolger und Alternativen sind datentechnisch und im Blick auf den Missbrauch nicht viel besser. Mastodon soll zumindest vom Prinzip her ein deutlich anderes Sozial-Media-Konstrukt sein: Es gibt keinen zentralen Server und damit keinen Besitzer mit bestimmten wirtschaftlichen Interessen und keinen Empfehlungsalgorithmus für den Feed16. Die Messenger App Threema gilt als sicherere Variante von WhatsApp. Sie schützt die persönlichen Daten laut Eigenwerbung «vor dem Zugriff durch Hacker, Unternehmen und Regierungen».

Die digitale Welt orientiert sich heute an Macht- und finanziellen Interessen, auch wenn sie dabei die Wahrheit opfern muss. Das soll uns nicht daran hindern, die positiven Möglichkeiten des Internets zum Verbreiten guter, faktenbasierter Inhalte zu nutzen. Gleichzeitig können wir mithelfen, dass die negativen Tendenzen aufgedeckt und bekämpft werden.

Alles beginnt bei unseren Kindern

Zu guter Letzt: Vielleicht sollten wir auch etwas Abstand zu unseren digitalen Medien gewinnen. Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf plädiert für die Neuentdeckung von zwei alten Disziplinen: Lesen und Denken. Digitale Medien gefährden aus ihrer Sicht beides. Die aktuelle Pisa-Studie habe bei 15-Jährigen weltweit einen Trend zu schlechteren Lesefähigkeiten festgestellt.

Deshalb sagt Maryanne Wolf: «Von null bis fünf Jahren sollten Kinder medienmässig von (Bilder-)Büchern umgeben sein, Eltern und Umfeld sollen ihnen jeden Tag vorlesen, Kinder sollen ihre Bücher halten, damit spielen, ja darauf herumkauen! Lesen soll eine interaktive und sinnliche Erfahrung sein.» Bildschirme könne man dann zwischen eineinhalb und fünf Jahren sehr graduell einführen. Sie sollten aber nicht ein Babysitter-Ersatz sein, weder als Ablenkung noch als Belohnung oder Bestrafung. Sobald die Kinder selbst lesen lernen könnten, mache es Sinn, Print und Digital nebeneinander laufen zu lassen, auch zur Unterstützung des Lesens. Mit vielleicht sieben oder zehn Jahren könne dann die Schule die Kinder in die Welt des vertieften Lesens einführen. «Wenn wir nur noch skimmen und Mühe damit haben, Information und Desinformation auseinanderzuhalten, gefährden wir am Ende unser demokratisches Zusammenleben»17 , glaubt die Hirnspezialistin.

Kurz und gut: Vielleicht können wir ja selber wieder mal ein Buch zur Hand nehmen. Neben der Bibel kann es durchaus auch mal ein guter Roman sein – oder ein Sachbuch über Verschwörungstheorien.


1. Da ich mich bisher nicht zum Mitmachen in sozialen Medien verführen liess, folge ich in diesem Teil meist den Gedanken der Journalistin Jessica King in «Der Bund», 12.2.24
2. dt. Gartenzaun mit dem Symbol #
3. Magazin INSIST, April 2018
4. «Der Bund», 13.2.24
5. «Der Bund», 18.9.23
6. «Der Bund», 10.2.24
7. «Der Bund», 21.2.24
8. Anna Lutz im Pro-Medienmagazin vom 10.1.24
9. «Der Bund», 11.12.23
10. Livenet, 14.11.23
11. «Der Bund», 6.1.24
12. «Der Bund», 12.10.23
13. «Der Bund», 20.10.23
14. «Der Bund», 13.1.24
15. Magazin INSIST, April 2018
16. https://www.watson.ch/digital/review/279309107-twitter-alternative-17-gruende-warum-sich-mastodon-auch-fuer-dich-lohnt
17. «Der Bund», 21.12.23


Dieser Artikel erschien erstmals am 01. März 2024 auf Forum Integriertes Christsein.
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