Das liberale Menschenbild: eine biblische Kritik

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Mit diesem Text möchte ich erklären, wie die liberalen Theorien den Menschen beschreiben. Gleichzeitig untersuche ich die Sicht der Bibel und vergleiche die beiden Ansätze miteinander.

1.    Der rationale und gewinnorientierte Mensch

Die liberalen Denker beschreiben den Menschen als Wesen, das rational handelt und auf dem Markt immer auf Gewinnsteigerung aus ist. Er strebt immer grössere Effizienz an, um das Verhältnis zwischen Aufwand1  und Ertrag2ständig zu verbessern. Sein Verhalten beruht demnach nicht auf vorgefassten Werten, sondern passt sich von Fall zu Fall den Mitteln an, die den grössten Ertrag versprechen.

Diesem Postulat des rationalen Menschen steht entgegen, dass das Verhalten der wirtschaftlichen Akteure auch durch andere Faktoren beeinflusst wird: soziokulturelle Werte, persönlicher Geschmack usw. Auch die Bibel äussert sich detaillierter zum Thema: Sie sieht im Menschen ein komplexeres Wesen als einen simplen und immer konsequentenhomo oeconomicus. Der Mensch ist sündig und vereint zwei gegensätzliche Willensausprägungen, wie das platonische Gleichnis des Pferdegespanns veranschaulicht: Mal will er das Gute tun, mal das Böse. Die Bibel nennt das den Kampf zwischen Fleisch und Geist. Der Mensch soll gegen das Fleisch kämpfen und es täglich ans Kreuz tragen; er soll seine Fehler einsehen und Busse tun. Diese Haltung ist dem neoliberalen Menschenbild völlig fremd. Anders gesagt: Wir sind berufen, vorsichtig und selbstkritisch zu bleiben. Für uns Christen, die vom Heiligen Geist erneuert sind3, sollten geistliche Anliegen vor dem fleischlichen Materialismus Vorrang haben. Darum ist das liberale Menschenbild vereinfachend, monokausal oder gar utopisch, da es die Funktionsstörungen und Fehlverhalten des Menschen nicht in Betracht zieht.

Gleichzeitig widerspiegelt es eine zu pessimistische Sicht des Menschen, der sich vom Gewinn treiben lasse, ohne sich um andere Fragen zu kümmern. Gewiss ist der Mensch Sünder und egoistisch, doch hindert ihn das keineswegs daran, sich für soziale Hilfswerke zu engagieren, Mönch zu werden oder eine nichtgewinnorientierte Tätigkeit anzunehmen (Krankenpflege, Sozialarbeit, Pfarramt, Gewerkschaft usw.). Noch gefährlicher ist der Ansatz von Friedmann, der behauptet, die Gewinnsteigerung sei ein moralischer Wert für sich. Dies zeigt, dass die Theorie des Neoliberalismus’ über ihren Anspruch als Wissenschaft hinausgeht, denn wir treten hier in den Bereich der Ethik und Theologie ein. Sollte dieser Ansatz auf andere Bereiche ausgedehnt werden, könnten seine totalitären Ansprüche nicht weiter verborgen werden. Die Frage stellt sich dabei, wie ein solches Ideal in den öffentlichen Diensten umgesetzt werden kann. Wer wünscht sich denn einen Staat, in dem die Beamten lieber der Steigerung ihres Gewinns nachgehen, als dass sie das Gesetz anwenden?

Weitere Punkte kommen hinzu: Erstens beinhaltet der Gewinn zwei verschiedene Konzepte: Er kann einerseits einfach das sein, was übrigbleibt, wenn man den Verlust vom Ertrag abzieht. Er kann sich aber auch auf den Mehrgewinnbeziehen, der sich aus dem Vergleich des Gewinns eines Wirtschaftssubjekts mit dem relativ kleineren Gewinn der übrigen Marktteilnehmer ergibt. Man spricht beispielsweise von Mehrgewinn, wenn ein Unternehmen mehr als 20% Gewinn erzielt, während sich der marktübliche Gewinn auf unter 10% beläuft.

Zweitens war während der Industrialisierung die Gewinnsteigerung nicht immer das einzige Ziel der Unternehmer. Oft wurden die Gewinne zu ideologischen und politischen Zwecken verwendet. So hat der Erfolg insbesondere Henry Ford und Frederick Winslow Taylor dazu gebracht, sich besser um ihre Mitarbeiter zu kümmern und ihnen Weiterbildung, Wohnraum und „Erziehung zu guten Sitten“4 anzubieten. Oft widersprachen diese von nicht-geldlichen Zielen motivierten Massnahmen dem Gedanken der Gewinnsteigerung diametral. Übrigens beinhaltet diese Haltung das Konzept der Langfristigkeit in der Unternehmensführung.

Das Wirtschaftssubjekt versucht also nicht nur, seinen Gewinn zu steigern, sondern orientiert sich auch an seinen Werten und Ideologien. Dadurch wird die Fragestellung eindeutig auf die ethische und geistliche Ebene ausgedehnt. Dies gilt insbesondere für die Frage der Langfristigkeit und der Stabilität im Wirtschaftsbereich. Der christliche Mensch sollte darum geistliche und humanistische Werte vor materialistische und egoistische Überlegungen stellen. Er sollte sich vom Heiligen Geist leiten lassen und nicht von seinen materiellen Bedürfnissen und das Geldausgeben zur ethischen Frage machen.

2.    Der selbständige und autonome Mensch

Eine zweite Behauptung der liberalen Theorie lautet, der Mensch sei im Umgang mit seiner Existenz unabhängig und auf sich gestellt, er sei von niemand abhängig. Der Gedanke der Autonomie findet sich in der liberalen Definition von Solidarität wieder. Demnach empfängt der bedürftige Mensch seine Hilfe zuerst von der Familie, dann von Bekannten und schliesslich von der Dorfgemeinschaft. Der Staat soll dabei erst als letzte Instanz einspringen. So haben wir es mit einer Gruppe isolierter Einzelpersonen zu tun, deren soziale Bindung sehr schwach ist; als ob diese Bindung zweitrangig oder sogar schlecht wäre. Auch wenn diese Sicht von Solidarität auf den ersten Blick durchaus akzeptabel und legitim erscheinen mag, ist die verborgene Botschaft in Tat und Wahrheit die Ablehnung von allem, was kollektiv ist, wie z.B. dem Gemeinwohl oder dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Warum sonst sollte die Definition der Gesellschaft ausschliesslich beim Einzelnen ansetzen? Ist es tatsächlich möglich, eine Gesellschaft zu bauen, indem Individuen mit begrenzten und zufälligen Beziehungen angehäuft werden? Wo bleiben da die augenfälligen kollektiven Phänomene (Mode, Schaffung einer kollektiven Identität, in der sich das Ich über das Wir definiert usw.)? Diese Sicht verrät die Illusion, wonach sich jeder Mensch selber genügt, ohne auf Gott angewiesen zu sein. Das erinnert an Nietzsches Utopie des stolzen „Übermenschen“, der sich jeglicher „moralischer Fessel“ entledigt hat.

Dem gegenüber stellt die Bibel den Menschen in ein kollektives Umfeld, auch wenn sie den persönlichen Aspekt des Einzelnen5 respektiert und sogar verteidigt. Der Mensch lebt vor allem in der Beziehung zu Gott6 und den Menschen. So ist der Christ berufen, in der Kirche7, dem Leib Christi, freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Die Kirche ist dabei nicht uniform, sondern durch die Bindung der Liebe und Solidarität zusammenhängend und geeint8. Gott hat demnach den Menschen nicht geschaffen, damit er allein und isoliert sei (und um diesen Zustand zu verherrlichen), sondern im Gegenteil, damit er mit Gott und den Menschen Beziehung pflege. Das atomistische Weltbild9 der Liberalen entspricht also weder der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch dem biblischen Weltbild.

3.    Der Mensch als Zentrum der Welt

Weiterhin behaupten die Liberalen, der Mensch stehe im Zentrum der Welt und beherrsche die Schöpfung souverän. Sein Verhalten unterstehe seinem freien und unabhängigen Willen. Gewiss hat Gott dem Menschen bei der Schöpfung aufgetragen, den Tieren im Garten Eden einen Namen zu geben10 und über sie zu herrschen11. Doch diese Herrschaft entspricht nicht automatisch einer Menschenzentriertheit, denn die Bibel verlangt gleichzeitig Verantwortung gegenüber Gott. Die Menschenzentriertheit des Liberalismus vernachlässigt die Sünde des Menschen. Die Bibel sagt klar, dass auch der Mensch geistlichen12, moralischen und physikalischen Realitäten und Grenzen unterworfen ist. Die Anerkennung dieser Grenzen seiner Bewegungsfreiheit sollte ihn demütig machen, gerade im Umgang mit der Schöpfung.

Im Gegensatz zur liberalen Behauptung steht der Mensch also nicht im Zentrum der Schöpfung. Er leidet an seiner sündigen Natur, er lebt in der Abhängigkeit von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Das Postulat der Menschenzentriertheit erscheint zwar in mancher Hinsicht optimistisch, es scheint die Würde des Einzelnen zu fördern, gleichzeitig widerspiegelt es aber den Stolz des Menschen seiner Umwelt gegenüber. Die Bibel erinnert uns daran, dass Hochmut oft vor dem Fall kommt.13

4.    Der eigenverantwortliche Mensch

Schliesslich wird behauptet, der Mensch sei durchaus fähig, sich um sich selber zu kümmern. Dieses Postulat der Eigenverantwortung wird oft benutzt, um staatliche Sozialleistungen zu kürzen, weil sie, so die Argumentation, unnütz seien und den Bezüger vom Staat abhängig machten. Hinter diesem Gedanken finden wir wieder das Bild des selbständigen und idealen Menschen. Dabei sagt die Bibel ganz klar, dass wir unserer sündigen Natur14 unterworfen sind, die uns zu verantwortungslosem Verhalten treibt: Autofahren unter Alkoholeinfluss oder Rauchen trotz Krebsrisiko. Welch schöne Beispiele von Eigenverantwortung! Um dieser Natur zu widerstehen sind wir auf die Erneuerung durch den Heiligen Geist angewiesen.

Ausserdem ist das Konzept der Eigenverantwortung zu kritisieren, weil es zu verstehen gibt, dass es überflüssig ist, dem Nächsten zu helfen – oder sich helfen zu lassen. Ein schwerer Schlag für die Solidarität. Und das obwohl das Neue Testament vom Amt der Diakonie spricht, womit unter anderem die Sorge für die Schwächsten der Gesellschaft, wie z.B. Kranke, Witwen und Waisen, gemeint ist. Mit dem neoliberalen Bild wird uns ein Mensch angepriesen, der wild ist und kurzfristig und fatalistisch denkt, da ja die Marktmechanismen ohnehin die Wirtschaft bestimmen… Dabei geht vergessen, dass ja auch der Wirtschaftslauf immer von menschlichen Entscheiden bestimmt wird, sei das auf Gesetzes-, geldpolitischer oder Unternehmensebene.

Wenn wir in unseren Betrachtungen noch etwas weiter gehen, fällt auf, dass das liberale Menschenbild so etwas wie ein „inneres Loch“ voraussetzt. Der Mensch ist ja so frei, er trägt in sich eine „heilige Kammer“, auf die die Gemeinschaft, das kulturelle Umfeld und andere Instanzen keinen Zugriff haben. Da dies als normal und rechtmässig angesehen wird, kann fast Alles aus dieser „Black Box“ kommen. Dies kann äusserst gefährlich sein, da hier keine moralischen Massstäbe gelten. Natürlich widerspricht das jeglicher Wirklichkeit, hat doch jeder Mensch seine eigene Geschichte und Persönlichkeit und ist von seinem Umfeld geprägt. Eine andere Gefahr dieses Menschenbildes liegt darin, dass die Menschen sehr uniform beschrieben werden. Das weckt Erinnerungen an totalitäre Regimes wie unter Stalin oder Hitler, wo der Einzelne ohne Unterschied in einer rassischen oder klassenbedingten Masse aufging. Beim Liberalismus geht er eher im Markt auf, auf dem er mit gleicher Vernunft, gleicher Autonomie, gleicher Eigenverantwortung usw. tätig ist.

In der Bibel lesen wir aber, dass der Mensch nicht leer und uniform geschaffen ist. Gott unterhält mit jedem von ihm geschaffenen Menschen eine ganz besondere Beziehung, da jeder Mensch einzigartig ist. Gleichzeitig ist Gott immer um Gerechtigkeit und Gleichbehandlung besorgt, denn „Gott schaut nicht die Person an“15. Die biblische Sicht übertrifft demnach die liberale Theorie an Komplexität, und das trotz der angeblichen Wissenschaftlichkeit des Liberalismus’. Der Mensch der Bibel kommt der alltäglichen Wirklichkeit viel näher, da die Bibel mit allen Aspekten des menschlichen Weltbildes und Verhaltens, aber auch mit seiner Verstiegenheit und Widersprüchlichkeit rechnet.

Thomas Tichy, Politologe, 2004

Übersetzung: Samuel Ninck

 


1. …oder erwartete Kosten…

2. …oder erstrebtem Gewinn…

3.  von neuem geboren: Titus 3,5-7.

4. Paternalismus.

5. So beruft uns Jesus, eine persönliche Beziehung mit Gott zu unterhalten. Matthäus 6,5-6.

6. Leider beeinträchtigt die Sünde diese Beziehung. Bezug herstellen zum Konzept des Bundes im Alten und Neuen Testament.

7. Die Rede ist hier nicht von der Kirche als Institution oder Organisation, sondern von der „weltweiten Kirche“, d.h. der Christen, die frei sind, sich zu organisieren wie sie wollen, mit oder ohne Hierarchie.

8. „Wenn ein Glied leidet… (1. Korinther 12) Wir können nicht über Solidarität sprechen, ohne die Solidarität der Urkirche zu erwähnen, in der die Güter zusammengelegt wurden. Dies hat keinen zwingenden Charakter, sondern zeigt beispielhaft, dass sich der Mensch andere Verhalten haben kann als den Egoismus, den der Neoliberalismus nahe legt.

9. In diesem Zusammenhang werden mir gewisse Liberale dankbar sein, dass ich nicht Tocqueville erwähnt habe. Dieser Autor beschreibt die amerikanische Gesellschaft und weist auf die wichtige Rolle hin, die die Bürgervereinigungen dort am Anfang des 19. Jahrhunderts gespielt haben.

Dem ist entgegen zu halten, dass nicht alle Liberalen Schüler von Tocqueville sind und dass die Bürgervereinigungen (Bürgerbewegung) doch immer im übermächtigen Schatten des Einzelnen stehen. Es gibt keine Garantie dafür, dass der Einzelne den Entschluss fasst, auf die Anderen zuzugehen und sich mit ihnen zusammen zu schliessen. Im Gegenteil kann er sich ohne Weiteres für ein einsames und zurückgezogenes Leben entscheiden, da das Grundpostulat, dass er frei ist, weiterhin gilt..

10. 1. Mose 2,19-20. Römer 7,14-19.

11. 1. Mose 1,26.28-30.

12. Galater 5,17.

13. Sprüche 16,18.

14. Römer 7,14-19.

15.  z.B. Kolosser 3,25.

Photo by Anjali Mehta on Unsplash

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