Teilen und Armut in der christlichen Tradition

~ 6 min

Loslösung vom Reichtum (1. und 2. Jahrhundert)

Die Idee des „einfachen Lebens“ ist für die ersten Christen eine Selbstverständlichkeit. Es wird als normal erachtet, seine Güter zu verkaufen und sie mit den Anderen zu teilen. Durch die Bekehrung wird man gleichsam als Kind des einen Vaters zu Geschwistern. Doch Armut wird hier nicht als Selbstzweck gesucht: Vielmehr steht die Aufgabe des Reichtums im Vordergrund zugunsten derjenigen, die weniger besitzen.

Die Geschichte des reichen Jünglings (Mat. 19,16-222) hat die Christen während der gesamten Kirchengeschichte ganz unterschiedlich beschäftigt. Im 1. und 2. Jahrhundert wurde sie wie folgt interpretiert: Der Reichtum ist nicht an und für sich schlecht, aber die Liebe des Reichtums ist ein Hindernis zum Heil. Für die ersten Christen geht es dabei in erster Linie um die Frage der Solidarität und der Geschwisterhilfe. Doch kommt der reiche Jüngling in den Diskussionen oft vor und die Frage stellt sich, ob die Reichen überhaupt gerettet werden können. Die Kirche stellt dazu fest, dass der Reichtum nützlich ist, dass es aber notwendig ist, sich von aller fleischlichen Gier, sprich: der unbezähmten Liebe zum Geld, zu lösen.

Luxus als Anmassung (3. bis 5. Jahrhundert)

In der Folge entwickelten sich radikalere Strömungen, die bis zur Suche nach dem Märtyrium durch den Verzicht auf Güter und auf die Ehe gehen. Sie sehen den Güterbesitz als etwas Dämonisches an. Diese Strömungen, die zwar von der Kirche verurteilt werden, tauchen dennoch im Laufe der Kirchengeschichte in verschiedenen Formen wieder auf.

Im 4. und 5. Jahrhundert kommt Basilius von Cäsarea zur Auslegung, dass der reiche Jüngling nicht alle Gebote gehalten habe, wie er vorgibt, da er trotz seines Reichtums seine armen Brüder verhungern liess. Es sei praktisch unmöglich, so viel Reichtum anzuhäufen, ohne einzelne Gebote zu verletzen. Basilius kommt zum Schluss, dass Luxus eine Anmassung ist. Seine Kritik trifft demnach nicht den Reichtum an und für sich, sondern die Grösse des Vermögens. Andere folgern, dass die Anhäufung grosser Vermögen gezwungenermassen zu Ungerechtigkeiten führt.

Ein weiterer Leitgedanke wird zu dieser Zeit entwickelt: Wir sind nicht die Besitzer der irdischen Ressourcen, sondern Verwalter dessen, was Gott uns anvertraut; die irdischen Güter dienen zum Nutzen Aller.

Die Armut als materielle Tatsache

Mit dem Aufstieg des Christentums zur offiziellen Religion des römischen Reiches verliert der Märtyrergedanke an Boden und wird durch die Weltflucht ersetzt. Die ersten Klöster werden gegründet. Hier kann „der Welt“ und ihrem Reichtum, die in der Meinung dieser monastischen Strömungen die evangelische Vollkommenheit verunmöglichen, entflohen werden. Gleichzeitig nimmt die Armut in der Gesellschaft wegen wiederholten Hungersnöten und Epidemien zu. Die Bewegung zur Hilfe der Schwächsten und Armen Gewinnt an Boden. Den Reichen wird ihr Reichtum vorgeworfen, der auf Kosten der Armen erworben wird.

Zu dieser Zeit kommt die Kirche zum ersten Mal in den Genuss von Erbschaften, die sie dazu verwendet, die Leiden der Armen zu lindern. In der Folge wird die karitative Hilfe der Kirchen institutionalisiert, und die ersten Kranken- und Armenhäuser werden eröffnet. Die Armut wird zu dieser Zeit in erster Linie unter ihrem materiellen Gesichtspunkt betrachtet, und nicht als geistliche Frage behandelt.

Das einfache Leben (11. und 12. Jahrhundert)

Im 11. und 12. Jahrhundert entstehen neue Orden, die eine Rückkehr zur Armut predigen. Das Ziel ist, im gemeinschaftlichen Rahmen einen einfachen Lebensstil zu leben. Dabei bestehen auffälligerweise zwei Theorien nebeneinander: Die Kirchenhierarchie predigt einerseits die Armut als Gottes Wille, andererseits macht die Zunahme der Armen der Kirche Angst. Die Einsiedler, die von der Welt abgeschieden leben, kritisieren den Klerus vermehrt, weil dieser Armut predigt, ohne sie vorzuleben. Oppositionelle und konfliktträchtige Bewegungen entstehen. In dieser Kontroverse sind zwei Männer besonders wichtig: Franz von Assisi und der Heilige Dominik. Beide vertreten eine Zwischenmeinung: Sie bleiben der institutionellen Kirche zwar treu, schaffen es aber, den Armen wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Beide Männer haben die Gründung zahlreicher Krankendienste inspiriert.

Die Angst vor dem Armen (14. Jahrhundert)

Im 14. Jahrhundert stellt sich erneut die Frage nach der Armut Christi. Hat er wirklich bis zuletzt in Armut gelebt? Waren seine Jünger tatsächlich besitzlos? Papst Johannes XII erklärt die Lehre als Häresie, wonach Jesus in absoluter Armut gelebt habe. In der Folge wird der Arme suspekt. Die Ablasspraxis, bei der die Reichen vor ihrem Tod einen Teil ihres Vermögens den Armen vermachen, um sich so den Weg ins Paradies frei zu machen, macht die Armut als einziger Faktor akzeptabel. Doch wird der Arme und die Armut immer mehr als Gefahr wahrgenommen, und der Entscheid zu einem armen Lebensstil wird je länger je weniger toleriert. Der Arme wird nicht mehr als Ebenbild Christi gesehen. Auch wenn sich einzelne Stimmen für die Armen einsetzen, wie etwa Erasmus von Rotterdam, nimmt die Angst schliesslich dermassen zu, dass die Armen vermehrt eingesperrt werden.

Zwischen Armut als Seligkeit und sozialer Kritik (17. bis 20. Jahrhundert)

Im 17. Jahrhundert wird die Armenhilfe weiter ausgebaut. Der Staat übernimmt dabei eine immer aktivere Rolle und fördert die Hauspflege, die zu einer grossen Bewegung wird. Nach der Suche des einfachen Lebensstils steht jetzt der Armendienst auf dem Programm. Mit einbrechender Aufklärung erscheint der Entscheid zu einem einfachen Lebensstil als Provokation. Klöster werden geschlossen, die Armut der Mönche und ihr Märtyrergedanken wird offen kritisiert. Die Kirche zieht sich mehr und mehr aus dem öffentlichen Armendienst zurück.

Im 18. Jahrhundert verliert die Armut definitiv ihren Vorbildcharakter und wird durch einen Mittelweg abgelöst. Dabei wird weder nach Armut noch nach Reichtum gestrebt, sondern nach einem bescheidenen Lebensstil. Zur gleichen Zeit entwickelt sich der Markt, dessen Existenz auf dem Grundsatz der Vielfalt beruht. Die ungleiche Verteilung des Reichtums festigt die Gesellschaft, da sie nur existiert, weil es Arme gibt, die zum Leben auf ihre Arbeit angewiesen sind. Die Armut wird vermehrt als etwas Natürliches wahrgenommen. Die Kirche betont denn auch nicht mehr die Armut Christi, sondern diejenige des Menschen allgemein, die den Bedürfnissen der Gesellschaft dient.

Mit dem Aufstieg des Sozialismus’ im 20. Jahrhundert beginnt die Kirche, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter zu kritisieren. Die Kirchenhierarchie kritisiert die Ausbeutung des Menschen. Doch wird diese soziale Kritik oft durch den traditionellen Flügel der Kirche unterdrückt. Dies kann bis heute beobachtet werden, „unterdrückt“ doch die Kirche mit mehr oder weniger Heftigkeit die Befreiungstheologie.

Zum Schluss

Zum Schluss kann festgehalten werden, dass sich der Blick der Kirche auf die Armen, sowie ihre Reaktion auf Armut und Ungerechtigkeit im Laufe der Zeit ständig verändert hat. Wie sehen wir die Armen und die Armut heute? Wie können wir uns für sie einsetzen? Vielleicht sind wir berufen, einen ausgewogenen Mittelweg zwischen Mittellosigkeit und Reichtum zu finden. Könnte es hier um die Genügsamkeit gehen? Vielleicht sind wir gleichermassen berufen, uns das Prinzip der Verwalterschaft von Basilius von Cäsarea wieder zu eigen zu machen; jeder ist demnach berufen, einen Teil des weltweiten Vermögens Gottes zum Nutzen der gesamten Menschheit zu verwalten.

Empfohlene Lektüre

CHRISTOPHE Paul, Les pauvres et la pauvreté. Des origines au XVe siècle. 1ère partie, Desclée, Paris, 1985.

CHRISTOPHE Paul, Les pauvres et la pauvreté. Du XVIe siècle à nos jours. 2ère partie, Desclée, Paris, 1987.

DOMMEN Edouard, Laisser des grappilles. Contre la convoitise, la fête !, Repères, Pain Pour le Prochain, 2000.

RAHNEMA Majid, Quand la misère chasse la pauvreté, Paris, Fayard; Acte Sud, 2003.

 

Béatrice Steiner, April 2006

Transkription: Silvia Hyka/sn, übersetzt von Samuel Ninck.

Dieses Referat wurde weitgehend durch folgende Bücher inspiriert: CHRISTOPHE Paul, Les pauvres et la pauvreté. Des origines au XVe siècle. 1ère partie, Desclée, Paris, 1985. CHRISTOPHE Paul, Les pauvres et la pauvreté. Du XVIe siècle à nos jours. 2e partie, Desclée, Paris, 1987.

„Und siehe, einer trat herbei und sprach zu ihm: ‚Lehrer, was soll ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe?’ Er aber sprach zu ihm: ‚Was fragst du mich über das Gute? Einer ist der Gute. Wenn du aber ins Leben eingehen willst, so halte die Gebote.’ Er spricht zu ihm: ‚Welche?’ Jesus aber sprach: ‚Diese: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsches Zeugnis geben; ehre den Vater und die Mutter; und: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.’ Der Jüngling spricht zu ihm: ‚Alles dies habe ich befolgt. Was fehlt mir noch?’ Jesus sprach zu ihm: ‚Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Habe und gib den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben. Und komm, folge mir nach!’ Als aber der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt weg, denn er hatte viele Güter.“ (Matthäus 19,16-22)

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