~ 6 minDie Mutter und Ärztin Cornelia Hässig übt mit ihrer Familie das bewusste Konsumieren gemäss klar definierten Werten. Wie das im Alltag gelingt, und wo die Grenzen sind, beantwortet sie in unserem Interview.
Ruth M. Michel: Cornelia Hässig, welche Stichworte fallen dir zum Thema „konsumieren“ ein?
Dr. Cornelia Hässig: Erstens: Die heutige Werbung ist auf Dauerkonsum ausgerichtet. Zweitens: Die meisten Leute denken nicht an die weltpolitischen Konsequenzen ihres Konsumverhaltens. Drittens: Konsum ist wie ein neuer Gott; der Götze der heutigen Zeit, der vorgaukelt: „Je mehr du konsumierst, desto glücklicher bist du.“
Du kannst dich davon ausnehmen?
Zu 98 % schon. Ich kaufe bewusst ein. „Lädele“ beispielsweise sagt mir nichts.
Was heisst für dich „verantwortungsbewusst konsumieren“?
Ich stelle mir Fragen wie
– Brauche ich diese Produkte, diese Dienstleistung überhaupt? Bei Lebensmitteln ist dies einfacher zu beantworten als bei Kleidern, wo die Kinder diese Frage anders beantworten als ich.
– Wie produziert? Woraus? Woher? Transportweg? Qualität? Saisongerecht?
Ich bevorzuge Güter mit einem kurzen Transportweg. Damit kann ich als Konsumentin den Energieverbrauch beeinflussen. Ein Beispiel: Kaufe ich schon im Februar Spargeln aus Kalifornien, oder warte ich, bis jene aus dem Züricher Oberland angeboten werden? Transportwege belasten die Umwelt. Südfrüchte aus Spanien und Italien liegen drin. Aber bei uns gibt es keine Erdbeeren aus Spanien. Da warte ich auf die Schweizer Früchte, und dann schwelgen wir so richtig im Saisonalen. Das ist ein bewusster, momentaner Verzicht mit Erlebniswert: einem intensiveren Genuss. Oder: Ich kaufe IP-Milch, die in Uster, kaum 10 Kilometer von uns entfernt, produziert wird, obwohl ich eigentlich Bio-Produkte vorziehe.
Welche Werte leiten dich beim Konsumieren?
– Kleinräumig einkaufen: Lokaler Bäcker, Käse, Milchprodukte, obwohl es normalerweise teurer ist als beim Grossverteiler.
– Ökologisch: Biologisch angebaut, kurze Transportwege, wenig Energieeinsatz bei der Herstellung (kein Hors-Sol-Gemüse). Ich habe auch einen eigenen Garten.
– Kein Gentechfood. Zum Beispiel keine Leisi-Produkte mehr. Als Konsumentin übe ich Macht aus. Gentech-Food konnte in der Schweiz nicht Fuss fassen, weil die Leute es nicht kaufen wollten. Leisi behält sich vor, Gentech-Produkte einzusetzen. Deshalb kaufe ich ihre Produkte nicht.
Wie informierst du dich?
In der Tagespresse und durch kurz gefasste Publikationen von Fachgruppen, z.B. von der Erklärung von Bern (EvB)1.
Denkst du beim Kaufen an die Menschen, die den Artikel produziert haben?
Nicht mehr immer ganz bewusst, weil sich das Wissen mit den Jahren automatisiert hat. Ich weiss einfach, unter welchen Umständen Bauern in Afrika Kaffee oder Tee anbauen. Mit dieser jahrelangen Übung ist das bewusste Konsumieren auch nicht mehr so aufwändig. Zudem bin ich lockerer geworden, d.h. ich bin nicht mehr ganz so streng und konsequent. Denn je grösser die Familie ist, desto höher sind die Ausgaben. So kann ich nicht mehr alles hundertprozentig durchziehen, bei Kleidern beispielsweise. Ich will nicht Hosen für 200 Franken kaufen (wie sie der Naturkatalog anbietet). Weil mich kein Statusdenken prägt, kaufe ich viel im Brockenhaus oder anderen Secondhand-Läden ein. So verhelfe ich einem Kleidungsstück zu einer längeren Lebensdauer, auch wenn es unter unguten Bedingungen produziert worden ist. Auch Switcher-Laden, Migros und Coop sind vertretbar. Zudem trage ich die Kleider, bis sie „zerfallen.“
Oft höre ich den Einwand: „Diese Art des Konsumierens ist mir viel zu aufwändig.“ Warum leistest du diesen Aufwand?
Gerechtigkeit leben ist ein biblischer Anspruch. Gerechtigkeit den produzierenden Menschen in der Schweiz und in der dritten Welt, aber auch den nachfolgenden Generationen gegenüber. Ich will nicht zur Vernichtung von Arbeitsplätzen beitragen. Zum Ehren und Bewahren der Schöpfung gehört, dass ich nicht unnötig die Luft verpeste.
Die letzten Monate waren in der Schweiz geprägt von einer „Geiz ist geil“-Mentalität und dem Kostendruck auf die Detailhändler. Welche Rolle spielt der Preis bei deinen Einkaufs-Entscheiden?
Das Produkt darf nicht fünf Mal teurer sein. Aber auch ein in der Boutique gekauftes Kleidungsstück kann unter schlimmen Arbeitsbedingungen hergestellt worden sein.
Wie erklärst du deinen Teenagern, dass sie keine Kleider z.B. von H&M kaufen sollten, weil die Produzenten nur minimale Sozial- und Ökostandards gewährleisten?
Als Mutter kann ich Samen streuen und hoffen, dass etwas hängen bleibt. Mit interessanten Materialien der Erklärung von Bern studieren wir zusammen, welcher Hersteller und Verkäufer nach welchen Kriterien arbeitet. Zum Beispiel wie viel eine Nike-Näherin verdient im Vergleich zu einer Migrosnäherin. Die Broschüre „Prêt-à-Partager“ eignet sich vorzüglich dazu (vgl. Seite 16).
Inwieweit leiten dich „Labels“ beim bewussten Konsumentscheid?
Ein Beispiel ist MSC für Fisch. Wobei es oft mühsam ist, Fische mit diesem Label zu finden. Deshalb kaufe ich sie auf dem Markt, weil in der Migros wenig angeboten wird. Ich verzichte also auf Meeresfische, weil die Meere sowieso eher überfischt sind. Dann Bio, Max Havelaar, KAG (Eier), FSC (Holz), bei Coop Agri-Natura, Kleider von der Migros.
Warum und worauf verzichtest du bewusst?
Als Familie verzichten wir auf ein Auto, auf grossen Wohnraum und nach Möglichkeit auf weite Flüge, zum Beispiel nur alle 15 Jahre ein Fernflug und alle 5 Jahre nach Kreta. Dann ist es aber etwas Besonderes. Ich verzichte auf das Mitgehen mit der Mode. Und ich verzichte bewusst auf die Ausübung meines Berufes als Ärztin und damit auf ein zweites Einkommen, um für die Kinder da zu sein.
Das heutige Freizeitverhalten ist oft mit Energiekonsum verbunden. Tennis wird bei uns im Sommer gespielt, nicht im Winter in der geheizten Halle.
Was sagst du zum Einwand: „Einzelaktionen nützen doch nichts, sie sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein“?
Konsumdruck von unten kann etwas auslösen, wie die Beispiele Bananen oder Genfood zeigen. Das Beispiel Gentechnologie zeigt, dass Einzelaktionen Wirkung haben, wenn sie breit abgestützt sind. Max Havelaar hat sich trotz jahrelangem Sperren der Grossverteiler dank der Beharrlichkeit der Verbraucher heute durchgesetzt.
Macht das Boykottieren von bestimmten Produkten oder Firmen Sinn?
Warum nicht? Aber wenn man boykottiert, muss man es die Firma wissen lassen und mailen oder Briefe schreiben.
Welche Möglichkeiten habe ich neben meinem privaten Kaufentscheid auf gesellschaftspolitischer Ebene?
Der Erklärung von Bern beitreten. So hat diese Organisation eine Stimme mehr und damit mehr Macht auf politischer Ebene. Oder ich trage die Clean-Cloth-Campaign mit, die bis heute schon viel erreicht hat. Ich wähle diejenige Partei, die bezüglich Konsumfragen oder Umgang mit Flüchtlingen vernünftige Positionen vertritt.
Wie bringst du dich auf einen Wissenstand, der dir bewusstes, zum Beispiel saisongerechtes, Konsumieren ermöglicht?
Das Grundwissen habe ich aus Büchern zum Thema. Was ist saisongerecht? Beim Grossverteiler kann man es nicht mehr lernen, man muss sich eine Tabelle anschaffen. Am einfachsten ist das Wissen mit einem eigenen Garten zu erlernen. Ein weit verbreitetes Vorurteil ist, dass es im Winter kein gescheites Gemüse gäbe. Es gibt aber Lagergemüse. Und auf dem Markt oder beim Bio-Bauern sind gewisse Gemüsesorten erhältlich, die wir gar nicht mehr kennen, z.B. Wurzelgemüse wie Pastinaken. Ich habe ausserdem die kurz gefassten, guten Informationen der „Erklärung von Bern“, der „Schweiz. Arbeitsgruppe Gentechnologie“ und den „Basler Appell Gentechnologie“ abonniert. Auch lese ich die WWF-Informationen.
Wie begeisterst du Menschen, eurem Beispiel zu folgen?
Diese Anfangshürde, sich Basisinformationen anzueignen, muss jede und jeder nehmen. Nachher automatisiert sich vieles. Wichtig ist, dass wir in Beziehungen investieren statt viel zu konsumieren. Selbstverwirklichung durch Konsum ist beziehungsfeindlich.
Für mich ist es ein geistliches, von der Bibel her gegebenes Muss, mich mit Konsumthemen zu beschäftigen. Ich bin aber nicht dogmatisch, wenn meine Familie keinen Vollreis mag. Ich kann die Welt nicht retten, aber ich werde einst vor Gott stehen und will ihm dann Antwort geben können auf die Frage, wie ich Gerechtigkeit gelebt und Sorge zur Umwelt getragen habe. Ich will sagen können: „Ich habe getan, was ich konnte.“ So steht hinter allem Konsumieren die Frage: „Kann ich vor Gott verantworten, wie ich gelebt habe?“
Dr. med. Cornelia Hässig, 45, ist Familienfrau, Waldspielgruppenleiterin und – zurzeit nicht praktizierende – Ärztin. Sie ist verheiratet mit Werner. Das Paar hat drei Kinder im Alter von 16, 11 und 9 Jahren).
Autorin: Ruth. M. Michel
Quelle: Bausteine/VBG