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«Ich wünschte, er würde einfach sterben», sagte mein Kollege erbittert – gemeint war der Aggressor eines grauenhaften Krieges. Diese Aussage mag zunächst schockierend wirken, denn man «darf» doch niemandem den Tod wünschen. Zudem würde der Tod eines Einzelnen kaum das Ende eines Konflikts bedeuten. Doch die Aussage bringt eine innere Spannung zum Ausdruck, mit der wir derzeit wohl alle ringen.

Auf der einen Seite steht das christliche Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt 5-7), das uns davon abhalten sollte, andern Schlechtes zu wünschen oder ihnen Gewalt anzutun. Auf der anderen Seite steht das Wissen um das Unrecht, das geschieht – und unser ebenso christlicher Auftrag, gegen Unrecht aufzustehen und die Schwachen zu schützen (vgl. Spr 31,8-9). In manchen Fällen scheint das Nichthandeln schwerwiegendere Folgen zu haben als das Handeln.

Christliche Friedensbotschaft unabhängig von den Umständen

Laut dem Global Peace Index gibt es derzeit 56 bewaffnete Konflikte, an denen 92 Staaten ausserhalb ihrer Landesgrenzen beteiligt sind – der höchste Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.1 Für den evangelischen Friedensbeauftragten und Pazifisten Friedrich Kramer ist klar: Kriege lassen sich durch nichts rechtfertigen, und jede militärische Unterstützung einer Kriegspartei hält diese Konflikte nur aufrecht. Er sagt: «Die christliche Friedensbotschaft hängt nicht davon ab, ob es blutrünstige Kaiser oder machtbesessene Oligarchen gibt. Die Idee der Gewaltlosigkeit Jesu überdauert all diese, auch das römische Imperium. Im Krieg sterben nicht die Mächtigen, sondern der einfache Mann. Kriege sind mörderisch und durch nichts zu rechtfertigen. All das spricht für den Pazifismus.»2

Eine radikal pazifistische Sichtweise ist geprägt vom fundamentalen Antimilitarismus.3 Sie betont die kompromisslose Gewaltlosigkeit als christliches Ideal, besonders basierend auf der Bergpredigt Jesu. Sie geht davon aus, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, das Leben heilig und Töten grundsätzlich falsch ist. Allerdings ist «der Pazifismus» kein einheitliches Konzept – unter diesem Begriff versammeln sich unterschiedliche Ansätze.

Rechtfertigt unser Auftrag, gegen Unrecht aufzustehen, auch (gewaltsame) Verteidigung?

Doch so einfach ist es nicht. Wofür sind wir als Christinnen und Christen verantwortlich? Nach Ambrosius von Mailand sind wir nicht nur für unser Handeln, sondern auch für unser Nicht-Handeln verantwortlich.4 D.h. wenn ich etwas Schlechtes verhindern könnte und das nicht tue, dann bin ich genauso verantwortlich, wie wenn ich es tue: «Denn wer nicht von seinem Mitmenschen Unrecht abwehrt, wenn er kann, ist ebenso schuldbar wie jener, der es begeht.»5 Ambrosius bezieht sich hier auf die rechtliche Ausnahmeregelung der Notwehrhilfe. Interessant ist, dass sowohl er als auch Augustinus von Hippo die Notwehr auf individueller Ebene zurückweisen, da diese bedeuten würde, das eigene Leben über das Leben des Angreifers zu stellen. Hingegen sei es etwas anderes, wenn ich in eine Situation komme und Notwehrhilfe leisten kann, denn dann stelle ich das Leben der bedrohten Person über das Leben des Angreifers, und werte somit in diesem Moment das Gebot der Nächstenliebe höher als das Gebot der Feindesliebe. Aus diesem Gedanken heraus befürworten Ambrosius und Augustinus schliesslich die Notwehr, also die (gewaltvolle) Verteidigung, auf kollektiver Ebene, abgeleitet nicht aus der Notwehr auf individueller Ebene, sondern der Notwehrhilfe.6

Wie viel wissen wir über die Folgen unseres Handelns – oder Nichthandelns?

Laut dem Philosophen Olaf Müller vertreten verantwortungsethische Pazifistinnen und Pazifisten die Haltung, dass es in den meisten Fällen deutlich schlimmer ist, auf Gewaltmittel zu setzen als auf friedliche Lösungen. Doch, so Müller, überschätzen sie sich oft: Wer kann schon zuverlässig vorhersagen, welche Massnahmen zu welchen Konsequenzen führen? Wie viele Tote es geben wird – je nach Entscheidung?

Verantwortungsethiker, die militärische Mittel befürworten, verfügen über genauso wenig Vorhersagekraft wie Pazifistinnen. An diesem Punkt tritt unser Menschenbild in den Vordergrund: Menschen mit einem eher optimistischen Menschenbild neigen eher zu pazifistischen Lösungen. Wer dagegen glaubt, dass der Mensch grundsätzlich nicht gut ist, wird dazu tendieren, Gewalt (oder deren Androhung) für notwendig zu halten, um Vernunft und Frieden zu erzwingen.

Der Streit ums Menschenbild lässt sich wissenschaftlich nicht entscheiden. Ein positives Menschenbild ist schön – doch hilft es uns durch die Härten der Realität? Ist es naiv, auf das Gute zu vertrauen, wenn rundherum aufgerüstet wird und Dialogbereitschaft fehlt?7

Relativer politischer vs. absoluter persönlicher Pazifismus?

Hier treffen zwei Prinzipien aufeinander: das Gebot absoluter Gewaltfreiheit und das Gebot absoluter Liebe. Es ist ehrenwert, wenn Christinnen und Christen auf jede Form von Gegengewalt verzichten und dabei sogar Gefahren für ihr eigenes Leben in Kauf nehmen. Aber können sie diese Entscheidung auch für andere – oder für eine ganze Gesellschaft – treffen?

Sollte man nicht im Einzelfall prüfen, ob etwa defensive Waffen (und nur defensive!) dazu beitragen können, Leid in einem Kriegsgebiet zu begrenzen und zu einem raschen, dauerhaften Ende der Kampfhandlungen beizutragen?8 Jedoch erst, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft, es keine nicht-militärische Handlungsoptionen mehr gibt und parallel noch immer diplomatische Verhandlungen geführt werden?

Für mich bleibt das ein schwieriger Gedanke. Ausserdem würde ich gerne, obwohl das vielleicht naiv ist, mein optimistisches Menschenbild aufrechterhalten. Doch hilft diese Einstellung in der aktuellen Lage?

Christliche Hoffnung in den Spannungen dieser Welt

Kant sagte einst, der Friede sei nie gegeben – man müsse ihn aktiv schaffen.9

Die Spannungen, die uns heute beschäftigen, werden uns vermutlich weiterhin begleiten. Und doch haben wir Hoffnung und eine Verheissung: «Er wird richten unter vielen Völkern und zurechtweisen mächtige Nationen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Kein Volk wird mehr das Schwert gegen ein anderes erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.» (Micha 4,3)


1. Vision of Humanity. (2024). Highest number of countries engaged in conflict since World War II.
https://www.visionofhumanity.org/highest-number-of-countries-engaged-in-conflict-since-world-war-ii/. Abgerufen am 18.05.2025.

2. pro Medienmagazin. (2022). Friedrich Kramer: „Waffen schaffen keine Gerechtigkeit“.
https://www.pro-medienmagazin.de/friedrich-kramer-waffen-schaffen-keine-gerechtigkeit/. Abgerufen am 18.05.2025.

3. Evangelische Aspekte. (o. J.). Pazifismus – verschiedene Konzepte.
https://www.evangelische-aspekte.de/pazifismus-konzepte/. Abgerufen am 18.05.2025.

4. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 34:20].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.

5. Ambrosius von Mailand. De Officiis Ministrorum. Erstes Buch: Vom Sittlichguten, Kapitel XXXVY (179).

6. Bewegung Plus Bern. (2025). Spannungsfeld: Krieg und Frieden – Gottesdienst vom 18.05.2025 mit Patrik Hofstetter. [YouTube-Video, ab Minute 36:05]. https://www.youtube.com/watch?v=ktuLfnLv4CM Abgerufen am 18.05.2025.

7. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 8:45].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.

8. https://www.evangelische-aspekte.de/pazifismus-konzepte/

9. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 27:00].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.


Dieser Artikel erschien zuerst im Gerechtigkeitslab bei StopArmut. ChristNet ist Mitglied des Trägerkreises der StopArmut-Konferenz, die am 1. November 2025 stattfindet.

Titelbild von lummi.ai

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Welche Rolle spielen Werte in unserem Leben? Was bedeuten sie für Christinnen und Christen? Wie sind christliche Werte erkennbar? Diese und andere Fragen in diesem Zusammenhang beantwortet dieser Artikel.


In Kürze

  • Werte verändern sich im Laufe der Geschichte und richten sich sowohl nach gesellschaftlichen Umständen als auch nach den individuellen Bedürfnissen. Dadurch entstehen unterschiedliche Werte-Hierarchien.
  • Die Quelle von Werten ist vielfältig: kulturell, psychologisch, philosophisch und für Christen besonders durch Bibel, Tradition und das Wirken des Heiligen Geistes geprägt.
  • Im christlichen Glauben dienen Werte nicht nur der moralischen Orientierung, sondern haben wichtige Aufgaben: sie sollen Gottes Wesen widerspiegeln, Gemeinschaft fördern, zur Nachfolge motivieren und als Zeugnis für die Welt wirken.
  • Die Liebe – zu Gott und zum Nächsten – sollte als höchster und zentraler Wert verstanden werden, aus dem alle anderen Werte hervorgehen und durch den sie ihren Sinn erhalten. Christliche Gemeinschaften sollten sich vor allem durch ihre gelebte Liebe auszeichnen und immer wieder reflektieren, wie dieser Leitwert in der heutigen Zeit konkret Ausdruck finden kann.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte, aber auch im Laufe der Religionsgeschichte haben sich Werte ständig weiterentwickelt und verändert. In der frühen Menschheitsgeschichte waren Zusammenhalt, Loyalität, Teilen und eine enge Verbindung mit der Natur hohe Werte, was dem unmittelbaren Anliegen des Überlebens geschuldet war. In den antiken Hochkulturen waren es eher Werte wie Ordnung, Gesetz, Weisheit und Tugend. Und in unserer heutigen Gesellschaft dominieren Werte wie Individualismus, Freiheit, Toleranz, Gesundheit oder Leistung. Aber Werte unterliegen nicht nur einer Veränderung durch wechselnde Epochen der Menschheitsgeschichte, sondern auch durch die unterschiedlichen Bedürfnisse des Individuums. Wer viele Jahre auf einer einsamen Insel verschollen war, für den wird Gemeinschaft, Miteinander und Kommunikation zu etwas ungeheuer Wertvollen. Und wer lange Zeit in einem Kriegsgebiet leben musste, für den werden Sicherheit, Frieden und Gewaltlosigkeit – oder auch der Wunsch nach Rache zu essenziellen Werten. Und wer als Sklave geboren wurde oder viele Jahre Zwangsarbeit leisten musste, für den wird Freiheit, Mitbestimmung und Würde zu zentralen Werten. Ein Wertesystem ist damit immer abhängig vom Zustand einer Gesellschaft und den Bedürfnissen eines Individuums.

So kommt es auch, dass je nach Kontext unterschiedliche Werte-Hierarchien entstehen. Für den Schiffbrüchigen auf der einsamen Insel sind Freiheit und Mündigkeit kostbar, aber Gemeinschaft und Miteinander rangieren für ihn wahrscheinlich deutlich weiter oben.Dadurch erfahren die Werte an der Spitze dieser Hierarchie besondere Beachtung, wohingegen Werte, die deutlich weiter unten rangieren, schneller in Vergessenheit geraten können.

Aber was sind eigentlich Werte?

Werte sind grundlegende Überzeugungen, Prinzipien oder Qualitäten, die für eine Person, eine Gruppe oder eine Gesellschaft als wichtig, wünschenswert oder erstrebenswert gelten. Sie dienen als Massstäbe und Orientierungspunkte für unser Verhalten, unsere Ziele, unsere Motivation, unsere Urteile und unsere Identität. Wenn Werte uns prägen, verinnerlichen wir diese Massstäbe und Orientierungspunkte. Und je stärker diese Prägung ist, desto schwerer fällt es uns gegen diese Werte zu verstossen oder sie zu verändern.

Im christlichen Glauben – wie in allen Religionen – spielen Werte eine ganz besondere Rolle.Sie sind nicht nur abstrakte Ideale, sondern sollen das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft bewusst prägen. Sie erfüllen damit unterschiedliche Aufgaben:

  1. Ethik und moralischer Kompass
    Christliche Werte dienen als Richtschnur für das Denken, Fühlen und Handeln. Sie helfen Gläubigen zu unterscheiden, was im Sinne Gottes gut, richtig und erstrebenswert ist. Sie bieten einen Massstab, um Entscheidungen im Alltag, in ethischen Dilemmata und in Bezug auf Lebensziele zu treffen. Sie begründen, warum bestimmte Handlungen geboten oder verboten sind. Werte helfen dabei, persönliche Prioritäten, gesellschaftliche Strömungen, kulturelle Normen und sogar religiöse Lehren kritisch zu prüfen und zu beurteilen. Sie ermöglichen eine «Unterscheidung der Geister“ – also zu erkennen, was mit Gottes Willen übereinstimmt und was nicht.
  2. Ausdruck von Gottes Wesen:
    Für Christen reflektieren diese Werte etwas vom Wesen Gottes. Ein von diesen Werten bestimmtes Handeln und Leben spiegelt den Willen und die Absichten Gottes wider.
    Indem Christen versuchen, nach Gottes Werten zu leben oder sie zu verkündigen, wollen sie etwas vom Wesen und Charakter Gottes in der Welt sichtbar machen.
  3. Zieldefinition und Motivation (Nachfolge Christi):
    Christliche Werte beschreiben das Ziel des christlichen Lebens: Gott zu ehren, ihm ähnlicher zu werden (Heiligung, imitatio Christi), Frucht des Geistes hervorzubringen (Galater 5,22-23) und am Kommen des Reiches Gottes mitzuwirken. Sie motivieren Gläubige, über egoistische Interessen hinauszugehen. Werte werden zum wichtigen Orientierungspunkt der persönlichen Transformation.
  4. Formung der Gemeinschaft:
    Gemeinsam gelebte Werte stiften Identität, Einheit und Zusammenhalt innerhalb der christlichen Gemeinschaft (Kirche, Gemeinde). Sie können dadurch auch der Abgrenzung dienen dem Gegenüber, was diesen Werten widerspricht oder sich ihnen in den Weg stellt.
  5. Zeugnis für die Welt (Missionale Dimension):
    Ein Leben, das sichtbar von christlichen Werten wie Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit und Hoffnung geprägt ist, kann ein kraftvolles Zeugnis für andere Menschen sein und auf die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft hinweisen.

Die Quelle unserer Werte

Die spannende Frage ist, woher sich eigentlich Werte speisen? Wie begründen sie sich oder was veranlasst sie?

Hier gibt es soziale und kulturelle Quellen wie das Elternhaus oder die Erziehung, vorgegebene gesellschaftliche Normen, unsere Peer-Group, soziale Medien, das religiöse Umfeld, in dem wir aufwachsen, oder unser Bildungssystem, das ebenfalls Werte vermittelt.

Es gibt aber auch psychologische Quellen wie unsere persönlichen Bedürfnisse, unsere Erfahrungen, Erfolge und Scheitern. Dabei spielen unser Temperament und unsere kognitive Reife eine wichtige Rolle.

Des Weiteren war auch immer wieder die Philosophie eine Quelle von Werten. Menschen denken über Werte nach, reflektieren die Realität, versuchen Widersprüche aufzulösen und begründen Werte durch ethische Theorien (Utilitarismus, die Pflichtethik Kants oder die Tugendethik des Aristoteles).

Für Christen ist die Quelle ihrer Werte in aller erster Linie die Bibel mit ihren Geboten, Erzähl- und Lehrtexten. Daneben orientieren sich Christen für ihre Werte am Charakter Gottes, der am deutlichsten in Jesus Christus und damit in den Evangelien sichtbar wird. Aber auch das unmittelbare Wirken des Heiligen Geistes, der uns in alle Wahrheit führen möchte, kann zur Quelle moralischer Urteile und damit zentraler Werte werden. Ausserdem spielen für Christen auch ihre Tradition und die Verwurzelung in ihrer religiösen Gemeinschaft eine wichtige Rolle, um zentrale Werte auszubilden.

Wertewandel

Viele Christen beklagen gegenwärtig einen deutlichen Wertewandel. Manche sprechen sogar von einer Erosion oder dem gänzlichen Verlust entscheidender christliche Werte. Für sie sollte jeder Bereich der Gesellschaft durchdrungen sein von biblischen Werten. Wo diese Werte aufgeweicht oder sogar abgelehnt werden, sieht man eine Gesellschaft moralisch und in ihrem Zusammenhalt gefährdet. Kann Gott solch eine Gesellschaft noch segnen oder trifft sie sein Gericht? Manchmal fühlt sich die Missachtung christlicher Werte wie eine persönliche Kränkung an. Wie könnt ihr in den Dreck ziehen, was für mich so zentral und kostbar ist?

Gleichzeitig scheint in weiten Teilen der westlichen Welt alles neu verhandelt zu werden. Der Bereich der Normalität, wo Werte scheinbar geklärt und vorgegeben waren, scheint immer kleiner zu werden. Was darf man noch sagen? Muss ich gendern? Was ist kulturelle Aneignung? Darf mein Kind noch als Indianer verkleidet in den Kindergarten gehen? Müssen Produkte oder Strassennamen aus politischer Korrektheit umbenannt werden? In Deutschland gibt es seit neuestem den Strafsachverhalt der Gehsteigbelästigung. Dabei dürfen vor Schwangerschaftskliniken oder Beratungsstellen für Schwangerschaftsabbruch Personal oder Schwangere nicht länger von Abtreibungsgegnern angesprochen werden. Und so mancher Christ wird sich fragen, ob denn alles, was ihm bisher heilig und kostbar war, abgeschafftwird?

Dabei fokussiert sich die christliche Empörung auf ganz spezielle Werte und moralische Themen. Meist geht es um Themen wie Sexualmoral, Sex vor der Ehe, Pornografie, Homosexualität, Gender oder Transsexualität. In der Werte-Hierarchie stehen diese Themen ganz weit oben, sodass andere christliche Werte oftmals das Nachsehen haben oder gar nicht mehr im Blick sind. Und natürlich stellt sich gleichzeitig die Frage, ob die „alte Normalität“ wirklich so wertvoll und lebensfördernd war, wie sie manchen den Eindruck erweckt oder ob die Beharrungstendenzen vor allem die eigene vorteilhafte Sicht- und Lebensweise sichern sollen.

Um die wichtigsten Werte zu schützen, werden immer wieder Regeln und Gebote aufgestellt.Gebote sollen das schützen, was uns wertvoll ist. So schützen die zehn Gebote die monotheistische Gottesverehrung, aber auch das Leben, das Eigentum, die Ehe oder die Wahrhaftigkeit. Aber Regeln und Gebote haben ein ernstes Problem. Sie stützen Werte nur von aussen. Sie haben keine wirklich prägende Kraft, sondern halten Werte durch die Androhung von Strafe und Konsequenzen aufrecht. Im Judentum haben sich dadurch 613 Gebote und Verbote in der Tora entwickelt. Daneben gab es irgendwann hunderte von Sabbatvorschriften, unzählige Satzungen zu Reinheit und Unreinheit und endlose Speisegebote. Aber eigentlich war es schon immer Gottes Idee, uns seine Werte ins Herz zu schreiben und nicht auf steinerne Tafeln. Nicht Angst soll Gottes Kinder zum wertvollen Handeln veranlassen, sondern die tiefe Überzeugung, dass es nichts Besseres gibt und wirgerade dann zu unsrer Bestimmung finden, wenn wir die Werte des Himmels auf dieser Welt durch unser Leben widerspiegeln. Die alttestamentlichen Propheten werden nicht müde auf diese notwendige Verinnerlichung von Werten hinzuweisen.

Gibt es einen höchsten Wert?

Auch Jesus wurde einmal von einem verzweifelten Schriftgelehrten gefragt, auf was es im Gesetz wirklich ankommt. Gibt es bei all den Geboten etwas, das am wichtigsten, am bedeutsamsten, am wertvollsten ist? Etwas, das in gewisser Weise als Grundwert das gesamte Gesetz zusammenfasst? Gibt es etwas, das an der Spitze der Werte-Hierarchie steht?

Das Markusevangelium schreibt: «Einer der Schriftgelehrten hatte diesem Streitgespräch zugehört und gesehen, wie gut Jesus den Sadduzäern geantwortet hatte. Nun trat er näher und fragte ihn: «Welches ist das wichtigste von allen Geboten?» Jesus antwortete: «Das wichtigste Gebot ist: ‹Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der alleinige Herr. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit deinem ganzen Verstand und mit aller deiner Kraft!› An zweiter Stelle steht das Gebot: ‹Liebe deine Mitmenschen wie dich selbst!› Kein Gebot ist wichtiger als diese beiden.» (Mk.12,28-31 NGÜ)

Für Jesus steht also die Liebe zu Gott und die Liebe zum Mitmenschen an der Spitze aller Werte.

In der Bergpredigt umschreibt Jesus diesen Wert der Liebe durch den bekannten Satz: «Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen. In diesem Satz sind das Gesetz und die Propheten zusammengefasst.» (Matthäus 7,12 NL).
Aber nicht nur Jesus macht die Liebe zum Massstab und Kriterium eines echten Glaubens und wahrhaftiger Nachfolge, sondern auch andere Autoren des neuen Testaments betonen die Bedeutung der Liebe als Grundlage aller Werte und aller christlichen Existenz.

Der Apostel Paulus schreibt:

  • Röm.13,8 Bleibt niemandem etwas schuldig, abgesehen von der Liebe, die ihr einander immer schuldig seid. Denn wer den anderen liebt, hat damit das Gesetz Gottes erfüllt
  • «Ihr kennt die Gebote: ‚Brich nicht die Ehe, morde nicht, beraube niemand, blicke nicht begehrlich auf das, was anderen gehört.‘ Diese Gebote und alle anderen sind in dem einen Satz zusammengefasst: ‚Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‘ Wer liebt, fügt seinem Mitmenschen nichts Böses zu. Also wird durch die Liebe das ganze Gesetz erfüllt.»(Römer 13,9f GNB).
  • Ihr seid zur Freiheit berufen, liebe Geschwister! Nur benutzt die Freiheit nicht als Freibrief für das eigene Ich, sondern dient einander in Liebe. Denn das ganze Gesetz ist erfüllt, wenn ihr das eine Gebot haltet: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!»  (Gal.5,13-15)
  • Doch das Wichtigste von allem ist die Liebe, die wie ein Band alles umschliesst und vollkommen macht. (Kol.3,14)

Und der Apostel Jakobus schreibt: «Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift‚‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, so tut ihr recht.» (Jakobus 2,8 LUT 2017).
Es gibt also ein königliches Gesetz, ein wichtigstes Gesetz, ein Leitgesetz, aus dem alle anderen Gebote herausfliessen: die Nächstenliebe. Sie ist der eine Wert, der allen anderen Werten ihre Berechtigung erteilt!

Der Kirchenvater Augustinus hat diese Überlegung auf die Spitze getrieben, indem er sagte: «Liebe und tue was du willst.» Augustinus fordert seine Hörer mit diesem Wort dazu auf, sich in allem Tun von göttlicher Liebe leiten zu lassen, in allem Tun den Vorrang der uneigennützigen, wohlwollenden Liebe anzuerkennen. In letzter Konsequenz geht er davon aus, dass Menschen, die Liebe zu ihrem allerhöchsten Wert und Leitprinzip gemacht haben, sich keine weiteren Gedanken um alltägliche Gebote, Regeln und Werte machen müssen, weil die Liebe in ihrem Herzen alles weitere regelt.

Liebe verleiht allem anderen seinen Wert

Für Jesus ist die Liebe kein nettes Anhängsel oder eine weitere Zutat aus dem Gewürzregal des Glaubens. Der Wert der Liebe ist die entscheidende Zutat, die allen anderen Werten ihre Richtung verleiht. Paulus drückt das so aus: «Wenn ich die Sprachen aller Menschen spreche und sogar die Sprache der Engel, aber ich habe keine Liebe – dann bin ich doch nur ein dröhnender Gong oder eine lärmende Trommel. Wenn ich prophetische Eingebungen habe und alle himmlischen Geheimnisse weiss und alle Erkenntnis besitze, wenn ich einen so starken Glauben habe, dass ich Berge versetzen kann, aber ich habe keine Liebe – dann bin ich nichts. Und wenn ich all meinen Besitz verteile und den Tod in den Flammen auf mich nehme, aber ich habe keine Liebe – dann nützt es mir nichts.» (1.Kor.12,1-3 GNB). Es ist beeindruckend, wie sehr Paulus die Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit von Geistesgaben, Hingabe und aufopferungsvoller Frömmigkeit betont, falls die innere Haltung der Liebe fehlt. Die Logik des Neuen Testaments ist bestechend: Alles – auch jeder andere Wert – verliert seinen Wert, wenn es nicht durchdrungen ist von der Liebe.

Mit Liebe sind nicht gute Gefühle oder Willkür gemeint, sondern die göttliche Agape. Es geht um eine ganz bestimmte Qualität der Liebe, die ganz und gar dem Wesen Gottes entspricht, denn Gott ist die Liebe. Mit der Liebe macht man es sich auch nicht leicht, denn es gibt kaum etwas Anspruchsvolleres als ein Leben, eine Haltung und ein Verhalten, dass die Liebe zum Nächsten als höchsten Wert hat. Das Hohelied der Liebe im Korintherbrief (1.Kor.13,4-8) beschreibt die Wesenszüge der Liebe in eindrücklicher Weise. An der Spitze aller Werte, aller Leitprinzipien, all dessen, was uns zutiefst prägen soll, steht die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Damit das Ganze nicht zu abgedroschen klingt, versuche ich einmal eine moderne Definition dessen, was den Wert der Nächstenliebe eigentlich meint. Nächstenliebe ist im Grunde nichts anderes wie der Wunsch, das Leben des anderen zum Blühen zu bringen. Durch welche Worte, durch welche Handlung, durch welches Verhalten, durch welche Unterstützung, durch welche Haltung, durch welche Motivation kann ich mithelfen, das Leben des anderen zum Blühen zu bringen? Aus dieser Überlegung herausfliessen dann alle anderen Werte wie Ehrlichkeit, Treue, Aufrichtigkeit, Hingabe, Rücksicht, Wertschätzung Barmherzigkeit, Mitleid, Zivilcourage, Freiheit, Gewaltlosigkeit, und vieles mehr.

Für welche Werte wollen wir bekannt sein?

Wollen Christen wirklich für ihre strenge Sexualmoral, ihre Heiligkeit, ihre Absonderungoder ihre moralische Überlegenheit bekannt sein? Als weltweite Christenheit hätten wir in der Liebe eine entscheidende Grundlage für unser Miteinander, für unser Auskommen, für unsere Solidarität, für unsere Schnittmenge und für unser Zeugnis. Hatte Jesus nicht gesagt: «An eurer Liebe zueinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid.» (Johannes 13,35 NGÜ). Aber leider spielt die Liebe in unserem christlichen Miteinander oft eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger für unser Miteinander sind dogmatische, theologische, eschatologische oder moralische Fragen. Und wenn das alles passt, dann darf gern auch noch die Liebe dazukommen. Damit stellen wir die Logik des Paulus auf den Kopf: Liebe ist wichtig, aber ohne das richtige Bibelverständnis, ohne die richtige Moral, ohne die richtige Sicht des Kreuzes, ohne die Betonung von Gerechtigkeit und Gericht ist die Liebe nutzlos. Bei Paulus dagegen ist ohne Liebe alles andere nutzlos. Ich sage es ganz deutlich: Unsere Religion ist die Liebe, weil Gott die Liebe ist! Und deshalb ist unsere zentrale Frage an das Leben nicht: Ist das biblisch, ist das richtig, ist das rechtgläubig? Sondern die zentrale Frage lautet: Ist das liebevoll? Damit stellen wir die Liebe wieder ganz nach oben in unserer Werte-Hierarchie und sie kann von dort aus unsere Herzen lenken und regieren. Es bleibt unsere Aufgabe als Kirche und als Kinder Gottes die Umsetzung und Verwirklichung dieser Liebe als unseren Leitwert immer wieder zu betonen, zu verhandeln und in unserer Zeit zu übersetzen.

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Seit dem 20. Januar sitzt in den USA ein offensichtlicher Narzisst auf dem Thron, der nach dem Motto «Trump First» regiert und sein Land als Spielball für seine Machtspiele missbraucht. Und das in einem Staat, in dem sich 62% der Bevölkerung als Christen bezeichnen. Welche Show läuft hier gerade ab? Und was können wir daraus lernen?

Eigentlich war die US-Bevölkerung nach der ersten Amtszeit von Donald Trump gewarnt, spätestens nach seiner Weigerung, seine Nicht-Wiederwahl zu akzeptieren. Und seine Ankündigungen vor seiner nun gelungenen Wiederwahl hätten eigentlich stutzig machen müssen. Dabei setzt Trump nur das um, was er versprochen hat. Er hat dafür «ausschliesslich Loyalisten um sich geschart, niemand denkt mehr quer oder stellt etwas infrage. Ihr Idol sieht sich selbst von Gott für seine Aufgabe auserwählt. Was soll da noch schiefgehen1

Macht statt Ethik

Der Blick in die Medien zeigt: Da geht aber fast täglich etwas schief. Wer versucht, die politischen Checks und Balances der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative auszutricksen, mag ein guter Spieler sein, er verliert aber früher oder später das Spiel um eine gelebte Demokratie. Und das in einem Land, das mal als Leuchtturm dieser komplizierten, aber menschenfreundlichen Staatsform gegolten hat.

Wer Politik als Befriedigung der eigenen Machtgelüste missbraucht, ist gefährlich. Trumps Wirtschaftspolitik hat laut dem deutsch-amerikanischen Ökonom Rüdiger Bachmann «sadomasochistische Züge»: «Er geniesst die Macht, am Parlament vorbei Zölle erheben zu können und diese Zölle nach persönlichem Gutdünken für bestimmte Firmen und Branchen auch wieder auszusetzen2 .» Und zerstört damit «die moderne, hocharbeitsteilige und international verflochtene Wirtschaft». Die historisch vor allem auch christlich geprägten Menschenrechte gelten als ethische Grundlage der westlichen Welt. Dazu gehört etwa der Schutz des Schwächeren. «Forget it», sagt Trump. Ich bestimme selber, was recht und was unrecht ist, wem geholfen und wer verfolgt oder geschützt werden soll.

«Ihr Idol sieht sich selbst von Gott für seine Aufgabe auserwählt. Was soll da noch schiefgehen?»

Es mag in den USA eine überbordende Bürokratie geben, der eine sorgfältig durchdachte und juristisch korrekt umgesetzte Verschlankungskur guttun würde. Ja, die Demokraten haben mit ihrem Gender-Gugus nach dem Motto «Wer erfindet das nächste Geschlecht?» wohl übertrieben. Auch wer sinnvollerweise von zwei Geschlechtern, Mann und Frau, ausgeht, muss deshalb aber noch lange nicht auf Menschen mit Identitätskrisen losgehen. Laut Thomas Dummermuth (s. Interview unten) war das Genderthema für die Demokraten eigentlich immer ein untergeordnetes Thema, mehr so im Sinn: Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen sich selber sein dürfen. Und: Ja, Abtreibung à gogo geht definitiv nicht. Sie verletzt die Menschenrechte von werdenden Menschen. Vielleicht haben die Demokraten die Bedürfnisse der einfachen Menschen tatsächlich zu wenig ernst genommen. Aber: Genügt das, um einen verfassungsmässig eigentlich gut gegründeten Staat aus den Angeln zu heben?

Es braucht Aufmerksamkeit, seelische Wachheit und geistliche Klarheit

Wir haben dazu den heutigen US-Theologen Thomas Dummermuth befragt. Er ist im Emmental aufgewachsen und ist Pfarrer der Eastridge Presbyterian Church in Lincoln im US-Bundesstaat Nebraska. Seine Leidenschaft gilt dem Gespräch zwischen Kulturen, Konfessionen und Generationen – und dem Versuch, mitten im Umbruch geistlich klar zu bleiben.

Aus unserer europäischen Sicht haben wir den Eindruck, dass Donald Trump derzeit die Demokratie in den USA zerlegt. Wie würdest du die Entwicklungen seit dem 20. Januar aus deiner Wahrnehmung beschreiben?

Vorweg: Ich bin kein Politologe, sondern Theologe, Pfarrer und Seelsorger. Aber ja, «zerlegt» trifft tatsächlich mein eigenes Empfinden. Ich beobachte besonders seit der Wiederwahl Trumps eine zum Teil radikale Infragestellung von Prinzipien, die für Demokratien zentral sind: Gewaltenteilung, Respekt vor unabhängigen Institutionen, ein Mindestmass an Wahrhaftigkeit im politischen Diskurs. Es erschüttert mich, mit welcher Energie die Abrissbirne geschwungen wird. Manchmal erscheint es mir, als würde dieser Staat wie ein marodes Unternehmen übernommen, in Einzelteile zerlegt und weiterverkauft – quasi als Ressource für Spezialinteressen Einzelner.

Dazu kommt die ständige Erzeugung von Krisen – rhetorisch wie real – die zu Erschöpfung führt. Viele Menschen, auch in meinem Umfeld, fühlen sich überfordert, machtlos, abgelenkt. Das erschwert nicht nur politischen Widerstand, sondern trifft uns auch emotional und geistig. Widerstand unter diesen Bedingungen ist nicht nur eine politische, sondern auch eine spirituelle Aufgabe. Es braucht Aufmerksamkeit, seelische Wachheit, geistliche Klarheit.

Für viele war die Wiederwahl Trumps eine Überraschung. War es das auch für dich? Oder müsste man sagen: Die Demokraten haben ihre Niederlage selber verschuldet, weil sie die Anliegen der breiten Bevölkerung zu wenig ernst genommen haben?

Ich war eher ernüchtert als überrascht. Die Dynamiken, die zu Trumps Wiederwahl geführt haben, waren seit Jahren spürbar: Polarisierung, Misstrauen gegen Institutionen, soziale Verunsicherung – nicht zuletzt verstärkt durch die Nachwehen der Pandemie.

Man kann sicher kritisch fragen, ob die Demokraten genügend auf existenzielle Probleme eingegangen sind – etwa Inflation, Abstiegsängste, strukturelle Benachteiligung im ländlichen Raum oder auch die gesellschaftliche Verunsicherung im Zuge zunehmender Migration. Aber das erklärt nicht alles. Entscheidender scheint mir die bewusste Bewirtschaftung von gesellschaftlichen Ressentiments, die durch soziale Medien zusätzlich befeuert wird.

Reale Sorgen wurden nicht gelöst, sondern kulturell umgedeutet: Der gesellschaftliche Mainstream wurde als moralisch verdorben, urban, elitär dargestellt. Daraus entstand ein Kulturkampf-Narrativ: «Wir gegen die anderen.» Die Spaltung wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern aktiv betrieben.

Soziale Medien haben diese Prozesse radikalisiert. Algorithmen begünstigen Empörung, vereinfachen komplexe Realitäten und schaffen Echokammern. Im Ergebnis entsteht eine politische Arena, die eher auf Identität und Affekt reagiert als auf Fakten.

In diesem Sinn sehe ich in der Wiederwahl Trumps keinen Betriebsunfall, sondern den Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen Risses, der weit über Parteipolitik hinausgeht.

Offensichtlich wurde Trump auch von evangelikalen Christen, welche die Bibel ernst nehmen wollen, breit unterstützt. Wie kann es sein, dass sie einem selbstverliebten notorischen Lügner und Verächter der Menschenrechte mit ihren Stimmen zum Durchbruch verholfen haben?

Diese Frage beschäftigt mich sehr. Meiner Meinung nach hat vieles mit dem bereits erwähnten Kulturkampf-Narrativ zu tun. Viele Evangelikale haben in den letzten Jahren miterlebt, wie ihre kulturelle Deutungshoheit schwindet. Das erzeugt Angst, Empörung – und die Sehnsucht nach einem starken Führer.

Begriffe wie «Religionsfreiheit» werden dabei oft als Schlagworte gebraucht – gemeint ist aber häufig nicht die Freiheit aller Religionen, sondern die Verteidigung christlicher Privilegien. Ebenso wird «Lebensschutz» oft verkürzt auf die Abtreibungsfrage, ohne soziale Fragen, Armut oder Waffengewalt mitzudenken.

Trump hat es verstanden, diese Themen politisch zu instrumentalisieren und sich als Bollwerk gegen gesellschaftliche Liberalisierung zu inszenieren. Viele haben das als «Schutz des Glaubens» verstanden – nicht trotz, sondern gerade wegen seines rücksichtslosen Auftretens.

Er präsentiert sich also als Kämpfer für bedrängte Christinnen und Christen. Und gerade darin liegt die bittere Ironie: Seine Trump-Politik schadet vielen davon. Zum Beispiel Geflüchteten, die vor religiöser Verfolgung geflohen sind und als «Schmarotzer» verunglimpft werden. Oder kirchlichen Hilfswerken, die sich für diese Menschen einsetzen und unter Generalverdacht gestellt werden – als wären sie Betrugssysteme oder Verschwendungsapparate. Ein Schlag ins Gesicht all jener, die ihren Glauben durch solidarisches Handeln leben.

Um diese Diskrepanz zu erklären, wird oft auf den Perserkönig Kyros verwiesen: ein «Werkzeug Gottes» trotz unheiligem Lebenswandel. Die Historikerin Kristin Kobes Du Mez hat darüber viel geforscht. In ihrem Buch «Jesus and John Wayne» zeigt sie schlüssig auf, wie sich in evangelikalen Kreisen ein Jesusbild durchgesetzt hat, das an amerikanische Männlichkeitsmythen angelehnt ist: durchsetzungsstark, militärisch, «männlich». Dieses Bild passt erschreckend gut zu Trump.

Ich habe aber noch eine andere Theorie. Ich frage mich, ob die Theologie vieler Evangelikaler Jesus fast ausschliesslich auf seinen erlösenden Sühnetod und damit verbunden den Glauben auf ein rein individuelles Heil reduziert hat. Anders ausgedrückt: Die Lebenspraxis Jesu – seine Feindesliebe, seine Zuwendung zu Ausgegrenzten, seine Kritik an religiösem Machtmissbrauch – tritt in den Hintergrund.

In den USA gibt es auch linksevangelikale Kräfte wie etwa die Sojourners. Warum hört man so wenig von ihnen?

Diese Bewegungen gibt es durchaus – nicht nur die Sojourners, sondern auch Red Letter Christians, Faith in Public Life, The Poor People’s Campaign und viele andere. Sie engagieren sich für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Antirassismus und Friedensethik. Aber sie sind im öffentlichen Diskurs weniger sichtbar.

Das hat mehrere Gründe: Erstens setzen sie nicht auf Empörung, sondern auf Dialog und Gemeinwesenarbeit. Das ist weniger «medientauglich». Zweitens fehlt ihnen oft die mediale Infrastruktur: Sie haben keine eigenen TV-Sender und sind in Mega-Churches oder politischen Thinktanks wenig vertreten. Drittens haben sich viele progressive Christinnen und Christen in den letzten Jahrzehnten aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen – aus Abgrenzung zum politisch missbrauchten Glauben.

Ich finde, es ist an der Zeit, dass auch im deutschsprachigen Raum deutlicher wird: Glaube und gesellschaftliche Verantwortung schliessen einander nicht aus. Im Gegenteil: Sie finden in der Nachfolge Jesu eine gemeinsame Quelle.

Was müsste getan werden, damit Trump gestoppt werden kann?

Zunächst: Es gibt keinen simplen Hebel, keinen einzelnen Ausweg. Der Weg aus der gegenwärtigen Gefahr, dass die Vereinigten Staaten vollends in einen autoritären Modus kippen, ist lang. Um ihn zu gehen, braucht es die ganze Zivilgesellschaft. Dazu gehören gewaltfreie Proteste, die Teilnahme an Town Halls3 , das Gespräch mit Nachbarn und das Kontaktieren von gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten. Demokratie lebt vom Mitmachen – oder sie wird ausgehöhlt.

Gleichzeitig sehe ich die Gefahr, dass der Widerstand, wenn er aus Angst oder Empörung gespeist ist, selbst in einen Modus der Verhärtung kippt. Und dass wir die Fähigkeit verlieren, zuzuhören. Dass wir uns selbstgerecht auf die «richtige Seite» schlagen und damit am Ende genau das reproduzieren, was wir eigentlich bekämpfen wollen.

Gerade deshalb ist der spirituelle Aspekt für mich unverzichtbar. Unsere Aufmerksamkeit ist unser kostbarstes Gut: sie muss gepflegt, geschützt und immer wieder neu ausgerichtet werden. Nicht auf den nächsten Skandal, nicht auf die nächste Panikwelle, sondern auf das, was trägt: Würde. Wahrheit. Mitgefühl.

Resilienz ist keine private Leistung – sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Ich erlebe das ganz konkret in einem kirchlichen Netzwerk hier vor Ort, dem 24 Gemeinden angehören. Jedes Jahr führen wir sogenannte Listening Sessions durch – Gesprächsabende, bei denen gefragt wird: «Was hält dich nachts wach?» Aus diesen Erzählungen entstehen Themen, gemeinsames Engagement, neue Netzwerke. Das mag klein wirken. Aber ich glaube: Veränderung beginnt genau dort. Wenn Menschen sich gegenseitig ernst nehmen, sich organisieren, ihre Aufmerksamkeit bündeln und ihre Kraft teilen.

Trump kann – und muss – politisch gestoppt werden. Aber es braucht mehr als juristische Verfahren oder Wahlstrategien. Es braucht eine Kultur, die sich nicht von Angst und Zynismus bestimmen lässt. Und es braucht eine erneuerte Vorstellungskraft von dem, was möglich ist, wenn Menschen sich nicht im Misstrauen verlieren, sondern füreinander einstehen. Von Gemeinschaften, die einander tragen. Von einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit nicht abstrakt bleibt, sondern im Alltag erfahrbar wird.

Diese Hoffnung ist kein naiver Optimismus. Sie ist eine Entscheidung – gespeist aus Glaube, Erinnerung, Begegnung. Und sie beginnt dort, wo Menschen zusammenkommen, zuhören und sich nicht voneinander trennen lassen.


1. Christof Münger in «Der Bund» vom 26. März

2. «Der Bund», 24. März

3. Die Town Hall basiert auf dem politischen Verständnis der US-Demokratie, wonach (zumindest theoretisch!) Amtsträger nicht ihre eigene Meinung repräsentieren sollen, sondern die der Bürgerinnen und Bürger, die sie vertreten. Insofern spielen die Town Halls (wie auch Briefe und Anrufe an Abgeordnete) eine wichtige Rolle.  Ein «Town Hall Meeting» ist ein ein öffentliches Treffen, bei dem Politikerinnen und Politiker mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen. Ziel ist es, Fragen zu beantworten, Sorgen anzuhören und über aktuelle Themen zu sprechen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Insist.

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Vor rund acht Jahrzehnten gab es einen Bruch in der Menschheitsgeschichte: Wir haben die Fähigkeit erlangt, uns selber auszulöschen. Mit der Entwicklung der Atomkraft haben wir diese Schwelle überschritten. Mittlerweile scheinen wir diese Gefahr weniger ernst zu nehmen als noch zu Zeiten des kalten Krieges.

Zurzeit stehen eher andere Risiken im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit: Katastrophenrisiken statt Auslöschungsrisiken. Der Klimawandel ist ein klares Beispiel für ein Katastrophenrisiko: Er kann enormes Leid und Millionen von Toten bewirken, aber er wird die Menschheit kaum ausrotten.

Auch wenn er viel schlimmer als erwartet ausfallen würde, so könnten sich doch zumindest ein paar Reiche das Überleben sichern. Das wäre eine Ungerechtigkeit historischen Ausmasses, aber es wäre etwas anderes als eine vollkommene Auslöschung. Ein Comeback für die Menschheit wäre in diesem Fall noch möglich.

Lichter aus – ein realistisches Szenario?

Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Lichter ganz ausgehen? In einer kürzlichen Studie1 wurden Menschen befragt, die in der Vergangenheit eine besonders gute Erfolgsbilanz beim Erkennen von zukünftigen Trends bewiesen haben. Sie schätzten die Wahrscheinlichkeit einer Auslöschung der Menschheit bis 2100 auf ein Prozent. In derselben Studie schätzten die Fachleute im Bereich der Grossrisiken diese Wahrscheinlichkeit sogar auf sechs Prozent. Toby Ord hat eines der wichtigsten Bücher2 zu diesem Thema geschrieben, er schätzt das Risiko gar auf rund 17 Prozent. Man könnte vermuten, diese hohe Schätzung könne nur der Panik eines von Verschwörungen geblendeten Wirrkopfs entspringen, aber in Ords Zeilen trifft man eher auf die ernste Sorge eines nüchternen Wissenschafters.

Wie könnte es denn so weit kommen?

Was sind denn plausible Szenarien für ein baldiges Ende der Menschheit? Die Treiber von Auslöschungsrisiken sehen anders aus als die Treiber von «blossen» Katastrophen. Während beispielsweise eine natürlich entstandene Pandemie ein Katastrophenrisiko ist, ist eine künstlich ausgelöste Pandemie, die durch menschlich kreierte Krankheitserreger verursacht wurde, ein viel grösseres Auslöschungsrisiko für die Menschheit. Ein zweites zentrales Auslöschungsrisiko ist der Atomkrieg; dies weniger wegen seiner direkten Auswirkungen, sondern mehr wegen eines darauffolgenden «atomaren Winters». Als ein drittes – und mit Abstand grösstes – Auslöschungsrisiko wird oft die künstliche Intelligenz (KI) angesehen.

Künstliche Intelligenz als grosses Risiko

Es ist nicht auf Anhieb ersichtlich, weshalb KI derart gefährlich sein soll. Andere ethische Probleme der KI sind uns vertrauter: Diskriminierung, Privatsphärenverletzung, Arbeitslosigkeit usw. Demgegenüber werden die Auslöschungsrisiken oft als Science-Fiction-Hype abgetan.

Das scheint mir aus zwei Gründen ein Fehler. Erstens haben die «falschen» Leute Angst vor den Extremszenarien: nämlich einerseits Leute, die sich gut auskennen und andererseits Leute, die etwas zu verlieren haben. In einer kürzlichen Umfrage3 unter Autorinnen und Autoren in den besten wissenschaftlichen Zeitschriften zu KI schätzte über ein Drittel die Gefahr einer Auslöschung der Menschheit (oder eines ähnlich schlimmen Ausgangs) auf mindestens zehn Prozent! Zudem gehören Vertreter der grossen KI-Firmen zu den Warnern4 . Im Klimabereich wäre es unvorstellbar, dass gerade Vertreter der Erdölfirmen prominent auf die Risiken hinweisen. Mit anderen Worten: Existenzielle Ängste aus dieser Ecke sollten uns Sorgen machen. Jedenfalls mehr Sorgen, als wenn sie von unserem schrulligen, technologiefeindlichen Nachbarn kämen.

Zweitens sind die Argumente für Extremrisiken schlicht plausibel. Wer sie mit einem müden Lächeln abtut, hat oft noch nicht richtig verinnerlicht, was es bedeutet, wenn Maschinen tatsächlich alles besser können als wir Menschen. Solche Maschinen gibt es noch nicht. Aber viele machen den Fehler, den heutigen Fähigkeiten der KI mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den gegenwärtigen Trends. Die heutigen Fähigkeiten sind beschränkt, aber die Trends zeigen steil nach oben. Eine enorm fähige KI könnte die Menschheit auslöschen, ohne dass ihr dieses Ziel vorgegeben wurde.

In einem klassischen Beispiel: Wenn man eine KI beauftragt, so viele Büroklammern wie möglich herzustellen, ohne ihr bezüglich der Mittel Grenzen zu setzen, könnte die KI «so viele wie möglich» wörtlich verstehen. Das könnte sie dazu führen, alle Menschen zu töten, damit sie auch ja niemand an ihrer Zielerreichung hindert (und bevor sie alle Menschen tötet, könnte sie zuerst sicherstellen, dass sie nicht abgestellt werden kann). Dieses Beispiel setzt weder voraus, dass jemand die KI mit bösen Absichten missbraucht noch dass die KI in irgendeinem echten Sinn bewusst oder intelligent ist. Das Beispiel ist natürlich extrem holzschnittartig konstruiert. Aber es erfasst den Kern des Problems, denn nicht einmal die Erschaffer der KI verstehen wirklich, was «im Innern» der KI vor sich geht. Und somit könnte es erstaunlich schwierig werden, diesen mächtigen Maschinen die richtigen Ziele und Leitplanken vorzugeben.

Ein Rätsel für die Christenheit

Wäre eine Auslöschung der Menschheit im Jahr 2083 überhaupt ein Problem – mal abgesehen vom Leid, das in den Monaten des Aussterbens über die Welt kommen würde? Wenn Sie als Stiftungsratspräsidentin über 10 Millionen verfügen könnten, würden Sie damit lieber tausend Menschen aus der Armut befreien oder das Auslöschungsrisiko für die Menschheit um 0.01% senken?

Aus säkularer Perspektive mag man bei einem baldigen Ende der Menschheit bedauern, dass damit der grösste Teil aller möglichen Menschen nie geboren werden könnten. Man mag auch bedauern, dass die Menschheit womöglich den besten Teil ihrer Geschichte verpassen würde. Vielleicht wäre uns ja noch eine grosse Zukunft bevorgestanden, in der wir alles Unvollkommene – wie Armut, Trostlosigkeit und Unwissen – durch Gerechtigkeit, Schönheit und Wahrheit ersetzt hätten. Weil so viel auf dem Spiel steht, haben manche Weltverbesserer aufgehört, sich gegen «kleine» Probleme wie die gegenwärtige soziale Ungleichheit einzusetzen und sich stattdessen ganz auf den Kampf gegen die Auslöschung der Menschheit konzentriert.

Aus christlicher Perspektive ist das alles viel weniger klar. Man könnte Jesus mit seiner Feststellung zum Ende der Welt zitieren: «Ihr wisst weder Tag noch Stunde» – und auf eine Arbeitsteilung schliessen: Gott kümmert sich darum, wie lange genau die Menschheit fortbesteht, und wir kümmern uns während dieses Fortbestehens um das Wohlergehen der Menschheit. Unsere Aufgabe wäre es, Leid, Katastrophen und Ungerechtigkeit – nicht aber das Auslöschungsrisiko – zu verringern.

Aber ist das nicht zu einfach? Wir kennen zwar weder den Tag noch die Stunde des Endes dieser Zeiten, aber sollte die neuartige Möglichkeit, das Risiko unseres eigenen Aussterbens zu beeinflussen, nicht auch unsere Prioritäten mitbestimmen5 ? Wenn wir unseren Nächsten nicht töten sollen, dann sollten wir doch sicherlich auch nicht alle unsere Nächsten töten – vor allem nicht mittels Technologien, die man nur aufgrund von Überheblichkeit für kontrollierbar halten kann?

Wenn uns die Bibel den Auftrag gibt, die Erde zu füllen, hätte unsere Generation dann nicht schamvoll versagt, wenn sie diese Erde komplett leeren und somit den Menschen in seiner Gottesebenbildlichkeit von der Erdoberfläche verschwinden lassen würde?

Als die Juden in alttestamentlicher Zeit einem Auslöschungsrisiko ausgesetzt waren, da sagte Mordechai (sinngemäss) zu Esther: Gott wird eine Auslöschung des jüdischen Volks auf jeden Fall verhindern, aber dieses Verhindern sollte durch Esthers Handeln geschehen6 .

Mit anderen Worten: Gott hat den Lauf der Geschichte zwar in der Hand, aber das heisst nicht, dass Menschen wie Esther, die Einflussmöglichkeiten haben, sich wie passive Zuschauer verhalten sollen. Könnte das für uns bedeuten, dass Gott zwar ein vorzeitiges Ende der Menschheit verhindern wird, dieses Verhindern aber auch durch unseren Einsatz geschehen sollte?


1. https://forecastingresearch.org/s/XPT.pdf

2. Toby Ord (2020), The Precipice (London: Bloomsbury)

3. https://aiimpacts.org/wp-content/uploads/2023/04/Thousands_of_AI_authors_on_the_future_of_AI.pdf

4. Siehe z.B.: https://www.safe.ai/statement-on-ai-risk

5. Siehe auch Riedener, Stefan (2022), «Human Extinction from a Thomist Perspective», in Roser, Dominic, Riedener, Stefan und Huppenbauer, Markus, Effective Altruism and Religion: Synergies, Tensions, Dialogue (Baden-Baden: Nomos).

6. Esther 4,14

Dieser Artikel erschien zuerst auf INSIST (Link: 24.2.4 Umweltethik: Offene Fragen zum Ende der Menschheit – Forum – INSIST CONSULTING)

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Seit dem ChristNet-Forum im Januar 2025 ist Demokratie zum Fokusthema des Vereins geworden. An der Generalversammlung vom 8. März 2025 griff ChristNet dieses Thema im Workshop «Demokratie – wie können wir sie stärken?» nochmals auf.

Seit den US-Wahlen im November 2024 bewegt das Thema Demokratie den Verein ChristNet stark. Während beim ChristNet-Forum vom 18. Januar 2025 noch die Frage «Demokratie – gefährdet oder gefährlich?» im Raum stand, lag der Fokus an der Generalversammlung anfangs März 2025 beim individuellen Einsatz für die Stärkung der Demokratie in der Schweiz. Während eines kurzen Workshops setzten sich die Teilnehmenden mit fünf Fragen auseinander. Diese Fragen und die Antworten der Teilnehmenden möchten wir im Folgenden mit dir teilen.

Was können wir persönlich zur Stärkung der Demokratie beitragen?

Politische Rechte, wie z.B. die Möglichkeit zum Abstimmen, sollen aus Sicht der Teilnehmenden wahrgenommen nehmen. Um sich eine politische Meinung bilden zu können, braucht es nebst Informationen auch ein Grundverständnis von politischen Prozessen und Strukturen. Ist diese politische Bildung vorhanden, kann differenziert über bestimmte Themen nachgedacht und diktatorische Tendenzen innerhalb der Politik erkannt sowie aufgezeigt werden. Eine Person schlug das Kennenlernen von Politikern als Strategie vor, um Vertrauen in die Politik zu gewinnen. Das Gebet für Amtsträger betrachteten dieTeilnehmenden als sehr wichtig für die Stärkung der Demokratie. Jemand nannte zudem das Abschliessen eines Medienabonnements, um sachliche Berichterstattungen zu unterstützen. Politische Themen polarisieren stark, weshalb die Teilnehmenden es als wichtig erachteten, dass Christinnen und Christen die Rolle von Vermittlern einnehmen, anstatt die Polarisierung weiter zu verstärken.

Was macht mir Angst in Bezug auf die weltweite Schwächung der Demokratie?

Besonders besorgniserregend empfinden einige Teilnehmende die Passivität der Mehrheit der Bevölkerungvor allem der jüngeren Generation in Bezug auf die globale Schwächung der Demokratie. Sie beobachten, dass christliche Werte zusehends an den Rand gedrängt werden und die sozial Schwachen unter die Räder geraten bzw. eine Entwertung erleben. Zwei Teilnehmende sind der Meinung, dass die Schwächung der Demokratie auf globaler Ebene zu einer erhöhten Kriegsgefahr führt.

Was macht mir Mut in Bezug auf die Demokratie?

Für die Teilnehmenden gehörten gewaltloser Widerstand und die Stärke der christlichen Werte zu den Ermutigungen angesichts der weltweiten Schwächung der Demokratie. Als konkrete Beispiele nannten siepositive Entwicklungen in Ländern wie Südkorea, Senegal und Serbien, sowie die Sojourners, die in den USA mutig ihre Stimme gegen Donald Trumps Anhänger erheben.

Was möchte ich an der direkten Demokratie in der Schweiz nicht missen?

Die direkte Demokratie der Schweiz hat aus Sicht der Teilnehmenden sehr viele Vorteile. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung haben das Stimmrecht, Politiker sind Teil des Volkes und in der Kommunalpolitik kann viel bewegt werden. Die Teilnehmenden schätzen die Möglichkeit zur Meinungsbildung, die Offenlegung der Abstimmungsfinanzierung, die Vielfalt der Abstimmungsthemen sowie das Referendumsrecht und Petitionen sehr. Sie betrachten die direkte Demokratie in der Schweiz als klar antidiktatorisch.

Wie setze ich meine politische Stimme am liebsten ein?

Für die Teilnehmenden ist die Mitgliedschaft bei ChristNet eine wertvolle Möglichkeit, ihre politische Stimme aktiv für Nächstenliebe in Politik und Gesellschaft einzusetzen. Während ein Mitglied gerne Leserbriefe schreibt, publiziert ein anderes Mitglied Beiträge im Forum integriertes Christsein. Die Beteiligung an Gemeindeabstimmungen- und Gemeindeversammlungen sowie nationalen Abstimmungen und Wahlen erwähnten die Teilnehmenden ebenfalls als wichtiges Mittel, die politischen Stimmeeinzusetzen. Wer sich konkret in die Politik einbringen möchte, könnte zum Beispiel einer Partei beitreten, für den Gemeinderat kandidieren oder Unterschriften sammeln. Hierbei empfinden die Teilnehmenden die Bereitschaft zur Diskussion und das Aufarbeiten von Themen wie Nächstenliebe und sozialer Gerechtigkeit als wichtig. Als Christinnen und Christen dürfen wir uns auch auf den Heiligen Geist verlassen, der uns die richtigen Worte schenkt und den Willen Gottes offenbart.

Einsatz für christliche Werte

Der Workshop zeigte auf, dass Christinnen und Christen im Angesicht einer weltweiten Schwächung der Demokratie eine zentrale Rolle in der Bewahrung christlicher Werte einnehmen dürfen. Lasst uns mutig unsere politische Stimme für christliche Werte in der Schweizer Politik und Gesellschaft einsetzen!

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Das Bundesgericht hat entschieden, dass eine Krankschreibung bei Konflikten am Arbeitsplatz nicht unbedingt vor Kündigung schützt. Wie wenn ein Konflikt auf Grund einer unmöglichen Arbeitssituation nicht zu einem Zusammenbruch führen könnte!

Im Zusammenhang mit dem Bundesgerichtsurteil fällt auf, dass Burnout in der Schweiz im Gegensatz zu einigen Staaten der EU nicht als Arbeitskrankheit anerkannt ist und der Arbeitgeber dafür nicht haftbar gemacht werden kann. Dies öffnet der Ausbeutung Tür und Tor. Im Zeitalter, in dem Elon Musk in den USA die grenzenlose Arbeit ausruft, sind Grenzen zum Schutz der Angestellten dringender als je zuvor.

In einem Aufsehen erregenden Fall hat das Bundesgericht1 im Jahr 2024 entschieden, dass die übliche Sperrfrist für eine Kündigung bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit (z.B. in Folge von Mobbing oder Konflikten) nicht gelten muss.

Konflikte ernst nehmen

Ein solcher Entscheid geht an der Realität vorbei: Konflikte bei der Arbeit haben immer auch mit Dysfunktionalitäten am Arbeitsplatz zu tun. Wenn ein Arbeitgeber sich diesen nicht annimmt, hat er seine Fürsorgepflicht nicht wahrgenommen.
Konflikte müssen frühzeitig angegangen werden, bevor sie ausarten. Regelmässige Umfragen zur Arbeitszufriedenheit und Klärung von Bedürfnissen der Mitarbeitenden, um sich in der Arbeit entfalten zu können, sind in allen Unternehmen unumgänglich. Leider werden in vielen Unternehmen – traurigerweise sind Nichtregierungsorganisationen diesbezüglich nicht besser – Unzufriedenheiten noch immer als Stänkerei angesehen, statt als Gelegenheit, durch die Verbesserung der Bedingungen oder der Entfaltungsmöglichkeiten auch die Produktivität zu erhöhen.
Die meisten Angestellten in der Schweiz wollen gute Arbeit leisten. Mangelnde Wertschätzung und Mitwirkungsmöglichkeiten untergraben aber die Motivation. Wenn dann Direktionen darauf hin noch autoritär reagieren und keine psychologische Sicherheit zum Ausdruck von Befindlichkeiten geben können, dann ist die Eskalation unausweichlich.
Menschen mit grosser Sensibilität brechen als erste zusammen. Eine darauffolgende Krankschreibung wird dann oft als «Beweis» der Stänkerei interpretiert, eine Entlassung als unausweichlich angesehen. Dabei handelt es sich hier meist um ein Burnout in Folge einer emotionalen Überlastung. Der Bundesgerichtsentscheid ist also falsch und erleichtert es Arbeitgebern, Konflikte nicht richtig anzugehen, da sie sich mit Entlassungen lösen lassen. So aber kommen wir nicht weiter.

Burnout – Die Verursacher zur Verantwortung ziehen

In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Burnout in der Schweiz im Gegensatz zu einigen Staaten der EU nicht als Berufskrankheit anerkannt2 ist und der Arbeitgeber dafür nicht haftbar gemacht werden kann. Bei gehäuften Burnouts in einem Unternehmen werden die Prämiensteigerungen der Krankentaggeldversicherungen hälftig den Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgebürdet, wie wenn die Arbeitnehmenden dafür mitverantwortlich wären.

Dabei zeigt die steigende Anzahl Burnouts, dass die Arbeitswelt grundsätzlich aus den Fugen geraten ist: Zwischen 2012 und 2020 sind die Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Ursachen um 70 Prozent gestiegen. Der Job-Stress-Index3 zeigt bis 2020 eine stetige Steigerung der Anzahl Menschen, die im kritischen Bereich arbeiten. Rund 30 Prozent der Menschen sind heute emotional eher oder sehr erschöpft. Auch die ständigen Umstrukturierungen und Veränderungen tragen dazu bei.
Die Verdichtung und Intensivierung der Arbeit in den letzten Jahrzehnten, sowie die Aufweichung der gesetzlichen Schranken für die maximale Arbeitszeit4 haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Es ist also Zeit, dass die Verantwortung für Burnouts besser wahrgenommen wird. Denn ein Burnout heisst nicht einfach, dass man endlich auf der faulen Haut liegen darf. Für zahlreiche Betroffene bedeutet dies ein schwerer Einschnitt in der Laufbahn; etliche finden nie wieder zu einer guten Gesundheit und werden aus der Arbeitswelt ausgeschlossen. Für einige Familien bedeutet dies den Abstieg in die Armut.

Ohne Verantwortung droht die Ausbeutung

Solange sich die Verursacher aus der Verantwortung ziehen können, wird sich an diesem Trend nichts ändern. Die Kosten für Burnouts werden so auf die Sozialhilfe und die IV verschoben. Der Druck der Finanzmärkte zu noch höherer Kapitalrentabilität und der Druck der sinkenden Budgets für soziale Aufgaben werden die Probleme noch verstärken. Ohne Schranken und ohne die Klärung der Verantwortlichkeiten für Schäden stehen Tür und Tor offen für jegliche Ausbeutung.
Grenzen zu setzen und Arbeitgeber zur Verantwortung zu ziehen, ist dringender denn je. Elon Musk, der momentan wohl mächtigste Mann der Welt, ist daran, die USA umzugestalten. Er treibt, mit Unterstützung von hiesigen Parteien seiner Gunst, auch in Europa sein Unwesen. Bei der Übernahme von Twitter hat er die grenzenlose Arbeit5 ausgerufen, streikende Angestellte in seinen Werken werden kurzerhand entlassen. Mit seinen riesigen Spenden an Donald Trump, die Republikanische Partei und deren Parlamentarier hat er die Empfänger von sich abhängig gemacht und diktiert ihnen nun seine eigene Politik, wie diverse Beispiele6 zeigen.
Damit kann er auch seine Sicht der Arbeitswelt durchsetzen. Hier ist es nicht mehr unangebracht, von Ausbeutung zu sprechen. Das Wohl der Arbeitnehmenden ist nicht seine Priorität, wie seine Weigerung, die Tesla-Produktion während der Covid-Pandemie zu unterbrechen, gezeigt hat: Darauf hin sind hunderte Angestellte erkrankt und haben das Virus weiterverbreitet.
Diese Entwicklungen erhöhen den Druck auf die Unternehmen in anderen Teilen der Welt, die Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls auf Kosten der Arbeitnehmenden aufrecht zu erhalten. Es ist also höchste Zeit, Schranken gesetzlich zu fixieren und gerichtlich durchzusetzen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf INSIST.

1. https://www.beobachter.ch/magazin/gesetze-recht/auch-bei-krankschreibung-droht-nun-kundigung-719865?srsltid=AfmBOordYr64rRRcZD4ag4Ks8xvP6HvQ-aiDgJus1fIll2yE65bFBlxa
2. Postulat
3. https://gesundheitsfoerderung.ch/sites/default/files/remote-files/Faktenblatt_072_GFCH_2022-08_-_Job-Stress-Index_2022.pdf
4. siehe auch: https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/24-3-5-arbeit-muessen-wir-arbeiten-bis-zur-erschoepfung-oder-brauchen-wir-mehr-raum-zum-leben.html
5. https://www.theverge.com/23551060/elon-musk-twitter-takeover-layoffs-workplace-salute-emoji
6. https://www.youtube.com/watch?v=79KDKWEOJ1s

Foto von Mykyta Kravčenko auf Unsplash

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Wenn wir uns in den nächsten vier Jahren nützlich machen wollen, müssen wir der Versuchung widerstehen, in Angst, Isolation, Erschöpfung und ständiger Orientierungslosigkeit zu verharren. Als ich den Aufstieg des Rechtspopulismus weltweit wahrnahm, begann ich, Szenarien zu planen und darüber zu schreiben, was passieren könnte, wenn Donald Trump gewinnt.

Ich spielte Strategien durch, wie die Menschen sinnvoll reagieren könnten. Doch als Trump gewann, war ich immer noch tief schockiert und traurig. In den Tagen danach wandte ich mich an meine Gemeinschaft, um zu versuchen, die Lage einzuschätzen und wieder Boden unter die Füsse zu bekommen.

Es ist schwierig, den Boden unter den Füssen zu behalten, wenn die Zukunft unbekannt und voller Ängste ist. Trump hat angedeutet, was für ein Präsident er sein wird: rachsüchtig, unkontrolliert und unbelastet von den Normen der Vergangenheit und den geltenden Gesetzen. Wenn du wie ich sind, sind du bereits müde. Die Aussicht auf noch mehr Drama ist entmutigend.

Als Trainer für Gewaltfreiheit, die mit sozialen Bewegungen auf der ganzen Welt zusammenarbeitet, habe ich das Glück, mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, die unter autokratischen Regimen leben, um widerstandsfähige Aktivistengruppen aufzubauen. Meine Kollegen erinnern mich immer wieder daran, dass gute Psychologie guten sozialen Wandel bedeutet. Wenn wir in einer Welt unter Trump von Nutzen sein wollen, müssen wir auf unsere innere Verfassung achten, damit wir die Ziele der Autokraten – Angst, Isolation, Erschöpfung und ständige Orientierungslosigkeit – nicht unterstützen.

In diesem Sinne biete ich einige Möglichkeiten an, um uns für die kommenden Zeiten zu erden.

1. Vertraue dir selbst

Trump kommt in einer Zeit des grossen gesellschaftlichen Misstrauens: Das Misstrauen gegenüber den Medien, medizinischen Fachleuten, Experten, Politikern, Gemeinschaftseinrichtungen und Mitgliedergruppen ist gewachsen. Es gibt Risse im Freundes- und Familienkreis. Sogar unser Vertrauen in vorhersehbares Wetter ist geschwunden. Misstrauen schürt die Flamme der Autokratie, denn es macht es leichter, Menschen zu spalten.

Der Aufbau von Vertrauen beginnt damit, dass man seinen eigenen Augen und seinem Bauchgefühl traut. Das bedeutet, vertrauenswürdig zu sein – nicht nur mit Informationen, sondern auch mit Gefühlen. Wenn du müde bist, ruhe dich aus. Wenn du Angst hast, schliesse Frieden mit deinen Ängsten. Wenn du aufhören willst, zwanghaft auf dein Handy zu schauen, tu’ es. Wenn du diesen Artikel jetzt nicht lesen willst und lieber einen schönen Spaziergang machen möchtest, tu’ es. Beginne damit, deiner inneren Stimme zu vertrauen. Vertrauen in sich selbst ist die Grundlage für ein gesundes Bewegungsleben. Auf FindingSteadyGround.com habe ich einige Ressourcen zusammengestellt, die du vielleicht hilfreich findest.

2. Finde andere, denen du vertraust

In einer destabilisierten Gesellschaft brauchst du Menschen, die dir Halt geben. Hannah Arendt, Autorin von «The Origins of Totalitarianism», verwendet das Wort Verlassenheit – oft mit Einsamkeit übersetzt – um eine Art soziale Isolation des Geistes zu beschreiben. Die ständigen Angriffe auf die sozialen Systeme führen dazu, dass wir uns nicht mehr aneinander anlehnen, sondern ideologisch einfache Antworten suchen, die die Isolation verstärken.

Im Chile der 1970er und 80er Jahre war die Diktatur bestrebt, die Menschen in so winzigen Knotenpunkten des Vertrauens zu halten, dass jeder eine Insel für sich war. Auf Partys stellten sich die Leute in der Regel nicht mit Namen vor, aus Angst, zu sehr involviert zu werden. Furcht erzeugt Distanz. Wir müssen diese Distanz bewusst überwinden.

Finde Menschen, mit denen du regelmässig in Kontakt treten kannst. Nutze dieses Vertrauen, um dein eigenes Denken zu erforschen und euch gegenseitig zu unterstützen, damit du auf dem Boden der Tatsachen bleibst. In den letzten Monaten habe ich regelmässig eine Gruppe bei mir zu Hause eingeladen, um zu erkunden, was in diesen Zeiten los ist. Unsere Gruppe denkt unterschiedlich, investiert aber in das Vertrauen. Wir bewegen uns, weinen, singen, lachen, sitzen in der Stille und denken zusammen. Wir alle werden von aktiv organisierten Knotenpunkten profitieren, die uns helfen, uns zu stabilisieren.

3. Gib der Trauer Raum

Menschlich ist, um einen Verlust zu trauern. Wir Menschen sind auch gut darin, uns abzuschotten, zu rationalisieren, zu intellektualisieren und zu ignorieren – der Schaden, den dies unserem Körper und unserer Psyche zufügt, ist gut dokumentiert. Aber die Unfähigkeit zu trauern ist ein strategischer Fehler. Nach dem Sieg von Trump im Jahr 2016 haben wir Kollegen gesehen, die nie getrauert haben. Sie standen weiterhin unter Schock. Jahrelang sagten sie immer wieder: «Ich kann nicht glauben, dass er das tut.»

Als Trump das erste Mal gewann, blieb ich mit einer Kollegin bis 4 Uhr morgens auf, um in einer tränenreichen Nacht die Dinge zu benennen, die wir verloren hatten. Das half uns, die Traurigkeit, die Wut, die Betäubung, den Schock, die Verwirrung und die Angst in uns zu finden. Wir trauerten. Wir weinten. Wir hielten uns gegenseitig. Wir haben geatmet. Wir tauchten wieder ein, um zu benennen, was wir verloren hatten und was wir wahrscheinlich noch verlieren würden. Es ging nicht darum, Strategien zu entwickeln oder zu planen. Letztendlich half uns das, daran zu glauben – so dass wir nicht jahrelang wie benommen sagten: «Ich kann nicht glauben, dass das in diesem Land passiert.» Glauben Du es. Glauben Du es jetzt. Trauer ist ein Weg zur Akzeptanz.

4. Lass das los, was du nicht ändern kannst

An der Wand ihres Schlafzimmers hatte meine Mutter eine Kopie des Gelassenheitsgebets: «Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.» Der Theologe Reinhold Niebuhr schrieb es während des Aufstiegs von Nazi-Deutschland.

Trump hat verkündet, dass sein erster Tag alles beinhalten wird, von der Begnadigung der Aufständischen vom 6. Januar über die Umwidmung von Geldern für den Bau der Mauer bis hin zum Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und der Entlassung von mehr als 50’000 Regierungsangestellten, um sie durch loyale Mitarbeiter zu ersetzen. Es ist zweifelhaft, dass der zweite Tag viel ruhiger sein wird. Inmitten dieses Chaos’ wird es schwer zu akzeptieren sein, dass wir nicht alles schaffen können.

Ein Kollege in der Türkei sagte mir, dass jeden Tag etwas Schlimmes passiert, und wenn er auf alles reagieren würde, hätte er keine Zeit mehr zum Essen. Ein anderes Mal sah eine ältere Person, wie ich versuchte, alles auf einmal zu tun, und nahm mich zur Seite. «Das ist keine gesunde Strategie für das ganze Leben», sagte sie. Sie war in Deutschland von Holocaust-Überlebenden aufgezogen worden, die ihr sagten: «Nie wieder.» Sie hatte das Gefühl, jedes Unrecht verhindern zu müssen. Das quälte sie und trug zu mehreren längeren Krankheiten bei.

Ich habe eine Übung fürs Tagebuchschreiben entwickelt. Darin werde ich gefragt, für welche Themen ich mich in den kommenden Jahren «voll und ganz einsetzen, viel tun, wenig tun oder – obwohl sie mir am Herzen liegen – gar nichts tun würde». Die letzte Frage kann sich für viele von uns wie eine Folter anfühlen, aber der Wunsch, alles zu tun, führt zu einer schlechten Strategie.

5. Finde deinen Weg

Letzten Frühling habe ich das Buch «What Will You Do if Trump Wins» geschrieben, ein Buch im Stil eines Selbstfindungsabenteuers. Es werden sich verschiedene Wege des Widerstands abzeichnen, und es wird viele Möglichkeiten geben, sich der Sache anzuschliessen. Vielleicht fühlst du dich von einigen Wegen mehr angezogen als von anderen. Vielleicht ist dein Weg im Moment noch nicht klar. Das ist in Ordnung. Im Folgenden sind nur einige Beispiele aufgeführt. Weitere findest du unter WhatIfTrumpWins.org.

Schutz anbieten. Menschen bieten anderen Schutz an, vor allem solchen, die bedroht sind. Das könnte bedeuten, dass wir uns ausserhalb der bestehenden Systeme für die Gesundheitsversorgung engagieren und uns gegenseitige Hilfe organisieren oder Ressourcen Gemeinschaften zukommen lassen, die ins Visier geraten sind.

Zivilgesellschaftliche Institutionen verteidigen. Diese Gruppe mag sich bewusst sein oder auch nicht, dass die derzeitigen Institutionen nicht allen von uns dienen, aber sie sind sich einig, dass Trump sie zerstören will, damit er mehr Kontrolle über unser Leben ausüben kann. Die leitenden Personen in diesen Institutionen wissen, dass eine Präsidentschaft von Trump für diese eine grosse Bedrohung darstellt. Diese Insider brauchen Unterstützung von aussen, z. B. Mitgefühl dafür, dass einige unserer besten Verbündeten drinnen sind und stillen Widerstand leisten. Feiere Menschen, die gefeuert werden, weil sie das Richtige tun, und biete ihnen dann praktische Hilfe für die nächsten Schritte im Leben an.

Unterbrechen und nicht gehorchen. Um während des Zweiten Weltkriegs eine Kultur des Widerstands zu schaffen, trugen die Menschen in Norwegen harmlose Büroklammern als Zeichen dafür, dass sie nicht gehorchen würden. In Serbien begannen die Proteste gegen den Diktator mit Studentenstreiks, bevor sie zu Streiks von Rentnern und schliesslich zu dem bahnbrechenden Streik der Bergarbeiter eskalierten. Letztlich geht es darum, den Weg für eine massenhafte Verweigerung der Zusammenarbeit zu ebnen: Steuerverweigerung, landesweite Streiks, Arbeitsniederlegungen und andere gewaltfreie Taktiken des massenhaften Ungehorsams sind die wirksamsten Strategien, um autoritäre Kräfte zu verdrängen.

Alternativen aufbauen. Wir können nicht nur reagieren. Wir brauchen eine Vision, um Alternativen aufzubauen, die demokratischer, liebevoller und freundlicher sind. Dies könnte Erdungs- und Heilungsarbeit, reichhaltige Kulturarbeit, andere Formen des Nahrungsmittelanbaus und der Kinderbetreuung, partizipative Haushaltsführung oder die Einberufung von Versammlungen umfassen, um eine mehrheitsfähige Alternative zu dem Schlamassel unseres aktuellen Wahlsystems mit den Wahlmännern aufzubauen.

6. Gehorche nicht im Vornherein; zensiere dich nicht selbst

Wenn uns die Autokraten eine wertvolle Lektion erteilen, dann ist es diese: Politischen Raum, den man nicht nutzt, verliert man. Dies gilt für alle Ebenen der Gesellschaft – für Anwälte, die gemeinnützige Organisationen beraten, für Führungskräfte, die um ihre Finanzierungsbasis besorgt sind, und für Leute, die Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Damit rate ich dir nicht, dich keinesfalls selbst zu schützen. Du kannst selbst entscheiden, wann du deine Meinung äusserst. Aber wir müssen die Gefahr bekämpfen, zu früh aufzugeben. In Timothy Snyders hilfreichem Buch und seiner Videoreihe «On Tyranny» nennt er das Abtreten von Macht als erstes Problem: «Der grösste Teil der Macht des Autoritarismus wird freiwillig abgegeben. … Der Einzelne denkt im Voraus darüber nach, was eine repressivere Regierung wollen wird, und bietet sich dann ungefragt an. Ein Bürger, der sich auf diese Weise anpasst, zeigt der Macht, welche Grenzen sie überschreiten kann.»

Einfach ausgedrückt: Nutze den politischen Raum und die Stimme, die du hast.

7. Richte deine politische Landkarte neu aus

Vor ein paar Monaten sass ich in einem Raum mit pensionierten Generälen, Republikanern wie Michael Steele, ehemaligen Gouverneuren und Kongressabgeordneten. Wir planten Szenarien, wie wir Trumps Missbrauch des Insurrection Act zur Bekämpfung ziviler Demonstranten verhindern könnten. Für einen engagierten Antikriegsaktivisten beschreibt der Ausdruck «seltsame Bettgenossen» nicht annähernd die bizarre Erfahrung, die ich machte.

Eine Trump-Präsidentschaft verändert Ausrichtungen und Möglichkeiten. Es kommt darauf an, wie wir uns positionieren: Sind wir nur daran interessiert, ideologische Reinheit zu bewahren und zu unserem eigenen Chor zu predigen? Selbst wenn Du sich nicht engagieren wollen, müssen wir alle denjenigen Raum geben, die mit einer neuen Sprache experimentieren, um andere anzusprechen, die unsere Weltanschauung nicht teilen.

Einfühlungsvermögen wird hilfreich sein: Am Ende dieses Planungstages sah ich viel Schmerz bei Menschen mit grosser Macht, die eine Art Niederlage eingestehen mussten. Die Generäle sagten: «Das Militär kann Trump nicht davon abhalten, diese Befehle zu erteilen.» Die Politiker sagten: «Der Kongress kann es nicht verhindern.» Die Anwälte sagten: «Wir können es nicht verhindern.» Ich empfand Mitgefühl, das mich überraschte. Nur die linken Aktivisten sagten: «Wir haben einen Ansatz der massenhaften Nichtkooperation, der dies stoppen kann. Aber wir brauchen Ihre Hilfe.» Ich bin mir nicht sicher, ob diese projizierte Zuversicht gut ankam. Aber wenn wir diesen Ansatz umsetzen wollen (und ich bin mir keineswegs sicher, dass wir das können), müssen wir pragmatisch mit der Macht umgehen.

8. Schätze seine Macht realistisch ein

Die psychologische Erschöpfung und Verzweiflung sind gross. Wir werden Trump nicht davon überzeugen, keine Normen und Gesetze zu brechen, die ihm im Weg stehen. Märsche und symbolische Proteste werden ihn nicht umstimmen. Wir müssen erkennen, dass seine Macht instabil ist, wie ein auf dem Kopf stehendes Dreieck. Ohne Unterstützung kippt sie um. Die Macht stützt sich auf Säulen, die sie aufrecht halten. Der Stratege der Gewaltlosigkeit «Gene Sharp» beschrieb diese Säulen wie folgt:

„Allein können Herrscher keine Steuern eintreiben, repressive Gesetze und Vorschriften durchsetzen, Züge pünktlich fahren lassen, Staatshaushalte aufstellen, den Verkehr leiten, Häfen verwalten, Geld drucken, Strassen reparieren, die Märkte mit Lebensmitteln versorgen, Stahl herstellen, Raketen bauen, die Polizei und die Armee ausbilden, Briefmarken herausgeben oder auch nur eine Kuh melken. … Wenn die Menschen diese Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung stellen würden, könnte der Herrscher nicht mehr regieren.»

Die Beseitigung eines Stützpfeilers kann zu grossen, lebensrettenden Zugeständnissen führen. Die Beseitigung vieler Säulen wird zu einem systemweiten Wandel führen. Der katholische Aktivist Dick Taylor beschrieb, wie er und eine kleine Gruppe die Aussenpolitik der USA veränderten, indem sie Waffenlieferungen zur Unterstützung des pakistanischen Diktators Yahya Khan blockierten. Sie schickten wiederholt Kanus aus, um Militärlieferungen zu blockieren, die die Häfen der Ostküste verliessen, bis die «International Longshoremen’s Association» überzeugt werden konnte, sich zu weigern, sie zu verladen. Dies brach der nationalen Politik das Genick.

9. Blicke der Angst ins Gesicht

OTPOR, eine serbische Studentenorganisation, reagierte sarkastisch auf die regelmässigen Schläge der Polizei und scherzte: «Es tut nur weh, wenn man Angst hat.» Ihre Haltung war nicht leichtsinnig – sie war taktisch. Sie weigerten sich, Angst zu entwickeln. Als an einem einzigen Tag Hunderte von Menschen verprügelt wurden, war ihre Reaktion: Diese Unterdrückung wird den Widerstand nur noch verstärken. Beim Umgang mit der Angst geht es nicht darum, sie zu unterdrücken – es geht darum, sie neu zu lenken.

Der Aktivist und Intellektuelle Hardy Merriman veröffentlichte eine Studie über politische Gewalt, die mich überraschte: Physische politische Gewalt ist in den USA nach wie vor relativ selten, Gewaltandrohungen nehmen jedoch zu. CNN berichtete: «Politisch motivierte Drohungen gegen Amtsträger haben während Trumps Präsidentschaft um 178 Prozent zugenommen», vor allem von der Rechten. Er stellte fest, dass die Einschüchterung eine Schlüsselkomponente politischer Gewalt ist. Wir können uns in eine Kakophonie des «Das ist nicht fair» zurückziehen, was die Angst vor Unterdrückung schürt. Oder wir können uns ein Beispiel an dem grossen Bewegungsstrategen Bayard Rustin nehmen: Während des Busboykotts in den 1950er Jahren wurden schwarze Bürgerrechtsführer von der Regierung in Montgomery, Alabama, ins Visier genommen. Einige von ihnen wie Martin Luther King Jr. tauchten damals unter, um sich vor einer Verhaftung zu schützen. Andere taten auf Initiative von Rustin das Gegenteil: Sie gingen zum Polizeiposten und verlangten, verhaftet zu werden, da sie Anführer der Bürgerrechtsbewegung seien. Die Betroffenen hielten ihre Verhaftungspapiere inmitten einer jubelnden Menge hoch in die Luft und machten die Unterdrückung auf positive Art offensichtlich. Aus Angst wurde Tapferkeit.

10. Stelle dir eine positive Zukunft vor

Wir alle haben uns ausgemalt, wie schlimm es werden könnte. Wir würden uns selbst einen Gefallen tun, wenn wir uns eine positive Zukunft vorstellen würden. Wie die Schriftstellerin Walidah Imarisha sagt: «Das Ziel der visionären Fiktion ist es, die Welt zu verändern». Wir könnten eine gerechte Empörung hervorrufen, die zu einer massenhaften Nichtkooperation führt, die unsere Erwartungen weit übersteigt. Glaubensgemeinschaften könnten eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, moralisch aufgeladene Streiks, Steuerverweigerung und die Weigerung, ungerechte Befehle zu befolgen, anzuführen. Aufgedeckte politische Schwächen könnten viele innerhalb von Trumps Organisation schnell gegen ihn aufbringen. Das scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Aber die Möglichkeiten bleiben.

Wenn ich mich darin übe, in die Zukunft zu denken, habe ich Hoffnung und ein gewisses strategisches Gespür. An den Tagen, an denen ich mir keine guten politischen Möglichkeiten vorstellen kann, zoome ich auf die Lebensspanne von Bäumen und Felsen, um mich daran zu erinnern, dass nichts ewig währt. Die ganze Zukunft ist ungewiss. Aber eine hoffnungsvollere Zukunft ist wahrscheinlicher, wenn wir weiterhin an kreative Lösungen arbeiten.

Dieser Artikel wurde mit Genehmigung von wagingnonviolence.org in der verkürzten Form auf der Website der Sojourners übernommen, auf Deutsch übersetzt und leicht bearbeitet.

Lesezeit / Temps de lecture ~ 7 min

Verunsicherung prägt unsere Zeit: Krisen, Unwägbarkeiten und Überforderung lassen uns oft ratlos zurück. Doch schon die biblischen Propheten mahnten, solche Momente als Aufruf zum Umdenken und Vertrauen auf Gottes Heilshandeln zu nutzen. Denn der Glaube bietet Halt und eine Perspektive, die über das Zeitliche und Sichtbare hinausgeht.

«Sind wir sicher?» So titelt der «Spiegel» seine Ausgabe 49/2024 auf knallrotem Untergrund zum 2. Advent.

Ja, die Verunsicherung in letzter Zeit liess den Zürcher Tagesanzeiger (TA 19.11.2024) die Fachpsychologin Sabina Pedroli fragen: «Was kann man tun, wenn man die Weltlage nicht mehr aushält?» Und sie antwortet: «Das Gefühl globaler Unsicherheit und Ungewissheit ist eine Folge nicht beeinflussbarer Stressoren. Unser Gehirn ist aber nicht dafür geschaffen, das ganze Leid dieser Welt in Echtzeit wahrzunehmen und zu verarbeiten.»

Wir stecken offensichtlich in einem unauflösbaren Dilemma fest: Wir können uns nicht mehr gegen diese Verunsicherung versichern. Uns, die wir gegen alle möglichen Schadensfälle versichert sind, verunsichert das zutiefst.

Es geschieht nichts Neues unter der Sonne (Prediger 1,9-10)

Seit Beginn der Menschheitsgeschichte waren die Lebensbedingungen auf unserer Erde «jenseits von Eden» nie sicher. Bedrohungen und Gefahren durch Natur und Mensch erfahren alle Völker und Kulturen bis heute. Quelle der Verunsicherung und Angst ist die Fragilität und Vergänglichkeit allen Lebens. Die gesamte Kreatur stöhnt und ächzt unter diesem Verdikt. Wir Menschen nehmen das als einzige Wesen bewusst wahr. Wir leiden mit Leib, Seele und Geist an dem Gefühl, Schicksal spielenden Mächten und Gewalten unberechenbar ausgeliefert zu sein. Wir sind verunsichert, weil es kein Denksystem, kein Naturgesetz, keine Gesetzmässigkeit und keine Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt, an denen sich ablesen liesse, wen es wann und wo und wie trifft.

Diese Unberechenbarkeit und Zufälligkeit, ja dieser Kontrollverlust machen oft ratlos. Wenn ein Unfall, der Tod oder sonst ein Schicksal in junge Familien einschlägt, verstört das zutiefst. Warum sterben wir eigentlich nicht altersgerecht schön der Reihe nach?

Keine Antwort, dafür bleierne Unsicherheit. Gegen viele Risiken können wir uns versichern, um den Fall ins Bodenlose wenigstens materiell abzufangen. Aber die Gefühle der Unsicherheit, Verlustangst und Zukunftssorge – sie bleiben.

Die nachmoderne Verunsicherung – doch etwas Neues?

Aktuell steigert sich unsere verunsicherte, verstörte und ängstlich sich sorgende Gesellschaft immer mehr in den Modus der Empörung und Aggression hinein. In diesem Modus kann Demokratie nicht mehr funktionieren. Emotionen ersetzen Argumente. Immer öfter wird ein undifferenzierter Widerstand provokant gegen «das politische System» in Szene gesetzt, das angeblich «an allem» schuld sei.

Ja, es stimmt: Wir haben eine Energiekrise, eine Klimakrise, eine Schuldenkrise und über 50 kriegerische Auseinandersetzungen. Die Hiobsbotschaften führen zu einem kollektiven Verlust an Lebensqualität. Dank medialer Vernetzung erleben wir in Echtzeit mit, was unser Gehirn nicht mehr packt! Deshalb haben wir nun auch noch eine Demokratiekrise!

Die unterschiedlichen Gründe all dieser Krisen zeugen von einer Störung des Menschen im Umgang mit sich, mit anderen und mit seiner Umwelt. Diese Störung ist nicht neu. Im AT lesen wir von Propheten, die unablässig verkehrte, gott-lose Lebensprinzipien aufgedeckt, gebrandmarkt und deren unausweichliche Negativfolgen angekündigt haben: Eine Gesellschaft würde zerfallen und sich schaden, wenn sie in ihrer masslosen Hab-, Geld- und Machtgier Ungerechtigkeit, Korruption und Ausbeutung toleriert, pseudoreligiös legalisiert und juristisch reinwäscht. Und wenn sich dann im Kulturverfall Verunsicherung, Angst und Furcht einstellen, seien das die logischen Folgen eigener Schuld. Die Propheten (z. B. Jesaja 2–3) deuten diese Schreckensmomente sogar als Gericht Gottes. Es soll verunsichern, um dadurch ein Aufwachen und Umdenken zu provozieren!

Das unauflösbare Dilemma der Nachmoderne

Seit Jahren lese ich im Buch «Apokalypse jetzt. Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit». Der Theologe, Philosoph und Journalist Gregor Taxacher bedauert angesichts «himmelschreiender Sünden der Ungerechtigkeiten» den Mangel an Propheten zutiefst und will die Kirchen zu einem «geistes-gegenwärtigen prophetischen Einsatz» motivieren (Kap. 5). Er reflektiert den katastrophalen Zustand unserer Welt im Horizont biblischer Prophetie und Eschatologie und postuliert: Die Gegenwart – inzwischen als Anthropozän und «permanente Endzeit» etikettiert – braucht dringend eine vertiefte theologische Qualifikation.

Immerhin weisen seit fünf Jahrzehnten unzählige Fachleute verschiedenster Wissenschaften hin auf die Fortschrittslüge «Wachstum bringt Wohlstand», auf die Grenzen des Wachstums und auf die Notwendigkeit, das bisherige Wachstum zu begrenzen. Sie charakterisieren die Neuzeit als «permanente Endzeit» mit apokalyptischem Charakter. Das meinen sie nicht nur prognostisch, sondern wirklich grundsätzlich unumkehrbar, weil niemand weiss, wie eine tiefgreifende Abkehr vom Wachstumswahn der Moderne geschehen kann!

Deshalb fragen sich viele resigniert: Lohnt sich überhaupt noch der Einsatz für eine lebenswerte Zukunft? Wenn z. B. trotz aller ökologischer und soziologischer Verwerfungen Konferenzergebnisse oft nur halbherzig zu Absichtserklärungen weichgespült und in der Umsetzung abgeschwächt werden? Der Mensch erweist sich mit seiner ungebremst wachsenden Konsumlust als grösster Risikofaktor!

Prophetische Klarheit statt banal-fromme Hoffnungseuphorie

Die Skepsis nimmt rasant zu. Im Blick auf die Zukunft wanken jetzt nicht nur alle irdischen Hoffnungen, auch die christliche Hoffnung steht auf dem Prüfstand. Zu Recht, wenn man nur Sätze wie «Gott ist gut und deshalb wird schon alles wieder gut» zu hören bekommt. Solche banal-zynisch fromme Euphorie ist tatsächlich schädliches «Opium für das Volk».

Es stellt sich vielmehr unerbittlich die Frage: Gibt es überhaupt noch Hoffnung, wenn alle Sicherheiten brechen, Grenzwerte überschritten sind und unser Globus schon gefährlich taumelt? Ist inzwischen jede Hoffnung illusionär, utopisch und realitätsfremd?

Die Erfahrungen des 20. und bisherigen 21. Jahrhunderts belegen unmissverständlich: Der Fortschrittsglaube der Aufklärung kann keine Hoffnung mehr geben. Sich ohne Gott allein auf die menschliche Vernunft zu verlassen, hat sich nicht bewährt.

Der Zauberlehrling hat recht, den J. W. von Goethe in entsetzlich steigender Wasserflut zum von ihm ignorierten Meister rufen lässt: «Herr, die Not ist gross. Die ICH rief, die Geister, werde ICH nun nicht mehr los!»

Jahrzehnte später lässt F. W. Nietzsche den «Tollen Menschen» in bestürzend prophetischer Klarheit sagen, was den Menschen übrigbleibt, nachdem sie Gott getötet und den Horizont weggewischt haben: «Ist nicht die Grösse dieser Tat zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden?»

Wenn der Horizont der Ewigkeit weggewischt ist, entwirft diese Autonomie ohne Gott inhumane Ideologien. Die Überforderung, Gott zu spielen, vernichtet dann jegliche Verantwortung. Der Holocaust und die ersten Atombomben markieren den Beginn einer nachmodernen Verunsicherung: Der Vernunft entgleitet die Kontrolle über das von ihr Gewollte und Erreichte.

Insofern ist unsere Verunsicherung in sich paradox: Wissenschaftlich-technologisch wurde ein Standard erreicht, der beeindruckt und von dem wir alle gerne profitieren. Jetzt lässt uns die Digitalisierung zur globalen Familie werden, wir bereiten Mond- und Marsbesiedelungen vor und mit Künstlicher Intelligenz erreichen wir neue Horizonte – doch wozu denn eigentlich? Wozu, wenn wir zeitgleich die Welt so zurichten, dass sie einem sozial-ökonomischen und ökologischen Kollaps entgegenwankt? Und zeitgleich nehmen Ratlosigkeit, Überforderung, Ohnmacht und Wut zu. Eine globale Verantwortungsgemeinschaft ist nicht in Sicht!

Jetzt muss die biblische Theologie der Hoffnung (Eschatologie) in prophetischer Klarheit wieder neu sagen, was sie immer schon gesagt hat: GOTT markiert in Jesus Christus den Widerspruch gegen die Sünde des Menschen und den Tod. Eine umfassende Heilszukunft hat begonnen. Seine Liebe ist die neue Kraft, die alle Masslosigkeit vernichtet und Heil schafft.

Gerade die Kirchen könnten so die allgemeine, globale und regionale sowie die persönlich-private Verunsicherung seelsorgerlich begleiten und unsere Zeit eschatologisch einordnen.

Verunsicherung betrifft uns alle

Die Welt ist zerbrechlich, die Schöpfung leidet und der Mensch ist oft des Menschen Wolf. Die Bibel redet das nicht schön.

Viele Psalmen und persönliche Bekenntnisse alttestamentlicher Propheten schildern die Achterbahn der Gefühle und Empfindungen, den grübelnden Zweifel und die deprimierende Hoffnungslosigkeit, die Anfechtungen von innen und aussen sowie das Ausgeliefertsein an schlimme Umstände und traurige Zustände.

Auch Jesus hat dieses Verunsichert- und Getrennt-Sein von Gott als Passion erlebt. Mühsal und Trübsal sind bittere Realitäten menschlicher Existenz. Sie begleiten auch die Jesus nachfolgenden Kirchen und Gemeinden zunehmend in einer Weltgeschichte, die trotz weltweiter Evangelisation, Mission und Ausdehnung christlichen Lebens durch des Menschen Selbstbezogenheit dramatisch enden wird.

Prophetisch klare Sicht auf die Realität

Die durch den Menschen schuldhaft verursachten Zerstörungen an Gottes Schöpfung nehmen zu. Gericht ereignet sich in Gottes Abwesenheit, wo er den Menschen seine Freiheit ausleben lässt.

Diese Zusammenhänge zeigt Jesus in seinen «Endzeitreden» (Matthäus 24,1–36; Markus 13,1–32; Lukas 21,5–36) und seine Apostel in ihren Briefen und Sendschreiben auf. Es gilt also, die «Zeichen der Zeit» zu beobachten und sie permanent theologisch zu qualifizieren. Denn dadurch gewinnen wir eine spannungsvolle Perspektive auf das Kommen des Reiches Gottes, Hoffnung auf die nahende Erlösung, einen hoffnungsvollen Lebensstil «in Freiheit von der Welt und in Erwartung der Neuen Welt» (1. Korinther 7,29ff).

Weil das österliche Heilsdatum den Blick auf den auferstandenen Christus lenkt, kann ich in allen Verunsicherungen «meine ganze Gegenwart annehmen und Freude nicht nur in der Freude, sondern auch im Leide, Glück nicht nur im Glück, sondern auch im Schmerz finden. So geht diese Hoffnung durch Glück und Schmerz hindurch, weil sie Zukunft auch für das Vergehende, Sterbende und Tote an den Verheissungen Gottes erblicken kann.» (Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, 27).

Nüchternheit in einer unsicheren Übergangszeit

Im NT finden wir eine heilsgeschichtliche Einordnung dessen, dass es in der gegenwärtigen Welt keine Sicherheit gibt. Persönliche Krisen, politische Verwerfungen und irrende Ratlosigkeit gehören zu dieser Übergangszeit. Paulus fragt einmal: «Wo sind denn die Weisen und die Klugen dieser Welt? Hat nicht Gott selbst die Weisheit dieser Welt als Torheit entlarvt und uns in Christus die wahre Weisheit und Gerechtigkeit geschenkt?» (1. Korinther 1,20.30) Seit Ostern leben wir in einer Übergangszeit. Es gilt das «Es ist schon vollbracht» ebenso wie das «Es ist noch nicht erschienen, was sein wird». Die Utopie einer sicheren schönen Welt mögen wir als Sehnsucht träumen! Aber der Heilige Geist kann diese menschlich so verständliche Sehnsucht in Vertrauen, Liebe und Hoffnung verwandeln.

Deshalb gilt es, allen Utopien pseudomessianischer Autokraten – Jesus nennt sie falsche Propheten (Matthäus 24,11) – zu widerstehen anstatt sie zu wählen, damit sich die Dramatik des 20. Jahrhunderts nicht wiederholt.

Christliche Hoffnung bleibt nüchtern, weil sie um den vorletzten Charakter der Jetztzeit weiss: «Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Aber über dir strahlt Gott der Herr auf als Licht und seine Herrlichkeit erscheint über dir.» (Jesaja 60,1-2)

In dieser aktiven Hoffnungsperspektive erfährt die Gemeinde Jesu hier und da, je und dann den Frieden Gottes wie das «Auge im Sturm». Deswegen verfällt sie nicht in fatalistischer Resignation der Weltflucht, sondern folgt der Aufforderung Jesus: «Handelt, bis ich wiederkomme!» (Lukas 19,13) So entwickelt sich unaufhaltsam seit Pfingsten das Reich Gottes in dieser Übergangszeit, die Jesus mit den Geburtswehen am Ende einer schwierigen Schwangerschaft vergleicht.

Hoffnungsvolle Gewissheit

Zu Beginn habe ich Sabina Pedroli erwähnt mit ihrer Feststellung, unser Gehirn sei nicht dafür geschaffen, das ganze Leid dieser Welt – also die schweren Geburtswehen – zu verarbeiten. Um trotzdem zu überleben, empfiehlt sie eine moderate Medienverweigerung sowie Auszeiten zur Selbstfürsorge und Selbsterhaltung.

Ergänzend möchte ich noch auf das Raum- und Zeitkonzept jüdischen und christlichen Glaubens hinweisen: «Meine Zeit steht in Gottes Händen. Du stellst meine Füsse auf weiten Raum. Deshalb befehle ich meinen ängstlich aufgeregten Geist und meine angefochtene matt gewordene Seele in Deine Hände. Denn du hast mich erlöst, Herr, mein treuer Gott.» Dieser Psalm 31 zeigt uns den sicheren Ort inmitten aller Verunsicherung: Geborgenheit im dreifaltigen Gott und in seiner Heilsgeschichte. Glaube heisst: Meine Biografie einbinden lassen in den ewigen Bund, den Gott in Jesus Christus anbietet: «Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein» – auch wenn es bedrängend wird.

Wer diesen Anruf und Zuruf aus Jesaja 43,1+2 für sich hört, lebt in einer das irdisch Unsichere, Dunkle und Finstere überwindenden Dimension.

Dieser Artikel erschien erstmals in der Zeitschrift «meinTDS» und auf der Website www.tdsaarau.ch

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Am 18. Januar 2025 findet das nächste ChristNet-Forum unter dem Thema «Demokratie – gefährdet oder gefährlich» statt. ChristNet-Präsident Markus Meury erklärt, was es mit dem Thema auf sich hat.

Mit dem 2. Weltkrieg wurde endgültig klar, welche Katastrophen der Nationalismus und Diktaturen anrichten können. Danach wurden in vielen Staaten die demokratischen Strukturen ausgebaut. Mit dem «Fall der Mauer» schien es, dass die Demokratie gesiegt hätte und dass sie und die Menschenrechte sich dank der Zunahme der Bildung und des Wohlstandes automatisch ausbreiten würde. Bis zum Jahr 2015 war dies tatsächlich der Fall, seither hat aber eine Trendwende eingesetzt. Der Demokratieindex 1 zeigt seither nach unten, und zwar in allen Regionen der Welt.

Zunehmend Machterhaltung – auch wegen der Polarisierung im Internet

In Ungarn, Polen, Israel oder El Salvador versuchen Regierungen vermehrt, ihre Macht zu zementieren, indem sie Kritik übertönen oder unterdrücken und die Kontrolle durch Gerichte abschaffen. Mexiko und Indien versuchen, demokratische Wahlen «besser zu kontrollieren». In Südkorea wurde eben ein «Putsch von oben» versucht. Auch der Sturm aufs Capitol in den USA von 2021 kann in dieser Kategorie genannt werden. Wird die Demokratie nur noch toleriert, solange das Resultat den Mächtigen dient?

Ein wichtiger Faktor hierin ist sicher die zunehmende Polarisierung der Meinungen, die durch die allgemeine Verunsicherung und die ungebremste Hetze und Verleumdung gegen die politischen Gegner in den sozialen Netzwerken (auch bewusst) gefördert wird. Durch die Algorithmen im Internet, die unsere Interessen und Meinungen spiegeln, finden wir uns in Meinungs-Bubbles wieder und werden zunehmend einseitig informiert. Wenn der politische Gegner nur noch Feind ist, wird dessen Unterdrückung zur Priorität, da sonst «das Böse überhandnimmt». Machterhaltung ist die Devise, Konsens und damit die Suche nach dem Guten für alle ist nicht mehr Ziel. Im Kampf der Guten – wir – gegen die Bösen – die anderen –, wird die Aufhebung von demokratischen Regeln gerechtfertigt.

Der Soziologe Anthony Giddens hat bereits in 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der autoritären Regierungen werde, da mehr Menschen wegen den schnellen technischen und kulturellen Veränderungen2 wieder nach Sicherheit versprechenden Führern rufen. Nur so ist es zu erklären, dass in den USA mit Donald Trump von einer Mehrheit des Volkes wiedergewählt wurde. Dies mit Elon Musk als rechte Hand, der vor einem von ihm angestrebten Sturz des bolivianischen Präsidenten meinte: «We coup against whoever we want».

«… in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.»

Erosion der Wahrheit

Das Internet mit seinem grossen Angebot an Rechtfertigungsideologien hilft uns, das zu glauben, was wir glauben wollen. Wir passen die Realität an unsere Weltsicht an. Hier ist die Frage der Wahrheit zentral: Kümmern wir uns nicht mehr um die Suche nach Wahrheit? Oder nehmen wir einfach an, was wir glauben, ist die Wahrheit. Wenn wir Facts statt Unterstellungen den Vorzug geben, entstehen weniger Feindbilder. Aber in der heutigen, polarisierten und von Ängsten vor den Feinden erfüllten Gesellschaft ist die Suche nach Bestätigung der eigenen Welt- und Feindbilder stärker.

Menschenrechte, Demokratie und Nächstenliebe bedingen sich gegenseitig

In diesem Zusammenhang geraten weltweit auch die Menschenrechte unter Druck. Menschenrechte sind die Grundpfeiler der Menschenwürde: gleicher Wert jedes Menschen vor Gott heisst auch, jedem Menschen gleiche Rechte und Lebenschancen zuzugestehen. Das ist die Grundlage der Nächstenliebe. Diese bedingt die Menschenrechte und ist nur durch eine vollständige Demokratie gewährleistet. Denn nur dort, wo die Stimme der Benachteiligte hörbar ist und ihr politischer Einfluss gleichwertig ist, wo vertrauenswürdige Informationen im Vordergrund stehen und wo Mächtige abgewählt werden können, kann das Gute für alle gedeihen. Denn: wo die Mächtigen Rechenschaft abgeben müssen, wird das Wohl für alle respektiert. Umgekehrt hat die Konzentration und Zementierung von Macht in der Geschichte meist Unheil gebracht. Unterdrückung, Kriege, Tod und Zerstörung sind die Folge.

Und in der Schweiz?

Die Schweiz hat unter den Demokratien eine besondere Stellung und wird wegen seiner direktdemokratischen Instrumente als die Demokratie schlechthin angesehen. Doch auch bei uns gibt es demokratische Grundregeln, die noch mangelhaft sind. Demokratie heisst nicht einfach, «man kann ja wählen und abstimmen, wenn man will». Im Folgenden einige wichtige Voraussetzungen, die in der Schweiz unseres Erachtens im Vergleich zum Ausland Verbesserungen benötigen:

  • Zuverlässige und korrekte Information in klassischen und sozialen Medien
  • Gleich lange Spiesse im politischen Konkurrenzkampf durch Offenlegung der Politikfinanzierung
  • Unterbindung von undurchsichtigen Lobbying-Aktivitäten im Parlament
  • Die Einführung eines Verfassungsgerichts, das die Übereinstimmung von neuen Gesetzen mit der Verfassung überwacht

Zudem sind Einschränkungen von demokratischen Prozessen auch hierzulande wahrnehmbar:

  • Bei der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative waren die Wirtschaftsverbände erstaunt, dass die Zivilgesellschaft plötzlich gewichtigen Einfluss auf die Meinungsbildung hatte. Dieser Entwicklung begegneten sie mit einem Verbot der politischen Arbeit von subventionierten NGO und von Schulbesuchen durch Entwicklungshilfeorganisationen.
  • Das Parlament beschloss – trotz hängiger gegnerischer Volksinitiative – die sofortige Bestellung der FA-35-Kampfflugzeuge und begründete dies mit der zunehmenden Bedrohung durch Russland. Nun werden wir ein überteuertes und lärmiges Angriffsflugzeug haben. Dies ohne Koordination mit den umliegenden und ebenfalls bedrohten Ländern.
  • Gerade im Zuge der Nichtumsetzung der Initiative «Kinder ohne Tabak» wird einmal mehr klar, dass das Parlament sich zu weigern kann, Volksinitiativen korrekt umzusetzen. Zwar ist das Gesetz noch nicht fertig beraten, aber die vorberatenden Kommissionen setzen alles daran, dehnbare Formulierungen zu schmieden.
  • Im Kanton Schaffhausen haben sich das Parlament und die Regierung offen geweigert, die vom Volk angenommene Initiative zur Offenlegung der Parteispenden umzusetzen. Im Nachhinein wollten sie einen verwässerten Gegenvorschlag vors Volk bringen und gleichzeitig über eine Durchsetzungsinitiative der ursprünglichen Volksinitiative nicht abstimmen lassen. Das Bundesgericht hat inzwischen entschieden, dass auch über Letztere abzustimmen sei.

Wir müssen also auch hierzulande gegenüber der Erosion demokratischer Prozesse wachsam sein – auch wenn sich unsere politische Identität stark auf die Demokratie bezieht und nicht unmittelbar die Gefahr einer Diktatur droht.


1. https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex_(The_Economist)

2. s. auch Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005

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In der Wintersession im Bundeshaus wurde bei der Armee aufgestockt und bei der Umsetzung des Klimaschutz-Gesetzes massiv gekürzt. Klimalösungen sind aber trotz bremsender Mehrheiten weiterhin gefragt. Wenn sogar kleine Schritte blockiert werden, wie sollen dann die grossen Schritte eine Chance haben?

Wenn sogar ein Land wie die Schweiz beim Klimaschutz spart, wer soll dann vorangehen? Wenn sogar kleine Schritte blockiert werden, wie sollen dann die grossen Schritte eine Chance haben?

Ein Gedankenexperiment kann uns mit diesen Fragen helfen. Stellen wir uns vor, wir können mit einer Zeitmaschine ins Jahr 2100 reisen. Dort angekommen, stellen wir überrascht fest, dass die Welt das Klimaproblem doch noch gelöst hat. Wir fragen die Menschen der Zukunft: «Wie ist denn das bloss gegangen?» Wahrscheinlich wären wir von jeder möglichen Antwort überrascht. Die grosse Frage ist aber: Welche Antwort auf diese Frage würde uns am wenigsten überraschen?

Dem Nächsten wirkungsvoll dienen

Diese Frage ist zentral – und zwar ganz besonders, wenn sich die Klima-Politik anderen Prioriäten unterordnen muss. Wir müssen nicht nur voll heiligem Zorn die Bremser in der Klimapolitik anprangern. Sondern: wir müssen mit der gleichen Leidenschaft fragen, was denn unsere Nachfahren auch dann vor Klimagefahren schützen würde, wenn diese Bremser weiterhin in der Mehrheit bleiben.

Das ist letztlich eine sehr christliche Perspektive: wir rechnen fix mit dem Bösen in dieser Welt und richten unsere ganze Energie darauf, wie wir unseren Nächsten auch unter diesen Umständen wirkungsvoll dienen können.

Wenn ich im Jahr 2100 hören würde, dass die Menschheit die Klimakurve doch noch gekriegt hat, würde mich folgende Erklärung am wenigsten überraschen: Es gab ein paar Länder und Individuen, die mit grossem Einsatz saubere Technologien so sehr verbilligt haben, dass alle andern freiwillig auf diese sauberen Technologien umgestellt haben.

Null Emissionen

Die Anforderungen an eine Klimalösung sind ja schliesslich enorm: die Emissionen müssen auf Null. Wie aber sollen sie auf Null sinken, ohne dass sie jedes einzelne Land und jede einzelne Person auf Null senkt? Die Tatsache, dass es genaugenommen Netto-Null ist, lässt zwar ein bisschen Spielraum, aber über den Daumen gepeilt ist das immer noch Null. Wenn aber nicht mal ein Land wie die Schweiz zu kleinen Schritten bereit ist, wie soll dann ein Land wie Rumänien oder gar Indien zu grossen Schritten bereit sein?

Die Tragödie scheint perfekt: alle müssen auf Null – aber eine Lösung, bei der alle mitmachen, werden wir nie finden. Der Beweis dafür ist, dass nicht mal diejenigen mitziehen, die für grosse Schritte prädestiniert wären – wie unser eigenes Land.

Zeichen der Hoffnung

Doch es gibt Hoffnung. Es müssen zwar tatsächlich alle das gleiche Null-Ziel erreichen. Das heisst aber nicht, dass alle den gleichen Effort machen müssen. Emissionsreduktionen ≠ Effort. Willige Länder und Individuen können den Effort anstelle von andern übernehmen – sogar, wenn sie in der Minderheit sind.

Wie geht das konkret, dass im globalen Klimaschutz «einer des andern Last trägt»? Der erste – und weniger wichtige – Weg besteht darin, Emissionsreduktionen im Ausland zu finanzieren. Der zweite – und viel wichtigere – Weg besteht darin, enorm viel Geld, Zeit, Energie und politisches Kapital in die Verbilligung von emissionsfreien Technologien zu stecken, damit diese so attraktiv werden, dass sie alle andern freiwillig einsetzen. In einigen Bereichen sind saubere Technologien zwar einsatzbereit, aber noch so teuer, so dass sie wieder von Menschen, die in Armut leben, noch von jenen, die in Geiz leben, in grossem Ausmass verwendet werden. In anderen Bereichen sind unverzichtbare Technologien noch kaum einsatzbereit, so zum Beispiel im Bereich Stahl, Zement, Flugverkehr, kultiviertes Fleisch oder negative Emissionen.

Saubere Technologien attraktiv machen

Wer auf eine Klimalösung brennt, sollte nicht lange um die Frage kreisen, ob man seinen fairen Anteil auch dann beitragen sollte, wenn die anderen nicht mitziehen. Die zentrale Frage lautet vielmehr: Wie kann ich über meinen fairen Anteil hinaus dazu beitragen, die Mitmenschen in Armut vor Klimakatastrophen zu schützen? Die eigenen Emissionen immer tiefer unter Null zu drücken, führt nicht ans Ziel – damit können die Verzichtsbereiten die Emissionen der Unwilligen niemals wettmachen. Der indirekte Weg hingegen könnte funktionieren: die sauberen Technologien so attraktiv machen, dass sich diese Technologien von selbst in reichen und armen Ländern verbreiten. Bei reichen Ländern ist das Hindernis zur Verwendung der jetzt schon vorhandenen sauberen Technologien ein materialistischer Egoismus, bei armen Ländern ist es hingegen der berechtigte Willen dank den billigstmöglichen Technologien der Armut schneller zu entkommen. In beiden Fällen können wir das Hindernis zu überwinden helfen.

Bei den Armen und Geizigen ansetzen

Das wäre zwar in vieler Hinsicht unfair für die Verzichtsbereiten, die den ganzen technologischen Fortschritt finanzieren. Aber es ist eine der wenigen Strategien, die letztlich auch ohne Mehrheiten Resultate liefern könnte. Wir müssen aufhören, Klimaschutz primär als die Verringerung des eigenen Fussabdrucks zu sehen. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, dort anzusetzen, wo wir Hebelwirkung haben: nämlich andern – den Menschen in Armut und den Geizigen – die Verringerung ihres Fussabdrucks zu vereinfachen.

Dieser Artikel erschien erstmals in den oeku-Nachrichten 2/2021 und wurde von ChristNet aktualisiert, da das Thema an sich nichts an Aktualität eingebüsst hat.

Foto von Marcin Jozwiak auf Unsplash