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Was ist der Hauptantrieb, wenn Menschen ihren Glauben mit anderen teilen? Ist es die Liebe? Oder ist es die Gerechtigkeit?

Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass trotz anderer Behauptungen die zentrale Grundperspektive klassisch konservativer / evangelikaler Theologie nicht die Liebe, sondern die Gerechtigkeit ist. Diese Gerechtigkeit ist der Liebe übergeordnet. Erst wenn der Gerechtigkeit Genüge getan ist – was oft bedeutet, dass ein Mensch in bestimmte Vorstellungen von Richtigkeit und Gehorsam hineinpasst – kann die Liebe zum Zug kommen. Zu lieben, ohne vorher klarzustellen oder geistlich einzurenken, scheint für so manchen Christen kein gangbarer Weg zu sein. Das wird als Verrat an der über allem stehenden Gerechtigkeit Gottes verstanden. Liebe ist zwar immer der erklärte Wille und die erklärte Absicht, aber diese Liebe kommt eben praktisch an der geforderten Gerechtigkeit (Korrektheit) nicht vorbei.

Und leider geht es wie oben erwähnt bei dieser Gerechtigkeit nicht um die klassische Glaubensgerechtigkeit, die Luther so wichtig wurde, sondern oftmals um Konformität subjektiv biblischen und moralischen Vorstellungen eines bestimmten frommen Milieus gegenüber.

In meinem Buch nenne ich als eines von mehreren Merkmalen progressiver Theologie:

„DIE LIEBE GOTTES ALS HAUPTANTRIEB – Menschen mit progressivem Glauben lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und -formen begründet.“

Auch wenn konservative Theologie immer wieder behauptet, Liebe und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen, stelle ich nach 30 Jahren Leben in diesen Kreisen fest, dass die Gerechtigkeit der Liebe im konkreten Vollzug meist übergeordnet ist. Immer wieder höre ich konservative Pastoren sagen, dass ihnen in all ihren Jahren solch eine Vorrangstellung der Gerechtigkeit gegenüber der Liebe nie begegnet ist. Und ich frage mich dann manchmal, ob es einfach gar nicht mehr wahrgenommen wird, weil es so gewohnt ist. Haben diese Pastoren und Christen wirklich noch nie erlebt, dass ein Jugendpastor entlassen wurde, weil er mit seiner Freundin zusammengezogen ist? Dass Menschen nicht mehr in die Gemeinde gehen konnten, weil sie sich haben scheiden lassen? Dass Musiker nicht mehr auf der Bühne mitspielen durften, weil sie sich als homosexuell geoutet haben? Dass jemand die Hauskreisleitung entzogen wurde, weil er nicht mehr an die Historizität der Schöpfungserzählung glauben konnte? Dass begabte Frauen bloss wegen ihres Geschlechts nicht leiten oder predigen durften?

Vielen konservativen Christen erscheinen diese Konsequenzen absolut einleuchtend und es käme ihnen nicht in den Sinn, dass das lieblos ist, denn es ist doch richtig! Aber wieder und wieder wird die Liebe und die Barmherzigkeit auf dem Altar der Korrektheit (was natürlich mit Gottes Gerechtigkeit gleichgesetzt wird) geopfert.
Wenn schon biblisch, dann sehe ich dort den klaren Vorrang in der Liebe. Das wird zum einen explizit so zum Ausdruck gebracht (z.B. 1.Kor.13), zum anderen in vielen Geschichten, Begegnung und Gleichnissen Jesu illustriert.

  • Die Gerechtigkeit fordert die Steinigung der Ehebrecherin, die Liebe Jesu spricht: ich verurteile dich nicht, gehe in Frieden, aber verfehle in Zukunft das Ziel deines Lebens nicht mehr (vgl. Joh.8,11).
  • Die Gerechtigkeit des älteren Bruders fordert Konsequenzen für den verlorenen Sohn. Die Liebe des Vaters nimmt ihn bedingungslos an (vgl. Lk. 15)

Wenn die Liebe die Hauptmotivation ist, schliesst das Gerechtigkeit überhaupt nicht aus. Aber Gerechtigkeit ist eben eine Ausdrucksform der Liebe Gottes, die Liebe führt zur Gerechtigkeit und es geht nicht um ein unbedingt ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden Eigenschaften. Und wenn ich mich entscheiden müsste, wollte ich mich immer für die Liebe entscheiden! Das empfinde ich als am Göttlichsten. Denn nicht die Gerechtigkeit am Kreuz hat der Liebe Gottes den Weg freigeräumt, sondern die Liebe Gottes hat das Kreuz erst möglich gemacht. Die Liebe geht allem voraus und am Ende hat sie das letzte Wort.

Der Artikel ist erstmals am 23. März 2023 auf www.movecast.de erschienen.

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Von der Syrienkrise erschüttert und durch den Glauben motiviert, beschlossen Anne-Sylvie und Kim Giolo 2015, sich auf ein Abenteuer einzulassen und Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Samira*, eine junge Frau aus Eritrea, kam 2016 in die Familie, nach ihrem Auszug folgte Aicha* aus dem Iran und heute ist Fatima* aus Afghanistan Teil der Familie Giolo.

Den Alltag geteilt

Diese jungen Frauen waren während ihres Aufenthalts bei uns Teil der Familie. Sie assen mit uns und wir verbrachten zusammen unsere Freizeit. Dabei wurde viel erklärt, gelacht und exotisch gegessen, und ich merkte, wie kompliziert Französisch oftmals ist! Die Aufnahme von Flüchtlingen ist für Familien eine wunderbare Möglichkeit, auf andere Menschen zuzugehen und sich für andere Kulturen zu öffnen. Für unsere beiden Töchter war die Beziehung zu Fatima, Aicha und Samira sehr prägend, weil sie dadurch erfuhren, dass das Leben anderswo ganz anders ist. Die Frauen, die wir bei uns aufnahmen, lernten gleichzeitig zu verstehen, wie die Schweizer Kultur funktioniert, und konnten die Landessprache schneller erlernen. Unsere Familie diente als Brücke zwischen ihrem Herkunftsland und der Schweiz.

Ein Anker und ein Sprungbrett

Diese Erfahrungen zeigten uns aber auch, dass wir keine Ansprüche auf Erfolg bzw. Ertrag stellen dürfen. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, die jungen Frauen ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen dabei unsere Unterstützung anzubieten. Flüchtlinge haben oft sehr traumatische Lebenssituationen hinter sich, die sie fragil haben werden lassen. Bezugspersonen in ihrem neuen Lebensumfeld zu haben, hilft ihnen, einen Ankerpunkt im Gastland zu finden. Als Fatima bei uns wohnte, konnte sie sich in einer sicheren, stabilen und im Vergleich zum Leben in einer Asylunterkunft ruhigen Umfeld bewegen und sich auf das Erlernen der französischen Sprache konzentrieren, die den Schlüssel zur Integration darstellt. Da sie nur drei Jahre die Schule besucht hatte, war der Französischunterricht anfangs zu schwierig für sie, wurde aber bald zu einfach. Vor kurzem hat sie das Niveau A2 erreicht und hofft nun, eine Lehre beginnen zu können. Für sie beginnt ein neues Leben – weit weg von den Schwierigkeiten in ihrem Heimatland – und es ist ein grosses Glück, dass wir unseren Teil zu diesem Neuanfang beitragen können.

* Namen geändert

Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe März 2023 der Zeitschrift «Christ seul» erschienen.

Foto von Priscilla Du Preez auf Unsplash