Von der Logik des Hortens zur Logik des Gebens

~ 5 min

Input an der Feier zum Chouf-nüt-Tag 2012 in der Heiliggeistkirche in Bern.

Zachäus begegnet Jesus, Lk 19,1-10 NGÜ

Was für eine Transformation! Gehen wir doch dem ein bisschen auf die Spur, wie dieser Zachäus verwandelt wird. Zachäus lebt in der Grenzstadt Jericho. Er ist oberster Zolleinnehmer. Die Gesellschaft blickt verächtlich auf ihn als auf einen, der mit unlauteren Machenschaften Geld scheffelt, der einen riesigen Lohn einsackt auf Kosten anderer. Das Horten für sich selbst ist sein Geschäft. Zusätzlich treibt er als Chef des Zolls Händel mit Heiden, was frommen Juden ein Dorn im Auge ist. Als Handlanger der römischen Besatzungsmacht ist er in seiner Gesellschaft geächtet.

Seine Position könnte ihn selbstgenügsam und verschlossen machen, reich und satt. Aber nein, es ist ganz anders. Als er davon hört, dass Jesus durch die Stadt zieht, von dem er schon einiges gehört hat, ist er neugierig. Seine Neugier lässt ihn einen Weg pfaden durch die Menge und sich einen Platz suchen auf dem Maulbeerfeigenbaum. Dort klettert er hinauf, in der Hoffnung, dass er dort eine privilegierte Sicht auf das Geschehen hat, im Sinne von: Sehen, aber nicht gesehen werden.

Jesus zieht zielstrebig durch Jericho weiter, sein Ziel Jerusalem fest im Blick. Doch unerwarteterweise lässt er sich aufhalten. Er steuert geradewegs auf Zachäus zu, er scheint ihn und seine Sehnsucht genau zu kennen und spricht ihn mit seinem Namen an: „Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.“

Eigentlich ist das ja ziemlich frech von Jesus, sich einfach so selber einzuladen. Geht es ihm denn darum, etwas zu bekommen, ein feines Essen serviert zu kriegen? Zachäus freut sich auf jeden Fall und steigt schnell auf das Angebot ein. „Was? Genau zu mir will der kommen, wo mich doch alle wegen meinem Beruf und Lebensstil als Sünder verachten?!“

Eine freche Selbsteinladung

Bleiben wir noch einen Moment bei der Selbsteinladung von Jesus. Er macht einfach direkt einen Schritt auf Zachäus zu, er gibt ihm zu erkennen, dass er für ihn wichtig ist und in sein Leben eintreten will, mit ihm Gemeinschaft haben will. Zachäus empfindet das nicht als Eindringen in seine Privatsphäre, sondern als Angebot, auf das er gern einsteigt.

Die Situation erinnert mich an etwas, was ich einmal selbst erlebt habe: In meiner Wohnung musste unerwarteterweise das ganze Badezimmer herausgerissen und erneuert werden. Also sass ich ohne Dusche, ja zum Teil sogar ohne WC und Hahnenwasser da! Und was blieb mir da anderes übrig als bei meinen Nachbarinnen anzuklopfen. „Grüezi, dürfte ich vielleicht bei Ihnen duschen kommen?“ Ich musste einfach ganz unverfroren auf meine Nachbarinnen zugehen und mich bei ihnen zum Duschen einladen. Ich musste meine Bedürftigkeit und Abhängigkeit eingestehen und auf ihre Unkompliziertheit und Grosszügigkeit hoffen. Diese etwas peinliche Selbsteinladung war eine gute Gelegenheit, Beziehung zu schaffen. Es ergab sich immer eine gute Gelegenheit zum Gespräch – die unangenehme Situation schaffte eine Brücke zu meinen Nachbarn.

Eine solche freche Selbsteinladung kann wirklich Begegnung schaffen, kann Wandel von Beziehungen bewirken, ähnlich wie bei Jesus und Zachäus.

Was für ein Wandel!

Und was für einen Wandel das bei Zachäus bewirkt hat! Dass Jesus bei ihm einkehrt, „bei ihm bleiben muss“ wie es im griechischen Originaltext heisst, haut ihn völlig von den Socken. Er, der gesellschaftlich Geächtete, der Gefangene seines luxuriösen Lebensstils, begegnet in Jesus Gott, dem „Freund des Lebens“. Gott, vor dem die ganze Welt wie ein Stäubchen auf der Waage, wie ein Tautropfen ist (Weish 11,22), wendet sich in Jesus diesem Zachäus zu. Aus der Masse heraus ruft ihn Jesus beim Namen, nimmt ihn persönlich ernst, in seiner ganzen komplizierten Lebenssituation. Und das führt zu einem radikalen Wendepunkt in seinem Leben.

Zachäus, dessen Beruf es ist, mit Zahlen zu hantieren und durch schlaue Tricks ein paar Prozent mehr für sich selbst herauszuschlagen, wird plötzlich mit der überströmenden Quelle des Lebens konfrontiert. Und das löst wasserfallartig einen Strom der Grosszügigkeit bei ihm aus:

„Die Hälfte meines Besitzes will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand etwas erpresst habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.“

Zachäus, der sonst jedes mögliche Prozent für sich einheimsen wollte, sieht sich plötzlich mit etwas anderem als der Logik der Zahlen konfrontiert, weil er vor Gott persönlich zählt.

Er will nicht nur, wie es das mosaische Gesetz fordert, den Betrag zurückzahlen, um den er andere betrogen hat, sondern das Vierfache (400%!). Er will nicht nur den vom jüdischen Religionsgesetz verlangten Zehnten (10%) seines Einkommens den Armen geben, sondern viel mehr, ganz aus eigenem Antrieb. – Wir in der heutigen Schweiz sind ja noch nicht einmal bei 0,7 % angekommen.

Zachäus schenkt vierfach zurück, er versprüht etwas von Gottes Gerechtigkeit in alle vier Himmelsrichtungen. Er ist befreit worden von der Logik des Hortens, weil er dem begegnet ist, der die Fülle des Lebens für alle bereithält. Er muss nicht immer noch mehr für sich selber anhäufen. Er hat erfahren: Das Beste im Leben ist gratis: Begegnung, Wertschätzung, Zuwendung. Zachäus erlebt eine regelrechte Explosion der Grosszügigkeit, weil er dem Freund des Lebens begegnet ist, der in seiner Gnade – lateinisch gratia – grenzenlos schenkt.

Sohn Abrahams

Darum ist es wohl kein Zufall, dass Jesus Zachäus einen „Sohn Abrahams“ nennt. In erster Linie bedeutet das, dass er aus dem alttestamentlichen Bundesvolk nicht ausgeschlossen ist, weil Jesus ihm einen Weg zur Umkehr ermöglicht. Wenn ich „Abraham“ höre, klingen bei mir aber auch die Geschichten aus der Genesis an, die Abraham als einen ausserordentlich grosszügigen Gastgeber schildern. Ihr kennt sicher die berühmte russische Ikone von Rubljew, auf der die drei geheimnisvollen Männer abgebildet sind, die Abraham bei sich beherbergt. In ihnen ist er Gott begegnet – Christen haben später darin eine Vorahnung der Begegnung mit dem einen Gott in drei Personen gesehen. Durch seine Grosszügigkeit und Gastfreundschaft hat Abraham Gott Raum gegeben, ist er dem Freund des Lebens begegnet. Und zwar so intim, dass die heilige Schrift beider Testamente und sogar auch der Koran ihn selbst „Freund Gottes“ nennt (Jak 2,23; Jes 41,8; Sure 4,125). Auch Abraham ist durch die Grosszügigkeit seines Glaubens der Logik der Zahlen entwichen:

Gott sprach zu ihm: „Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein“ (Gen 15,5). Ein hoffnungsloses Unterfangen, Nachkommen zu zählen, die ihm so zahlreich wie der Sand am Meer und die Sterne am Himmel verheissen sind. Obwohl er materiell reich war, musste Abraham vor Gott seine Ohnmacht anerkennen. Trotz seines Alters und seiner Unfruchtbarkeit hat Abraham Gottes Verheissung Glauben geschenkt, und ist so zum Segen und Lebensspender für viele geworden.

Freund des Lebens

Die Begegnung mit dem Freund des Lebens, dem Zachäus und Abraham bei sich Gastfreundschaft gewährten, hat bei beiden eine regelrechte Explosion der Grosszügigkeit, ein Feuerwerk des Gebens ausgelöst.

Sie beide haben etwas gelebt von dem, was der libanesische Dichter Khalil Gibran in folgende Worte gekleidet hat:

„Sie geben, wie im Tal dort drüben die Myrte ihren Duft verströmt.
Durch ihre Hände spricht Gott,
und aus ihren Augen lächelt Er auf die Erde.“


Janique Behmann ist Pastoralassistentin der katholischen Kirche in Ittigen (BE).

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