Wahrheit und Wahn in der postfaktischen Ära – und wir Christen da drin?

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~ 7 min

«Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten» (2. Mose 20,16)

«Prüfet alles, das Gute aber behaltet» (1. Thess. 5.21)

Seit jeher sind Wort und Bild Mittel der Verführung gewesen, doch haben uns die elektronischen Medien und die internationale und nationale Politik in der jüngeren Vergangenheit in neue Dimensionen der Halbwahrheit und Lüge katapultiert, beispielsweise mit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 (in diversen Analysen bei Reden von Trump nur noch 7–11 % Wahrheitsgehalt) oder im Rahmen der Abstimmung zum Brexit. Auch die aktuellen Präsidentschaftswahlen in den USA machen da keine Ausnahme. Verschiedene Analysten stellten fest, dass wir uns seither in einer sogenannten „postfaktischen Ära“ befinden, ein Begriff, der im 2016 zum Wort des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache wurde.

Schon im Wahlkampf 2016 hat Donald Trump unbegründet behauptet, die Wahlen würden gefälscht werden. Umfragen zufolge glaubte die Mehrheit der Menschen ihm dies. Donald Trump hat als einer der ersten gemerkt, dass Leute einfach glauben, was sie glauben wollen und dass er erzählen kann, was er will, ohne wirklich zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Und die Christen da drin? Es scheint erstaunlich, dass sich die Christen bis vor kurzer Zeit kaum zu dieser Frage zu Wort gemeldet haben, obwohl es hier um das 9. Gebot geht: «Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten» (2. Mose 20,16). Kümmert uns die Wahrheit noch? Glauben auch wir, was wir glauben wollen und was unserer vorgefassten Meinung entspricht? 81 % der evangelikalen Christen in den USA haben im 2016 trotz allem für Trump gestimmt.

Und in der Schweiz? Auch hierzulande wird in der Politik gelogen. Als ich im Rahmen der Steuergerechtigkeitsinitiative eine gläubige Parteisekretärin auf eine angstmachende, klar unwahre Aussage (alle Kantone müssten die Steuern erhöhen) ansprach, meinte sie, das stimme irgendwie in dieser Richtung schon… Dehnen wir den Begriff der Wahrheit zu stark? Und leisten Christen den Kirchen nicht einen Bärendienst, wenn ihre Lügen (und damit sie selbst) dann in der Öffentlichkeit in Frage gestellt werden?

Was steckt dahinter? Die Genese des Problems

a) Wem geglaubt wird

Die Welt ist komplexer geworden, viele Menschen verstehen sie nicht mehr. Die kleinen Leute haben das Gefühl, es werde immer schlimmer, fühlen sich aber machtlos. Das schürt das Misstrauen und Hass gegen „diejenigen, die bestimmen“, „den Eliten“, wer auch immer das ist. Kurios ist allerdings die Definition, wer nun die Eliten seien und wer nicht… Viele verstehen das Wirken von Strukturen nicht und meinen, es seien einzelne oder mehrere Übeltäter, die verantwortlich sind. Dies nährt den Glauben an Verschwörungstheorien.

Wenn die Medien diese Theorien nicht teilen, dann heisst es, die Medien lügen uns an und unterdrücken die Wahrheit, sind also Teil der Elite. Das generalisierte Misstrauen kann in Verfolgungswahn umschlagen.

Menschen suchen nach Halt. Das eigene Weltbild, und die eigene Welterklärung aufrecht zu erhalten ist überlebenswichtig. Unsere selektive Wahrnehmung sucht nach Bestätigung unseres Weltbildes. Eine bestätigende Information wird nicht hinterfragt, eine widersprechende schon. Und im Zeitalter des Internets finden wir so viele bestätigende Infos wie wir wollen, selbst die Google-Algorythmen bieten uns vor allem „mehr desselben“. Je mehr wir davon überzeugt sind, wer die Guten und wer die Bösen sind desto weniger interessiert es uns, ob eine Meldung wahr ist oder nicht. Wir haben die Tendenz, das zu glauben, was wir glauben wollen und das auszublenden, was wir nicht glauben wollen. Die Christen sind davon nicht ausgenommen: Es besteht in der evangelikalen Welt eine gewisse Angst vor der nichtchristlichen Welt, man fühlt sich bedrängt, verfolgt und zeigt bisweilen Minoritätsreflexe.

Das Aufkommen des Internets und der Social Media hat diesem Problem eine neue Dimension gegeben. Für alle Verschwörungstheorien findet sich jetzt eine «kritische Masse». Für die in Blogs angebotenen Informationen muss keine Rechenschaft mehr gegeben werden. Wer nicht einverstanden ist konsumiert in Zukunft andere Seiten. Über die Social Media verbreiten sich jegliche Informationen in Windeseile, unkontrolliert, nicht rechenschaftspflichtig, und sie werden oft gar von Bots generiert. Wenn eine falsche, aber erschreckende Information die gewünschten Emotionen bei den Adressaten generiert hat ist es zu spät: Eine Richtigstellung in der Öffentlichkeit erreicht meist nicht die gleichen Adressaten. Ist echte Aufklärung überhaupt noch möglich?

b) Warum wir selber lügen

Die schnellen gesellschaftlichen und technischen Veränderungen generieren Haltlosigkeit, Weltangst und Angst vor Nächsten. Wir suchen das Böse ausserhalb von uns, unsere politischen Gegner sind die Bösen. Um uns zu retten müssen wir also gegen diese kämpfen. Der Kampf «auf den Mann» hat in der Politik in den letzten 25 Jahren zugenommen, bis zur Verteufelung der Gegner, wie z.B. in einer in alle Haushalte verteilten Zeitung zur Unternehmenssteuerreform (siehe Bild).

Das Angst verleitet uns zum Lügen, denn die «gute Sache» muss um jeden Preis gewinnen, da sonst der Abgrund droht. Gewisse Menschen wähnen sich in einem gigantischen Kampf, wo alle Mittel erlaubt sind. Es geht also nicht um die Wahrheit, sondern um den Sieg und die Herrschaft der Guten.

Meist aber glauben wir unser Unwahrheiten «irgendwie» selber: Wir dehnen dann den Wahrheitsbegriff sehr stark und vermischen die Realität mit dem eigenen Weltbild. Wir sagen oder hören manchmal «Ich glaube halt/an …» So biegen wir die Wirklichkeit zurecht, damit sie ins eigene Weltbild passt.

In der Politik scheuen auch Christen nicht davor zurück, ungeprüfte Gerüchte und Vorurteile, Halbwahrheiten und Lügen zu verbreiten. Wähnen auch wir uns in einem gigantischen Kampf, in dem alle Mittel erlaubt sind, weil wir ja «das Gute» verteidigen, so quasi im Kampf der Endzeit?

Hat aber Gott gesagt, das neunte Gebot sei irrelevant, wenn wir meinen, dass wir die Guten sind oder die Sache o.k. ist? Ist es nicht Hybris, zu denken, das wir über den Geboten stehen können? Dürfen wir so sicher sein, dass wir die Guten und die Gegner die Bösen seien? Hat Gott gesagt, die Christen seien besser oder hätten automatisch die besseren Ziele in der Politik? Aber es ist so verlockend, zu glauben, unsere Ziele seien besser, weil wir Christen sind. Das ist eigentlich Stolz!

Genügt ein gutes Gewissen, um auch unwahres Zeugnis zu geben? Nein, denn kaum jemand hat schlechtes Gewissen, da immer Rechtfertigungsideologien zur Verfügung stehen oder manche sich gar uns in einem Sendungsbewusstsein wähnen.

Oder kann man sagen, dass alles sowieso nur Meinung ist und man die Wahrheit nicht kennen kann? Nein, sonst würde das neunte Gebot obsolet. Aber eine solche Meinung ist verlockend, da sie uns vor unbequemen Fragen befreit. Oder hat uns die Werbung derart abgestumpft, dass wir gar nicht mehr an die Wahrheit glauben?

Wir sehen, dass der Postmodernismus die Gesellschaft mit seiner ganzen Wucht erreicht hat. Im Jahr 1979 beschrieb Jean-François Lyotard als erster den Postmodernismus, also die Ablehnung der Möglichkeit, dass es eine Wahrheit gibt: Er warnte aber auch, dass in Zukunft nur noch die Macht des Stärkeren gilt, wenn die Gesellschaft nicht mehr auf richtig und falsch pochen kann. In der Demokratie heisst das nun: Wer am Besten mit Emotionen spielen kann und wer das beste Megaphon hat, der gewinnt! Dies wird „postfacts politics» genannt: Hauptsache man gewinnt, die Wahrheit ist nur Detail. Die Leute glauben sowieso das, was sie glauben wollen, also werden sie entsprechend bedient.

Warum ist das überhaupt ein Problem?

Klar ist die Wahrheitsfindung immer ein ganzer Prozess, und niemand kann abschliessend die Wahrheit besitzen. Denn es gibt immer verschiedene Perspektiven auf dieselbe Sache. Aber wichtig ist Verlässlichkeit. Wahrheit ist nicht ein Detail im Kampf: Die Unwahrheit wirkt zersetzend auf die Gesellschaft: Wo die Wahrheit fehlt wird Vertrauen zerstört und nimmt das gegenseitige Misstrauen zu. Misstrauen aber zerstört die Nächstenliebe. Nicht umsonst kommt das Wort Teufel von Diabolos, der Verdreher. Die Umkehrung der Wahrheit ist also eine der Haupteigenschaften des Teufels, der Mutter aller unserer Probleme. Unwahrheit über den Nächsten ist Hetze und schafft noch mehr Vorurteile, Entzweiung und damit die Grundlage von Bürgerkriegen.

Wahrheit heisst also Ehrlichkeit, Faktentreue, Verlässlichkeit. Bei der Suche nach Lösungen, bei Gesetzgebung und bei Abstimmungen brauchen wir verlässliche Informationen, um das Gute zu entscheiden. Wir müssen aber auch danach suchen und nicht bei der Ideologie stehen bleiben. Und vom Gesetzgeber erwarte ich anderes als z.B. Aussagen wie „Ich glaube halt an die Freiheit“, sondern die sachliche Auseinandersetzung mit einem Problem und konkrete Lösungsfindung. Alles Andere ist schlechte Landesführung!

Die Idee, auf Grund von einzelnen Erfahrungen alles zu wissen («ich sehe es ja selber») und wissenschaftliche Erkenntnisse deshalb zu ignorieren ist Überschätzung der eigenen Wahrnehmung und damit Stolz. Oder vielleicht auch massives Misstrauen gegen «die Eliten».

Verschwörungstheorien sind wiederum deshalb gefährlich, weil sie auf falsche Fährten führen und systeminhärente Ursachen von Problemen überdecken. So können wir bestehende Probleme gar nicht mehr lösen!

Politische Meinungsbildung für gute Entscheide ist gar nicht mehr möglich, wenn die Wahrheit gar nicht mehr gesucht wird oder wenn verlässliche Information nicht mehr wahrgenommen werden kann.

Wie können wir Wahrheit finden?

Wir fragen uns, wem man noch trauen kann. Doch die Frage könnte auch anders lauten: Wie können wir prüfen, was wahr ist und was nicht? Dazu gibt es sicher viele Wege. Aber grundsätzlich gibt es zwei Achsen:

  • Uns selber prüfen und die eigene Wahrnehmung reflektieren
  • Fakten prüfen: Zum Beispiel Quellen verfolgen, die Transparenz von Websites prüfen, etc.

Wie können wir von der Politik und den Medien, vor allem von den sozialen Medien und Autoren auf dem Internet Rechenschaft verlangen? Erheben wir die Stimme, konfrontieren wir die Absender und Politiker persönlich!

Hat die Wahrheit noch eine Chance?

Sind wir auf verlorenem Posten, wenn Lügen attraktiver sind als Wahrheit? Nein, wir können (und müssen) die Wahrheit zum Thema machen! Und nicht nur bei den politischen Gegnern, sondern auch in unseren eigenen Kreisen! Die Diskussion muss geführt werden! Wir brauchen vielleicht auch ein Übereinkommen, was wir unter Wahrheit verstehen und was wir brauchen.

Ein paar Wege dazu:

  • Wahrheit zum Thema machen und die Menschen wieder dafür begeistern
  • Wahrheit aufzeigen: Faktencheck wie bei Organisation wie www.politifact.com.
  • Eine Kommission, die News, Gerüchten und Verschwörungstheorien auf den Grund geht
  • Einen Werkzeugkasten zum Reality Check zur Verfügung stellen
  • Unabhängige Medien stützen und nicht zum Spielball von Investoren werden lassen
  • Vertrauen in die Wissenschaft fördern
  • Die Weltangst nehmen!
  • Wahrheit vermitteln, ohne unter Druck setzen

Denn Wahrheit darf nicht zur Unterwerfung missbraucht werden. Denn die richtige Darstellung von Facts in einer politischen Diskussion ist ja nur ein Element für die Entscheidungsfindung. Dann muss ein Konsens gefunden werden, was das Beste für alle ist.

ChristNet ist überzeugt, dass die Christen das Zeug haben, Werte wie Aufrichtigkeit, Wahrheit und Verlässlichkeit wieder ins Zentrum zu rücken, ja zu verkörpern, und dies ohne Machtanspruch. Dazu müssen wir selber verlässlich sein: Wie, wenn uns die Zeit für den Faktencheck beim Textschreiben fehlt? Gar nicht so einfach!


Photo by Ehimetalor Akhere Unuabona on Unsplash

2 Kommentare
  1. Peter Henning
    Peter Henning sagte:

    26.1.2021 „…bis vor kurzer Zeit kaum zu dieser Frage zu Wort gemeldet haben…“
    Diese Aussage im 3. Absatz muss korrigiert werden. Bereits im Mai 2018 haben namhafte evangelische Persönlichkeiten ein beeindruckendes Memorandum „Reclaiming Jesus“ in Anlehnung an die ‚Barmer Erklärung‘ 1934 (wir bekennen – wir verwerfen) veröffentlicht. Bemerkenswert, dass dieses Dokument nie in hiesigen evangelikalen Publikationen wie ideaSpektrum erwähnt wurde!
    Abgesehen von dieser Ergänzung: Danke für die Ausführungen, die hoffentlich in (Frei-)Kirchen diskutiert werden.

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