Verlust der Normalität – Gedanken zu einer aktuellen Entwicklung
Viele Menschen spüren eine zunehmende Verunsicherung. Die Globalisierung, die Komplexität vieler Zusammenhänge und die Digitalisierung lassen immer mehr Menschen ratlos zurück. Und auch die Kriege an den Rändern Europas sind eine Realität, von der wir dachten, dass wir sie überwunden hätten.
In dieser um sich greifenden Rat- und Hilflosigkeit erstarken die Extreme, die uns Sicherheit und Klarheit versprechen. In vielen Ländern erleben die rechtspopulistischen und nationalistischen Kräfte starken Zulauf. Diktatoren haben Hochkonjunktur, weil sie einfache Lösungen für komplexe Fragestellungen anbieten. Was passiert gerade mit unserer Welt, mit unserer Kultur und unserer Gesellschaft?
Normalität
Was viele Menschen aktuell als verunsichernd und anstrengend erleben, ist der Verlust der Normalität. «Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.» (Wikipedia) Wir kommen aus einer längeren Phase gesellschaftlicher Normalitäten. Vieles war geklärt, galt als «normal» und fand breite Akzeptanz. Man musste nicht ständig überlegen, wie man in der Norm bleibt. In der normierten Normalität kann man sich unbeschwert bewegen, weil einem viele Entscheidungen abgenommen sind. Normalität schafft Sicherheit, Orientierung und Geborgenheit. Sie ist unsere Komfortzone. Normalität ist eine Art verbindende Schnittmenge der Gesellschaft.
«Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.»
Verlust der Normalität
Seit Jahren erleben wir, wie das Feld der Normalität kleiner wird – und die Verunsicherung grösser. Die Schnittmenge wird kleiner, weil die Diversität der Gesellschaft grösser wird. Was über Jahrzehnte als geklärt galt, wird neu verhandelt und infrage gestellt. Wir erleben den Verlust an Normalität in einem Tempo, wie das selten zuvor der Fall war. Im Folgenden nenne ich einige Beispiele, die diese Verunsicherung und Normverluste zum Ausdruck bringen.
Unsere Sprache
Wie dürfen wir noch reden? Plötzlich löst man durch einen Satz oder ein Wort einen Shitstorm aus. Darf ich Begriffe, die mir mein ganzes Leben lang vertraut waren, überhaupt noch gebrauchen oder diskriminiere ich damit jemanden? Darf ein Restaurant noch «Zum Mohren» heissen? Muss ein Strassenname umbenannt werden, wenn er nach einem General aus dem Ersten Weltkrieg benannt ist? Auch das Gendern bedroht die Normalität unserer Sprache. Der Sprachfluss verändert sich und neue Endungen müssen kreiert werden. Selbst in einer der neuesten Kinderbibeln wird konsequent gegendert, was das Vorlesen offen gesagt herausfordernd macht.
Kultur und Nationalität
Eine andere Verunsicherung betrifft Fragen der Kultur und Nationalität. Dürfen meine Kinder an Fasching noch als «Indianer» verkleidet in den Kindergarten gehen? Darf ich als Schweizer Dreadlocks tragen, einen Sombrero aufziehen und Paella kochen – oder ist das bereits kulturelle Aneignung? Dürfen die Kirchenglocken in einem Dorf noch läuten oder ist das jetzt Ruhestörung? Ist die klassische Familie mit Mutter, Vater und Kindern noch der Normalfall oder wird das durch alternative Familienmodelle abgelöst? Und dann hat uns zudem die Coronakrise unverhofft aus unserer Alltagsnormalität herausgerissen.
Konsequenzen
Eine Konsequenz dieses Normalitätsverlusts ist die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach der alten Normalität. Und viele, die eine Rückkehr zu den alten Normen versprechen, erleben Zulauf, egal ob radikale Partei oder fundamentalistische Religion. Eine weitere Konsequenz ist der Rückzug in die eigenen vier Wände und dadurch die Abkehr von der Verunsicherung da draussen. Es wächst das Zugehörigkeitsgefühl zu denen, die den Verlust an Normalität ebenfalls beklagen und gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung denen gegenüber, die diese neuen Klärungen einfordern. Damit vergrössert sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Die Menschen werden fremdenfeindlicher, weil es «die Fremden» sind, die mit ihrer Kultur, ihren Sitten und Werten unsere Normen bedrohen. Und gleichzeitig werden die Fremden unzufriedener, weil sie durch ihren sozialen Stand und den Mangel an Ressourcen ihre eigene vertraute Normalität nicht wieder aufbauen können. Die Anziehungskraft der eigenen Normalität ist daher auch einer der Gründe, warum Integration oft nur schwer gelingt. Integration bedeutet nämlich für fremde Menschen, ihre Normalität aufzugeben und dafür unsere Normalität zu übernehmen. Aber Normalität wächst über Jahrzehnte, über Generationen hinweg und lässt sich nicht einfach austauschen. Und wer Vertreibung, Krieg oder Flucht hinter sich hat, verspürt umso mehr das Bedürfnis nach vertrauter Normalität. Der Mangel an Integrationsbereitschaft muss nicht Ablehnung der neuen Kultur bedeuten, sondern bringt vielmehr die starke Anziehungskraft des Vertrauten zum Ausdruck, die sich in der eigenen Kultur, der eigenen Sprache, den eigenen Traditionen und Sitten zeigt. Bei alledem gibt es eine Schizophrenie in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite will man den maximalen Individualismus, die Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen. Und auf der anderen Seite will man ganz viel Normalität und eine möglichst grosse Schnittmenge in der Gesellschaft. Aber man kann auf Dauer nicht beides haben. Wie gehen wir als Christen und als Gemeinden mit dem Verlust von Normalität um?
1. Die Schattenseiten der Normalität wahrnehmen
Ich habe bisher die Vorzüge von Normalität geschildert. Die Geschichte zeigt: Normalität war auch ein Machtinstrument, ein Werkzeug der Unterdrückung. Die Normalität hat Blut an ihren Fingern. Sie war der Nährboden, auf dem ausgegrenzt, ausgeschlossen, diffamiert, denunziert, kriminalisiert und eingesperrt wurde. «Arisch» galt in der Nazi-Ideologie als normal und darum wurden Juden als Ungeziefer betrachtet, die es auszurotten galt. «Weiss-Sein» galt als normal und darum durfte man dunkelhäutige Menschen als Sklaven halten. «Katholisch-Sein» galt als normal und darum durfte man Protestanten verfolgen. Der Mann als Ebenbild Gottes galt als normal und darum wurde in vielen Kirchen Frauen das Lehren und Leiten untersagt. Heterosexualität gilt in vielen Ländern als normal und darum werden in manchen davon queere Menschen mit lebenslanger Haft oder dem Tode bestraft. In Anbetracht dieser Beispiele hat der Verlust der Normalität auch etwas Gutes, denn er zerstört gewachsene Unterdrückungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen.
2. Christen haben schon lange den Bereich der Normalität verlassen
Die Geschichte der Jahwe-Religion ist im Kern die Geschichte des Auszugs und des Aufbruchs aus der Normalität. Abraham als Vater der jüdischen Religion hört von Gott: «Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!» (Gen 12,1). Land, Heimat und Verwandtschaft sind der Inbegriff der Normalität. Aber genau aus dieser Normalität musste Abraham aufbrechen in die Fremde, ins Unbekannte, ins Ungewisse. Und bis heute ist für die Juden der Exodus unter Mose ihre konstituierende Erfahrung als Volk und als Religion. Das Volk Gottes ist und bleibt ein Volk im Aufbruch, ein Volk auf Wanderschaft, ein Volk in der Fremde. Auch im Neuen Testament bestätigt Petrus diese Fremdheit der Christen: «Ihr wisst, liebe Geschwister, dass ihr in dieser Welt nur Ausländer und Fremde seid» (1Petr 2,11). Und Paulus redet davon, dass wir unser Bürgerrecht im Himmel haben (Phil 3,20). Aus der irdischen Normalität wurde für uns eine himmlische Identität. Das griechische Wort für Gemeinde (Ecclesia) heisst wörtlich «die Herausgerufenen». Wir sind herausgerufen aus den Normen der irdischen Gesellschaft. Unsere Zugehörigkeit, Heimat, Verbundenheit und Sicherheit nehmen wir nicht aus dem Bereich der irdischen Normalität, sondern aus der Kraft unserer himmlischen Identität. Was für uns Christen normal ist, orientiert sich nicht an irdischen Normen, sondern an himmlischen Werten. Nicht am gesellschaftlichen Konsens, sondern am Lebensstil Jesu. Als Bürger des Himmels hätte ich viel früher damit beginnen müssen, mich den Machtstrukturen der Normalität entgegenzustellen, mich auf die Seite der Diskriminierten, der Benachteiligten, der Fremden und der Vergessenen zu stellen und mich der betäubenden Wirkung der Normalität zu widersetzen.
3. Die Bedeutung von Solidarität
Dem Verlust der Normalität folgt der Verlust der Solidarität. Der höhere Energieverbrauch für ein Leben mit geringerer Normalität muss irgendwo kompensiert werden. Als Konsequenz konzentrieren wir uns auf uns selbst und müssen uns ganz neu zurechtfinden. Oft geht das auf Kosten der Solidarität, des Ehrenamts und der Hilfsbereitschaft. Alle wollen frische Brötchen am Sonntagmorgen, aber keiner will um 4:00 Uhr diese Brötchen backen. Alle wollen am Sonntag in die Notaufnahme gehen können, aber immer weniger Menschen sind bereit, am Wochenende zu arbeiten. Alle sind dankbar, wenn ihre Kinder im Sportverein gefördert werden, aber an vielen Orten fehlt es an ehrenamtlichen Trainern oder Trainerinnen. Ich erlebe einen dramatischen Rückgang an Solidarität in unserer Gesellschaft. Und der Grund ist nicht, dass Menschen so gottlos, böse und egozentrisch sind, sondern der Verlust der Normalität wird als so verunsichernd und anstrengend erlebt, dass keine Energie und Kapazität übrigbleiben. Als Christen werden wir keine neue Normalität erschaffen! Aber wir können eine Kultur der Solidarität prägen. Wir können unserem Umfeld auf Schritt und Tritt zeigen, was es heisst, solidarisch zu sein. Wir können vorleben, dass sich unsere Solidarität nicht aus der Normalität speist, sondern aus den Werten des Himmels und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unserem Leben. Wir können nicht erst dann wieder solidarisch sein, wenn wir in unserer Komfortzone zurückgefunden haben. Solidarität bezeichnet eine Haltung der Verbundenheit mit – und eine Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten, Bedürfnissen und Zielen anderer Menschen und Geschöpfe. Das ist nichts anderes als Nächstenliebe. Wie wäre es also, wenn wir als Kinder Gottes mithelfen würden, dort die Normalität zu hinterfragen, wo sie als Machtinstrument missbraucht wird, um Menschen oder diese Schöpfung zu dominieren, zu diskriminieren, auszubeuten oder auf ihre Kosten zu leben? Und wie wäre es, wenn wir unser eigenes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit weniger aus der Normalität um uns herum speisen, sondern viel mehr aus dem Bewusstsein, in dieser Welt Fremde zu bleiben, deren Heimat, deren Familie und deren Bürgerrecht im Reich Gottes und in unserem Vater im Himmel liegen? Und wie wäre es, wenn wir trotz dem Verlust an Normalität umso mehr um Solidarität bemüht sind? Wenn wir überall dort, wo wir sind, den Geruch der Solidarität hinterlassen und so unsere Gesellschaft inmitten des Normalitätsverlusts stärken? Diese drei Dinge wünsche ich mir für die Christen.
Dieser Artikel ist erstmals im Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2024 erschienen.
Foto von Christian Erfurt auf Unsplash
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