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In den Evangelien der Bibel sind die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen die höchsten Gebote. Wenn wir von christlichen Werten sprechen, dann sind diese also zentral. In heutigen Ohren mag Nächstenliebe etwas verstaubt tönen, sie ist aber hochaktuell. Was bedeutet das für die heutige Gesellschaft und für unsere Demokratie?

In Lukas 10.29–37 fragte ein Gesetzeslehrer nach, wer denn sein Nächster sei. Darauf antwortete ihm Jesus mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters. Die als korrekt religiös angesehenen Priester und Leviten gingen am Überfallenen vorbei, aber ein geächteter Samariter erbarmte sich ihm. Nur er lebte die Nächstenliebe aus.

Hierarchie der Nächstenliebe?

Wer sind heute unsere Nächsten? Für mich sind es all diejenigen, denen wir begegnen, mit denen wir zu tun haben. Aber auch all diejenigen, bezüglich denen wir eine Handlungsmöglichkeit haben. Denn in Matthäus 25 wird auch danach gerichtet, was wir nicht getan haben. Heute haben wir auch Handlungsmöglichkeiten gegenüber den «Ärmsten» der Welt.

Dies bedeutet auch, dass die Idee falsch ist, dass wir zuerst für uns resp. für die Schweiz schauen müssen. Jeder Mensch auf der Welt ist gleich viel wert. Zuerst für uns zu schauen oder gar eine Hierarchie der Nächstenliebe aufzustellen, ist Egoismus: Denn zuerst für «die Eigenen» zu schauen, bringt letztlich uns selber Vorteile. Zuerst für die eigene Nation zu schauen, ist Nationalismus. Wie wenn wir mehr Wert wären als andere! Gerade heute, mit zunehmender Not in der Welt, können die wohlhabenden Nationen nicht sagen, sie müssten zuerst für sich selbst schauen. Die Folge davon sind z.B. Hunger und Tod.

«Jeder Mensch auf der Welt ist gleich viel wert.»

Handlungsmöglichkeiten haben wir auch gegenüber der Generation unserer Kinder und Kindeskinder. Da auch sie intakte Lebensgrundlagen brauchen, sind wir aufgefordert, die Schöpfung zu bewahren.

Eine Werterevolution

Das Wohl des Nächsten gleichzeitig zu suchen wie das eigene Wohl, das war eine revolutionäre Botschaft. Es bedeutet auch heute noch die Abkehr von Egozentrik und Egoismus. Und es ist ein Stachel im Fleisch des Mainstreams und der Wirtschaft, die – frei nach dem Begründer der Nationalökonomie, Adam Smith – behauptet, dass es für alle am besten sei, wenn jeder zuerst die eigenen Interessen verfolge.

Oft projizieren wir aber unsere eigenen Wünsche auf die Nächsten, obwohl diese vielleicht andere Prioritäten haben. Nächstenliebe heisst hier, genauer hinzuschauen, die Menschen und ihre Freuden und Nöte wirklich kennenzulernen. Oder wir denken in Gruppen und vorgefassten Meinungen. Dies können Vorurteile sein, geprägt von Misstrauen. Auch hier gilt es, genauer und vorurteilsfrei hinzuschauen, und, wo möglich, echte Beziehungen aufzubauen. Nächstenliebe heisst hier, auf den Nächsten wirklich einzugehen.

Dies heisst auch, die Frage nach dem Warum zu stellen: Woher kommen die Meinungen, Verhaltensweisen und Nöte der Nächsten? Letztere können auf ungleichen Voraussetzungen basieren oder strukturelle Ursachen haben, was ein genaueres Hinsehen unangenehm machen kann. Denn dies kann unsere eigene Stellung und unseren Wohlstand in Frage stellen. Sind wir bereit dazu? Das ist die Konsequenz des Verses: «Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst». Also nicht zuerst ich, und wenn’s reicht, dann auch noch den Nächsten. Deshalb fordert Gott uns auf, das Recht der Armen zu schützen und für sie zu sorgen Es gibt also kein Entweder-oder!

Wir sind aber Meister darin, Rechtfertigungsideologien aufzubauen, um nicht helfen oder teilen zu müssen: «Er ist faul», «Er ist selber schuld», «Es ist besser für ihn, wenn ich nicht helfe». All dies mag in gewissen Fällen zutreffend sein, aber wir wenden es seeeehr oft an. Denn Vorurteile sind angenehm, weil sie uns entlasten.

Wer braucht unsere Liebe besonders?

Wer braucht die Nächstenliebe besonders? Das Alte und das Neue Testament fordern mit Nachdruck immer wieder zum Schutz der Witwen, Waisen, Armen, Elenden, Geringen, Ausländer, etc. auf. Sie sind in Gottes Augen besonders schutzbedürftig. Im Alten Testament wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Menschen durch Umstände in Schulden und damit in Schuldknechtschaft kommen. So sind sie den «Starken» ausgeliefert. Die Propheten klagten das Volk Israel an, dass die Starken versuchen, das Recht der Schwachen zu beugen, statt ihnen zum Recht zu verhelfen.

Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Armen, zu deren Gunsten zahlreiche Aufrufe erfolgten (z.B. „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“ 15. Mose 15.4). Natürlich sagt Jesus im Neuen Testament, dass es immer Arme geben werde. Dies ist aber deskriptiv und nicht, was Gott sich wünscht. Deshalb wurde im alten Israel der Zehnte auch für die Armen gebraucht und diese hatten das Recht auf die Nachlese und alle sieben Jahre auf die Frucht eines Feldes. Auch strukturelle Anordnungen – wenn auch nur selten umgesetzt – sollten für Gerechtigkeit und Umverteilung sorgen, damit Familien ihre Schuldknechtschaft abschütteln und wieder für sich selber sorgen konnten. Hier geht es auch darum, Nachteile auszumerzen und gleiche Lebenschancen zu geben.

Die Stimme erheben

Nächstenliebe heisst auch, sich für Benachteiligte einzusetzen: „Öffne deinen Mund für den Stummen, für den Rechtsanspruch aller Schwachen! Öffne deinen Mund, richte gerecht und schaffe Recht dem Elenden und Armen!“ (Sprüche 31.8–9)

Wer sind heute diejenigen, die unsere Stimme am meisten brauchen? Wer sind die Machtlosen, die Verletzlichsten, die Elenden, diejenigen, denen es am schlechtesten geht? Die Menschen in Armut? Die Kinder, die überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind, die in der Schule immer mehr Druck verspüren und herumgeschoben werden? Die Migranten, die als Gefahr angesehen werden? Menschen mit Behinderung? Weniger Gebildete, die kaum mehr mithalten können? Oder ganz einfach weniger Leistungsfähige? Es ist unsere Aufgabe, diesen Benachteiligten zu ihrem Recht und zu fairen Lebenschancen zu verhelfen. Das kann z.B. geschehen durch Umverteilung, durch Stärkung, durch gleichen Zugang zum Recht etc. Sie sind zwar nicht ganz stimmlos, aber sie werden in unserem System, wo die Grösse des Megafons und die Machtposition entscheidend für den Einfluss sind, einfach nicht mehr gehört. Denn wo sich ein Milliardär ein Medium kaufen kann, hat er viel mehr Einfluss als Zehntausende von Menschen.

Was könnte das konkret heissen?

Zum Beispiel im materiellen Bereich: Für Löhne und Kinderzulagen sorgen, die für eine Familie zum Leben reichen. In der Sozialhilfe nicht einfach blindlings den Betroffenen Geld zuschanzen, sondern genauer hinschauen und evaluieren, was die Person braucht, um wieder auf die eigenen Füsse zu kommen: Umschulung? Psychologische Unterstützung? Ein besseres Netz? In Winterthur und Lausanne wurden deshalb mehr Sozialhilfemitarbeitende eingestellt, damit diese Zeit haben, mit den Betroffenen Lösungen zu finden. Der Erfolg für die Betroffenen und die sinkenden Kosten geben dieser Sichtweise recht. Hier wird an der auch in der Bibel erwarteten Eigenverantwortung festgehalten, aber die Voraussetzungen geschaffen, damit diese überhaupt wahrgenommen werden kann.

Wir sollten auch einen besonderen Fokus auf die Kinder legen: «Jeder kann selber» gilt bei ihnen erst recht nicht. Schlechte Situationen behindern ihre gesunde Entwicklung. Hier muss in Früherkennung und Frühintervention investiert werden, für ihre Zukunft und letztendlich auch zur Verminderung der zukünftigen gesellschaftlichen Probleme und damit Kosten. Wir müssen für gute Voraussetzungen sorgen und sie besonders dort unterstützen, wo Eltern nicht (mehr) ihrer Verantwortung nachkommen können – zum Beispiel, wenn sie eine Suchterkrankung entwickeln.

«Der Staat soll nicht»

In den Kirchen hören wir manchmal, dass die Benachteiligten sich einfach an Gott wenden sollten und der Staat nicht Aufgaben von Gott übernehmen solle.

Und doch: die Politik ist ein Teil der Lösung. Denn Nächstenliebe bedeutet nicht nur Pflästerli und Almosen, sondern auch strukturelle Ursachen von Not und Elend anzusprechen und zu verändern, wie es auch im Alten Testament gefordert wurde. Wir selbst bestimmen die Politik mit, wir stellen die Regeln und gerechte Strukturen auf, die Auswirkungen auf das Wohlergehen der Nächsten haben. Wir sind also für die Umstände unserer Nächsten mitverantwortlich.

Ja, Barmherzigkeit darf nicht einfach an die Politik delegiert werden, aber Barmherzigkeit einzig durch die Christen und Kirchen genügt offensichtlich nicht. Wir werden auch danach gerichtet, was wir nichtgetan haben (Matthäus 25), und wenn wir wissen, dass durch eine Gesamtorganisation – also auch über Politik – den Nächsten viel mehr Gutes getan werden kann, dann sollten wir das tun. Es stimmt, dass viele Menschen die Barmherzigkeit leider an den Staat delegieren, aber gleichzeitig gibt es bei vielen Christen die Tendenz, sich nur um das eigene Seelenheil zu kümmern und das Wohl der Nächsten einfach an Gott zu delegieren.

Jeder Mensch ist von Gott geschaffen und hat den gleichen Wert

Nächstenliebe heisst auch anzuerkennen, dass jeder Mensch von Gott geschaffen und gleich geliebt ist. Dies erfordert, jedem Menschen den gleichen Wert und damit gleiche Aufmerksamkeit, gleichen Respekt und gleiche Lebenschancen zuzugestehen.

Im persönlichen Umgang bietet uns Matthäus 7,12 eine gute Richtschnur: «Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.» Im gesellschaftlichen Umgang heisst dies auch, andere Gruppen und Nationen so zu behandeln, wie wir es von ihnen erwarten, behandelt zu werden. Dies wird aber sehr oft von der Angst vor den «Anderen» und den «Fremden» überlagert. Deshalb sollten wir Acht geben, nicht gegen sie zu hetzen, indem wir ihnen böse Dinge unterstellen, von denen wir eigentlich keine Ahnung haben. Dies ist immer der Ursprung von Verfolgung. Deshalb redet Jesus auch von Feindesliebe. Genau davon scheinen wir uns aber heute mehr denn je zu entfernen: Wir bewegen uns in unseren Internet-Bubbles und werden immer stärker in unseren «Wahrheiten» und in unserem Gruppendenken bestärkt. Damit werden «die Anderen» für uns immer unverständlicher und zur Gefahr für uns.

Auf dem Weg zum Recht der Stärkeren?

Die Rechtfertigung des eigenen Vorrechts betrifft alle Gruppen der Gesellschaft. Die Stärksten haben aber die grösste Chance, sich dabei auch durchzusetzen. Gerade in den USA sehen wir heute unter Präsident Trump eine Entfesselung der «Starken». Viele Geld- oder Energie-Mächtige sind nicht mehr bereit, sich zu Gunsten der Nächsten beschränken zu lassen. Im Zuge der zunehmenden Machtungleichheiten scheinen ihnen die Opportunitätskosten zu hoch: Die (gesetzlichen) Einschränkungen hindern sie daran, ihre Ressourcen voll zur Entfaltung zu bringen. Libertäre Ideologien und die Aushebelung der Verhinderer wie der Staat und die Demokratie haben deshalb Aufwind. Zunehmend wird eineMeritokratie ohne Chancengleichheit propagiert und dies mit der Behauptung einer «moralischen Überlegenheit» begründet: Diejenigen, die früh aufstehen» stehen den «Profiteuren» gegenüber.

Verfechter dieser Tendenzen wie Elon Musk oder Donald Trump haben auch schon offen gesagt, sie hätten keine Empathie mit «Losern». Nächstenliebe, genaues Hinsehen und daraus Verständnis entwickeln sind keine Optionen. Der einzige Gradmesser für sie ist die Stärke. Dies dringt in allen Aussagen zu anderen Menschen durch. Elon Musk ist auch ein Verfechter der Züchtung vonSupermenschen, die eine zukünftige Herrscherkaste bilden soll.

So ist es nichts als logisch, dass in den USA alle Programme zum Ausgleich von Benachteiligungen geschwächt oder sogar abgeschafft werden. In ihrer Ideologie der Stärke ist dies den aktuellen Herrschern so wichtig, dass sie auch ausländischen Unternehmen, die in den USA arbeiten wollen, die Abschaffung solcher Programme vorschreiben und den Universitäten verbieten, zu Benachteiligungen zu forschen oder zu lehren. Die Logik des «survival of the fittest» ist mit ein Grund, warum sämtliche Hilfe an ärmere Länder, humanitäre Hilfe, Unterstützung von internationalen Organisationen und Impfprogramme von Musk und Trump abgeschafft wurden, was selbst den konservativen Aussenminister Rubio erzürnte, der bei diesen Entscheiden übergangen wurde. Durch die fehlenden Hilfen sind Hunderttausende von toten Kindern und Erwachsenen zu erwarten. Das Sterben hat bereits begonnen.

Die Stärksten sollen herrschen, eine Idee, die bereits in den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts verbreitet war. Bereits heute werden schwächere Menschen in der Gesellschaft in gewissen Kreisen entwertet und gar als Last angesehen. Bis zur Euthanasie ist es nicht mehr weit. Inzwischen werden in den USA Wahlrechte eingeschränkt, die Verbreitung von unliebsamen Ideen und Fakten durch Universitäten verboten, viele Politikerinnen und Politiker von Elon Musk gekauft und abhängig gemacht und die Medien gegängelt (wie die früher kritische Washington Post heute durch Jeff Bezos).

Sind wir Christen noch die Vertreter der Nächstenliebe?

In christlichen Kreisen werden benachteiligte oder schwächere Menschen oft einfach an Gott weiterverwiesen. Gott helfe ihnen schon, sie sollten einfach beten. Wie wenn sie das Elend verdient hätten, wenn sie nicht genug beten! Im Gegensatz dazu ruft uns die Bibel dazu auf, selber für Gerechtigkeit, Hilfe zu sorgen und unseren Reichtum zu teilen.

Vor Gott gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern der gleiche Wert jedes Menschen und das gleiche Recht, gehört zu werden, mitzubestimmen und teilzuhaben. Das Recht des Stärkeren ist also das Gegenteil der Nächstenliebe. Wie können wir diese beschreiben, damit sie in der Öffentlichkeit verstanden wird? Zum Beispiel mit darin enthaltenen Aspekten: Empathie, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Respekt, Altruismus, etc. Sie ist für die Menschen und nicht gegen die Menschen. Sie ist gegen die Herrschaft des Stärkeren, der Interessen und des «Alles ist verkäuflich». Das ist die Bedeutung, Salz der Erde zu sein. Sind wir es noch?

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Hintergrundfoto der Collage von Marlis Trio Akbar auf Unsplash
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Abgewiesene Asylsuchende, die nicht in ihr Herkunftsland zurückzukehren können, werden in Rückkehrzentren sozusagen entsorgt. Damit ist ihr Schicksal vergleichbar mit den früheren Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die die Schweiz vor kurzem entschädigt hat.

Mehrere Tausend Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen leben noch heute in der Schweiz, am meisten im Kanton Bern. Es gab bis 1981 auf Grundlage des früheren Zivilrechts zwei Formen dieser Zwangsmassnahmen: Verdingkinder, die fremdplatziert wurden, und administrativ Versorgte, die ohne Gerichtsurteil in Anstalten, Arbeitsheime oder Gefängnisse eingewiesen wurden. Das Unrecht, das diese Menschen erfahren haben, ist staatlich anerkannt: Bis Ende 2023 hat das Bundesamt für Justiz über 10’600 Betroffenen eine Entschädigung ausbezahlt. Das ist erfreulich, aber ebenso wichtig ist es, dass die Schweiz aus diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte etwas lernt.

Doch das scheint nicht der Fall zu sein, denn in den Rückkehrzentren unseres Landes werden Menschen – Kinder, Frauen und Männer – über Monate und Jahre eingepfercht. Es handelt sich um weggewiesene Asylsuchende, die nicht gezwungen werden können, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil die politischen Verhältnisse dort prekär sind. So verbleiben sie in den Rückkehrzentren und werden dort sozusagen entsorgt. Wiederholt sich hier die Geschichte?

Der mittlerweile verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman sagte bereits 2015 über die Flüchtlingslager, wie sie unsere Rückkehrzentren darstellen: «In ein solches eingewiesen zu werden heisst, aus der Welt und der Menschheit ausgewiesen zu werden … Die Wege zurück in die verlorene Heimat sind versperrt. Die Insassen der Lager werden aller Merkmale ihrer Identität beraubt, mit einer Ausnahme: der Tatsache, dass sie Flüchtlinge sind. Ohne Staat, ohne Zuhause, ohne Funktion, ohne Papiere. Sie sind dauerhaft ausgegrenzt und stehen auch ausserhalb des Gesetzes …»

«Wiederholt sich hier die Geschichte?»

Man kann es sich kaum vorstellen, aber es ist Realität: In der Schweiz leben ganze Familien über lange Zeit in Rückkehrzentren, eingesperrt auf engstem Raum. Sie leben in einer Form von Halbgefangenschaft: Machen sie einen Schritt aus dem Rückkehrzentrum hinaus, droht ihnen jederzeit eine Busse oder gar Inhaftierung wegen illegalen Aufenthalts. Sie leben in ständiger Angst vor behördlicher Repression.

Unsere kantonalen Asylbehörden sind dabei mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert, wenn es um weggewiesene Asylsuchende geht, die nicht unter Zwang zurückgeführt werden können, denn freiwillig kehrt im Moment niemand nach Eritrea, in den Iran oder nach Tibet zurück.

In politischen Kreisen ist diese menschenrechtlich verwerfliche Praxis bekannt, aber niemand will sich an der Asylpolitik die Finger verbrennen. Schliesslich ist eine restriktive Asylpolitik ein Garant für Wählerstimmen. Nicht einmal unsere Landeskirchen engagieren sich öffentlich und mutig in der Sache: Man will die Kirchensteuerzahler nicht vergrämen und agiert neuerdings politisch möglichst neutral. Es scheint, dass unsere Kirche bei brisanten menschenrechtlichen Themen ebenso handelt wie die politische Schweiz. Das Geld kommt vor der Moral. Die Brutalität, mit der mit diesen Menschen umgegangen wird, hinterlässt Spuren in unserer Gesellschaft. Es gilt, die Worte des deutschen Menschrechtsaktivisten Karl Kopp ernst zu nehmen: Die Menschenwürde und die Menschenrechte, die zivilisatorischen Antworten auf die Barbarei, müssen verteidigt werden.

Bilder: Rückkehrzentren | AAZZ

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Was ist der Hauptantrieb, wenn Menschen ihren Glauben mit anderen teilen? Ist es die Liebe? Oder ist es die Gerechtigkeit?

Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass trotz anderer Behauptungen die zentrale Grundperspektive klassisch konservativer / evangelikaler Theologie nicht die Liebe, sondern die Gerechtigkeit ist. Diese Gerechtigkeit ist der Liebe übergeordnet. Erst wenn der Gerechtigkeit Genüge getan ist – was oft bedeutet, dass ein Mensch in bestimmte Vorstellungen von Richtigkeit und Gehorsam hineinpasst – kann die Liebe zum Zug kommen. Zu lieben, ohne vorher klarzustellen oder geistlich einzurenken, scheint für so manchen Christen kein gangbarer Weg zu sein. Das wird als Verrat an der über allem stehenden Gerechtigkeit Gottes verstanden. Liebe ist zwar immer der erklärte Wille und die erklärte Absicht, aber diese Liebe kommt eben praktisch an der geforderten Gerechtigkeit (Korrektheit) nicht vorbei.

Und leider geht es wie oben erwähnt bei dieser Gerechtigkeit nicht um die klassische Glaubensgerechtigkeit, die Luther so wichtig wurde, sondern oftmals um Konformität subjektiv biblischen und moralischen Vorstellungen eines bestimmten frommen Milieus gegenüber.

In meinem Buch nenne ich als eines von mehreren Merkmalen progressiver Theologie:

„DIE LIEBE GOTTES ALS HAUPTANTRIEB – Menschen mit progressivem Glauben lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und -formen begründet.“

Auch wenn konservative Theologie immer wieder behauptet, Liebe und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen, stelle ich nach 30 Jahren Leben in diesen Kreisen fest, dass die Gerechtigkeit der Liebe im konkreten Vollzug meist übergeordnet ist. Immer wieder höre ich konservative Pastoren sagen, dass ihnen in all ihren Jahren solch eine Vorrangstellung der Gerechtigkeit gegenüber der Liebe nie begegnet ist. Und ich frage mich dann manchmal, ob es einfach gar nicht mehr wahrgenommen wird, weil es so gewohnt ist. Haben diese Pastoren und Christen wirklich noch nie erlebt, dass ein Jugendpastor entlassen wurde, weil er mit seiner Freundin zusammengezogen ist? Dass Menschen nicht mehr in die Gemeinde gehen konnten, weil sie sich haben scheiden lassen? Dass Musiker nicht mehr auf der Bühne mitspielen durften, weil sie sich als homosexuell geoutet haben? Dass jemand die Hauskreisleitung entzogen wurde, weil er nicht mehr an die Historizität der Schöpfungserzählung glauben konnte? Dass begabte Frauen bloss wegen ihres Geschlechts nicht leiten oder predigen durften?

Vielen konservativen Christen erscheinen diese Konsequenzen absolut einleuchtend und es käme ihnen nicht in den Sinn, dass das lieblos ist, denn es ist doch richtig! Aber wieder und wieder wird die Liebe und die Barmherzigkeit auf dem Altar der Korrektheit (was natürlich mit Gottes Gerechtigkeit gleichgesetzt wird) geopfert.
Wenn schon biblisch, dann sehe ich dort den klaren Vorrang in der Liebe. Das wird zum einen explizit so zum Ausdruck gebracht (z.B. 1.Kor.13), zum anderen in vielen Geschichten, Begegnung und Gleichnissen Jesu illustriert.

  • Die Gerechtigkeit fordert die Steinigung der Ehebrecherin, die Liebe Jesu spricht: ich verurteile dich nicht, gehe in Frieden, aber verfehle in Zukunft das Ziel deines Lebens nicht mehr (vgl. Joh.8,11).
  • Die Gerechtigkeit des älteren Bruders fordert Konsequenzen für den verlorenen Sohn. Die Liebe des Vaters nimmt ihn bedingungslos an (vgl. Lk. 15)

Wenn die Liebe die Hauptmotivation ist, schliesst das Gerechtigkeit überhaupt nicht aus. Aber Gerechtigkeit ist eben eine Ausdrucksform der Liebe Gottes, die Liebe führt zur Gerechtigkeit und es geht nicht um ein unbedingt ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden Eigenschaften. Und wenn ich mich entscheiden müsste, wollte ich mich immer für die Liebe entscheiden! Das empfinde ich als am Göttlichsten. Denn nicht die Gerechtigkeit am Kreuz hat der Liebe Gottes den Weg freigeräumt, sondern die Liebe Gottes hat das Kreuz erst möglich gemacht. Die Liebe geht allem voraus und am Ende hat sie das letzte Wort.

Der Artikel ist erstmals am 23. März 2023 auf www.movecast.de erschienen.

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Von der Syrienkrise erschüttert und durch den Glauben motiviert, beschlossen Anne-Sylvie und Kim Giolo 2015, sich auf ein Abenteuer einzulassen und Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Samira*, eine junge Frau aus Eritrea, kam 2016 in die Familie, nach ihrem Auszug folgte Aicha* aus dem Iran und heute ist Fatima* aus Afghanistan Teil der Familie Giolo.

Den Alltag geteilt

Diese jungen Frauen waren während ihres Aufenthalts bei uns Teil der Familie. Sie assen mit uns und wir verbrachten zusammen unsere Freizeit. Dabei wurde viel erklärt, gelacht und exotisch gegessen, und ich merkte, wie kompliziert Französisch oftmals ist! Die Aufnahme von Flüchtlingen ist für Familien eine wunderbare Möglichkeit, auf andere Menschen zuzugehen und sich für andere Kulturen zu öffnen. Für unsere beiden Töchter war die Beziehung zu Fatima, Aicha und Samira sehr prägend, weil sie dadurch erfuhren, dass das Leben anderswo ganz anders ist. Die Frauen, die wir bei uns aufnahmen, lernten gleichzeitig zu verstehen, wie die Schweizer Kultur funktioniert, und konnten die Landessprache schneller erlernen. Unsere Familie diente als Brücke zwischen ihrem Herkunftsland und der Schweiz.

Ein Anker und ein Sprungbrett

Diese Erfahrungen zeigten uns aber auch, dass wir keine Ansprüche auf Erfolg bzw. Ertrag stellen dürfen. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, die jungen Frauen ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen dabei unsere Unterstützung anzubieten. Flüchtlinge haben oft sehr traumatische Lebenssituationen hinter sich, die sie fragil haben werden lassen. Bezugspersonen in ihrem neuen Lebensumfeld zu haben, hilft ihnen, einen Ankerpunkt im Gastland zu finden. Als Fatima bei uns wohnte, konnte sie sich in einer sicheren, stabilen und im Vergleich zum Leben in einer Asylunterkunft ruhigen Umfeld bewegen und sich auf das Erlernen der französischen Sprache konzentrieren, die den Schlüssel zur Integration darstellt. Da sie nur drei Jahre die Schule besucht hatte, war der Französischunterricht anfangs zu schwierig für sie, wurde aber bald zu einfach. Vor kurzem hat sie das Niveau A2 erreicht und hofft nun, eine Lehre beginnen zu können. Für sie beginnt ein neues Leben – weit weg von den Schwierigkeiten in ihrem Heimatland – und es ist ein grosses Glück, dass wir unseren Teil zu diesem Neuanfang beitragen können.

* Namen geändert

Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe März 2023 der Zeitschrift «Christ seul» erschienen.

Foto von Priscilla Du Preez auf Unsplash