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Die weltweite Popularisierung des Internets in den 90er-Jahren war eine echte Errungenschaft. Mit E-Mails konnte man plötzlich ganz unkompliziert Freunde erreichen und ihnen Dokumente übermitteln; Websites machten es möglich, die Botschaft der eigenen Firma oder Institution in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Mit den sozialen Medien, KI und dem Verfälschen von Bildern und Tönen hat diese faszinierende Informationswelt ihre Unschuld verloren. Heute droht eine Desinformationsgesellschaft, die zu einer wachsenden Gefahr für uns alle wird. Gibt es Auswege?

Als Journalist war ich von Anfang an dabei, als das Internet für alle verfügbar wurde. Das Zischen und Surren während des Aufbaus einer Verbindung faszinierte nicht nur mich, sondern auch meine Kinder. Ich führte sie nach und nach in diese faszinierende Welt ein. Anfangs verbunden mit einer strengen Zeitlimite. Wer sich länger im Internet bewegen wollte, musste das mit seinem eigenen Sackgeld bezahlen.

Für das Verbreiten der christlichen Botschaft eröffneten sich auf einen Schlag neue Möglichkeiten, insbesondere in den wenig entwickelten Gebieten unserer Welt. Sobald dort Internetverbindungen verfügbar waren, musste der Missionar nicht mehr zwingend persönlich anwesend sein. Er konnte seine Texte – so etwa Bibelübersetzungen – bequem digital übermitteln. Es wurde möglich, auch im Weltsüden digitale Unterrichtseinheiten für eine breite Bevölkerung anzubieten. Eine schöne neue Informationswelt!

Die Blütezeit von Facebook

Für den Studenten Mark Zuckerberg und seine Freunde war Facebook anfangs nur ein Gag, um den Wettbewerb um hübsche Studentinnen anzuheizen. Er spürte aber rasch, dass mit Social Media mehr möglich war. Schliesslich liess sich das Ganze ja mit Werbung verbinden und damit finanzieren. 2007 war der 23-jährige CEO von Facebook bereits Milliardär. An der Börse gewann das junge Unternehmen immer mehr das Interesse von Kapitalisten. Innert Kürze war Facebook 15 Milliarden Dollar wert.

Anfangs gab es noch keine Like-Funktion, «niemand konnte seinen Selbstwert an den Daumen messen, die von andern geklickt wurden»1 . Auch das unendliche Scrollen gab es noch nicht. Wenn man alle Reaktionen von Bekannten gelesen hatte, war der eingegebene Beitrag – der Post – an seinem Ende angelangt. «Kein Algorithmus steuerte die Beiträge, sie erschienen schlicht in der Reihenfolge, in der sie publiziert worden waren».

Jessica King schildert diese Blütezeit von Facebook so: «Es ging ja auch nicht darum, in eine manipulierte Parallelwelt einzutauchen, in der alle anderen Menschen scheinbar aufregendere Leben führen. Stattdessen benutzten wir die Plattform, um am banalen Alltag anderer teilzunehmen, … Gruppen mit lustigen Namen zu gründen, … sich zum Geburtstag zu gratulieren und die Profile von Menschen zu suchen, die man an der Uni sonst nur von weitem sah. Es war ein Tool, um Verbindungen zu schaffen und zu intensivieren.» Also ein ähnlicher Effekt, der mit der Einführung des Internets eingeläutet worden war.

Der Anfang vom Ende

Am 9. Februar 2009 führte Facebook den Like-Button ein. Jessica King reagierte mit dem folgenden Post: «Wer diesen Beitrag liked, ist doof.» Die Reaktion kam sofort: «Schon klickten mehrere auf das Däumchen, und zum ersten Mal spürte ich den kleinen Dopamin-Rausch der digitalen Zuneigung. Bald brütete ich über der Frage, warum gewisse Posts besser funktionierten als andere, versuchte meine Performance zu optimieren. Ich verglich mich mit anderen und spürte einen leichten Anflug von Scham, wenn ich weniger Likes als Kommilitoninnen und Kommilitonen erzielte.»

Parallel zur Lancierung des Like-Buttons kam Facebook in der Schweiz auf eine Million Nutzer. Nun wurde die Plattform zunehmend gesteuert. Jessica King stellt fest, dass Facebook immer häufiger andere Formate mit ihren eigenen Beiträgen verknüpfte, mit «Werbung, News und Beiträgen bislang unbekannter Seiten, ‚die mir gefallen könnten’». 2011 entschied sich Facebook, die fremden Beiträge nicht mehr chronologisch sondern von Algorithmen gesteuert aufzulisten. Damit begann das unendliche Scrollen auf der Suche nach einem noch spannenderen Beitrag zum Thema. Jessica King schildert ihre Erfahrung so: «Immer länger blieb ich nun am Bildschirm sitzen, scrollte und scrollte und scrollte, in der Welt des blauen Riesen gefangen.»

Mark Zuckerberg begann nun, sein Unternehmen auszubauen. Er schluckte Konkurrenten wie Instagram und Whatsapp und bezahlte dafür 1 bzw. 19 Milliarden Dollar. «Dass Profit immer wichtiger wurde, spürten wir im Alltag», sagt Jessica King dazu. «Versprühte Facebook zu Beginn noch ein karge Ästhetik, wurde die Plattform zunehmend mit knalliger Werbung, verwirrenden Feeds und unkontrollierbaren Sidebars zugekleistert.»

Als sich 2011 der Arabische Frühling entlud, trugen Facebook und der Konkurrent Twitter die Proteste aus Tunesien in alle Welt. Jessica King frohlockt: «Der Glaube an die politische Macht von Facebook wuchs – sogar Diktatoren konnte man damit stürzen! Wir posteten unsere Unterstützung, nutzten ab 2013 dafür Hashtags2 , die Facebook eingeführt hatte, und glaubten, mit diesem digitalen Aktivismus den Unterdrückten der Welt geholfen zu haben.»

2014 wurde das Symbol # in der Schweiz zum Wort des Jahres gewählt. Die wichtigsten Hashtags waren 2014 dann aber nicht Themen rund um die Ungerechtigkeit in unserer Welt, sondern zum Beispiel #IceBucketChallenge. Unter dieser Adresse leerten sich Menschen rund den Globus eiskaltes Wasser über den Kopf und dokumentierten dies mit einem Videoclip, in der Erwartung, möglichst viele Likes zu erhalten. Zu den bekanntesten Hashtags gehört #MeToo, der seit Mitte Oktober 2017 im Zuge des Weinstein-Skandals Verbreitung in den sozialen Netzwerken erfuhr und eine soziale Bewegung für die Rechte der Frauen bei sexuellen Übergriffen auslöste.

Mit den erwähnten neuen Möglichkeiten war die Plattform Facebook aber unkontrollierbar geworden. Missbrauch machte sich breit. Jessica King sagt zur Entwicklung von 20 Jahre Facebook, die Internetplattform habe sich vom lieblichen digitalen Dorf zur Gefahr für Demokratien gewandelt, Mark Zuckerberg vom kindlichen Jungunternehmer zum kaltblütigen Überkapitalisten, der sich vor dem amerikanischen Kongress erklären muss.

Bei Google werden die Daten jeder Suchanfrage aufgezeichnet. «Dazu gehören der Standort, Suchbegriffe, das Suchverhalten und Webseitenklicks», schrieb Debby Blaser im Magazin INSIST. «Auf vielen Webseiten werden die Nutzer ‚verfolgt‘, indem anhand der IP-Adresse aufgezeichnet wird, wer die Webseite besucht hat. Diese Daten machen es möglich, dass mir auf Facebook in einer Werbeanzeige genau der Turnschuh angezeigt wird, den ich mir vor kurzem auf Zalando angeschaut habe. Was praktisch ist für Werbetreibende, empfinden manche Nutzer jedoch als Eingriff in ihre Privatsphäre3

Die asozialen Medien werden zum Tummelfeld für Empörungen

Die sozialen Medien erlauben es den Nutzern, zu allen möglichen und unmöglichen Themen rasch eine Meinung zu bilden und diese dann mit andern zu teilen. Bei grosser Zustimmung wächst die Verbreitung dieser Meinung und kann Prozesse in Gang bringen, die kaum noch zu zügeln sind.

Die Journalistin Alexandra Föderl-Schmid, Nahost-Spezialistin der «Süddeutschen Zeitung», hat kürzlich mutmasslich versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr wurde vorgeworfen, in mindestens drei Fällen Erläuterungen öffentlicher Institutionen im Wortlaut übernommen zu haben, ohne dies entsprechend zu deklarieren. Sie habe damit ein Plagiat abgeliefert – eine Todsünde für Journalisten. Das deutsche Portal «Nius» engagierte darauf den «Plagiatsjäger» Stefan Weber, weitere Plagiate – etwa in der Dissertation der Journalistin – aufzudecken. Weber fertigt gegen Geld Gutachten zu akademischen Arbeiten an. «Webers Analysen bringen regelmässig prominente Personen in Schwierigkeiten», schreibt dazu die Journalistin Raphaela Birrer und fügt hinzu: «Häufig erfolgen allerdings seine Anschuldigungen zu Unrecht.» Für sie geht es bei solchen Debatten und Gutachten «längst nicht mehr um intellektuelle Redlichkeit oder universitäre Standards. Es geht um politische Motive, Rachefeldzüge, Rufmord.»

Die asozialen Medien eignen sich hervorragend, um diese Empörungen zu verbreiten. Obwohl eine Untersuchung zeigte, dass an den Vorwürfen bezüglich der Dissertation von Alexandra Föderl-Schmid wenig dran war, kam es zu Hasskommentaren mit Befürwortungen des Suizidversuchs und geschmacklosen persönlichen Angriffen. Die Meinungen waren schon gemacht und liessen sich durch nichts erschüttern. Raphaela Birrer meint zu den Undifferenziertheiten und zur Empörung im Fall Föderl-Schmid: «Sie liefern unfreiwillig Anschauungsunterricht für die degenerative Entwicklung digitaler Debatten. Und sie verdeutlichen, dass es im Moment schwierig bis unmöglich ist, Diskussionen … nüchtern zu führen. Nicht einmal dann, wenn ein Diskurs fast tödliche Folgen hat4

Künstliche Intelligenz und Hacking verstärken das Problem

Künstliche Intelligenz mag helfen, maschinelle Prozesse schneller zu machen. Wenn sie aber im Internet zum Zuge kommt, droht eine Verschärfung der genannten Probleme. Man füttert KI mit einem Gesicht und einer Stimme. Aus diesen Daten erstellt die KI dann eine Matrix, die als Vorlage für jede weitere Version dient. Im März letzten Jahres sei ein Video mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Umlauf gekommen, der seine Truppen aufgefordert habe, die Waffen niederzulegen und sich Russland zu ergeben, schreibt Andrian Kreye. Es sei aber sofort klar geworden, «dass jemand seinen Kopf auf einen Rumpf montiert hatte»5 .

In einem anderen Beispiel spricht der Fussballer Lionel Messi an einer Pressekonferenz verständliches Englisch, obwohl er grundsätzlich immer spanisch spricht. Die dahinter stehende Technologie nennt sich Voice-Cloning, die mit Übersetzer-KI vereint wurde. Ein eher harmloses Beispiel.

Wenn Fälschungen (Deepfake) aber dazu gebraucht werden, Nacktbilder des Popstars Taylor Swift in pornografischer Absicht zu generieren, ist das persönlichkeitsverletzend im höchsten Masse. Deepfake-Pornografie wird nicht selten auch zur Erpressung eingesetzt6 .

Womit wir in der untersten Schublade angekommen wären: der Möglichkeit, das Internet zu hacken und so an vertrauliche Daten zu gelangen – sei es um Firmen zu erpressen oder falsche Botschaften zu verbreiten. Diese Hackerangriffe nehmen exponenziell zu, auch in der Schweiz. 2022 gingen beim Nationalen Zentrum für Cybersicherheit des Bundes 34’000 Meldungen zu Cybervorfällen ein, dreimal so viele wie 2020. Laut dem Journalisten Michael Bucher wird für 2025 «eine weltweite Schadenssumme durch Cyberattacken von gegen 11 Billionen Franken prognostiziert. Das wären rund 40-mal höhere Kosten als Naturkatastrophen im Jahr 2022 verursacht haben7

Am kürzlichen Weltwirtschaftsforum in Davos wurden Fake News als grösste Gefahr für die Menschheit in den nächsten zwei Jahren bezeichnet. Falschinformationen im Internet könnten die Gesellschaft weiter spalten. «Mit Technologien wie ChatGPT oder neuen Versionen von Photoshop ist es leicht möglich, Texte zu erstellen oder etwa Bilder zu fälschen»8 . Auf diese Weise können «gezielt gestreute Fehlinformationen anstehende Wahlen in den USA beeinflussen.» Das könnte Zweifel an neu gewählten Regierungen wecken und politische Unruhen auslösen. Eine Gefahr für die Demokratie!

Was können wir tun?

Auf dem Weg von der Information zur Desinformation bleibt die Wahrheit auf der Strecke: wir folgen der Lüge. Der selbstgerechte Laie wird sich darüber nicht weiter aufhalten. Aufgrund der Informationen, die ihm dank seinem Profil zugespielt wurden, weiss er ja, was Sache ist. Damit verbunden ist die wachsende Skepsis gegenüber der Wissenschaft. 2016 stimmten gemäss einer US-Studie 44 Prozent einer breiten Öffentlichkeit der Aussage zu, «Experten sei weniger zu trauen als Laien». Wenn sich aber Laien zu Spezialisten aufschwingen, regiert die Ahnungslosigkeit. «Und was Wahrheit ist, bestimmen im Netz die Lautesten mit der grössten Followerschaft9

Dem Vater der Lüge zu folgen, kann für Christen aber keine Option sein. Was also soll getan werden? Glaubens- und Religionsführer aus Grossbritannien stellten nach einem kürzlichen Treffen über ethische Fragen rund um KI fest, Glaubensgemeinschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen müssten als «kritische Wächter fungieren, die sowohl KI-Entwickler als auch die politischen Entscheidungsträger zur Verantwortung ziehen». In einem nächsten Treffen wollen sie eine Kommission ins Leben rufen, «mit dem Ziel, die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz für das menschliche Wohlergehen zu nutzen und gleichzeitig Gemeinschaften vor potenziellem Schaden zu schützen»10 .

Dieser Schutz kann durch Institutionen gewährleistet werden, die demokratisch legitimiert sind. Der SVP-Nationalrat Andreas Glarner setzte gegen seine politische Gegnerin Sibel Arslan von den Grünen ein Fake-Video ein. Wenige Tage vor den letztjährigen Parlamentswahlen veröffentlichte Glarner ein täuschend echtes Video von Arslan auf X und Instagram, das mittels künstlicher Intelligenz erzeugt worden war. In diesem Fake-Video äusserte sie dann Meinungen, die dem Gegenteil ihrer tatsächlichen Überzeugungen entsprachen. Arslan ging vor Gericht. Gemäss einem kürzlichen Urteil des baselstädtischen Zivilgerichtes muss Glarner die Gerichts- und Arslans Anwaltskosten für diesen Fall übernehmen. Sie erwägt zur Zeit als nächsten Schritt eine Strafanzeige gegen Glarner. Diese könnte zum Präzedenzfall für einen neuen Straftatbestand werden, der erst seit dem 1. September 2023 in Kraft ist: für den Strafbestand des Identitätsmissbrauchs11 .

Nur Stunden nach der Terrorattacke der Hamas gegen Israel im vergangenen Oktober kursierten auf der Plattform X manipulierte Fotos und Videos anderer Kriege, es gab darunter sogar Sequenzen aus Videospielen und Aufnahmen von Silvesterfeuerwerk. Nutzer verbreiteten diese Bilder als Stimmungsmache gegen Israel oder gegen Palästinenser. «X, die weltweit grösste Quelle für Echtzeitnachrichten, wirkt in diesen Tagen wie ein Verteilzentrum für irreführende Nachrichten», schreibt dazu Jan Diesteldorf. Die EU will nun X-Eigentümer Elon Musk anklagen, der versprochen hatte, die EU-Regeln für digitale Dienste einzuhalten. Gemäss diesen müsste X «schnell, sorgfältig und effektiv auf Hinweise reagieren, illegale Inhalte löschen und ‚wirksam Risiken für die öffentliche Sicherheit und den gesellschaftlichen Diskurs bekämpfen, die von Desinformation ausgehen’»12 .

«Die klassischen Medien verlieren die Kontrolle über den Nachrichtenzyklus, und Algorithmen scheinen zum Teil falsche und sensationsheischende Nachrichten schneller zu verbreiten», führte Silke Adam, Professorin am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaften im vergangenen Herbst an einem Workshop der Uni Bern aus. Sie folgerte daraus: «Desinformation gefährdet unsere Demokratie und kann ein Auslöser sein, dass sich Menschen polarisieren13

Daraus lässt sich schliessen, dass wir die klassischen Medien nicht aus den Augen verlieren sollten, vor allem Medien wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder Radio und die parteiunabhängigen Printmedien. Diese sollten in der Lage sein, Fakten statt Fake zu präsentieren, damit wir uns unsere Meinung möglichst in der Kombination von mehreren Medien zuverlässiger bilden können.

Was oft vergessen geht: KI ist verbunden mit einer Verletzung des Urheberrechtes. Zur Zeit läuft ein Prozess der «New York Times» gegen den KI-Anbieter Chat-GPT. Dieser hatte teils wortgetreue Textkopien als KI-Texte ausgegeben. Gary Marcus, Professor für Neurowissenschaften an der New York University, hat selber mehrere Firmen für KI-Anwendungen aufgebaut. Heute gilt er als Stimme der Vernunft in der KI-Debatte. Er sieht keine raschen Lösungen: «Solange niemand eine neue Architektur erfindet, mit der die Herkunft von generativen Texten oder generativen Bildern zuverlässig verfolgt werden kann, wird es weiterhin zu Rechtsverletzungen kommen14

Immerhin gibt es erste Fortschritte. Wer bei Chat-GPT nach den Grundlagen für eine werteorientierte Dorfentwicklung fragte, erhielt eine Antwort, deren Inhalt mir sehr bekannt vorkam. Wer dieselbe Anfrage bei Copilot eingibt, bekommt ebenfalls Antworten aus den WDRS-Publikationen, diesmal aber mit einer sauberen Quellenangabe und mit Links zu den ursprünglichen Beiträgen, etwa in unserem Forum.

Es steht uns frei, unser Medienverhalten der neuen Lage anzupassen. Debby Blaser weist darauf hin, dass es für Suchmaschinen wie Google Alternativen gibt, die keine Daten aufzeichnen und keine Informationen an Drittpersonen verkaufen, etwa Swisscows oder DuckDuckGo15 .

Die Präsenz von Facebook ist heute am Abnehmen. Aber auch seine Nachfolger und Alternativen sind datentechnisch und im Blick auf den Missbrauch nicht viel besser. Mastodon soll zumindest vom Prinzip her ein deutlich anderes Sozial-Media-Konstrukt sein: Es gibt keinen zentralen Server und damit keinen Besitzer mit bestimmten wirtschaftlichen Interessen und keinen Empfehlungsalgorithmus für den Feed16. Die Messenger App Threema gilt als sicherere Variante von WhatsApp. Sie schützt die persönlichen Daten laut Eigenwerbung «vor dem Zugriff durch Hacker, Unternehmen und Regierungen».

Die digitale Welt orientiert sich heute an Macht- und finanziellen Interessen, auch wenn sie dabei die Wahrheit opfern muss. Das soll uns nicht daran hindern, die positiven Möglichkeiten des Internets zum Verbreiten guter, faktenbasierter Inhalte zu nutzen. Gleichzeitig können wir mithelfen, dass die negativen Tendenzen aufgedeckt und bekämpft werden.

Alles beginnt bei unseren Kindern

Zu guter Letzt: Vielleicht sollten wir auch etwas Abstand zu unseren digitalen Medien gewinnen. Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf plädiert für die Neuentdeckung von zwei alten Disziplinen: Lesen und Denken. Digitale Medien gefährden aus ihrer Sicht beides. Die aktuelle Pisa-Studie habe bei 15-Jährigen weltweit einen Trend zu schlechteren Lesefähigkeiten festgestellt.

Deshalb sagt Maryanne Wolf: «Von null bis fünf Jahren sollten Kinder medienmässig von (Bilder-)Büchern umgeben sein, Eltern und Umfeld sollen ihnen jeden Tag vorlesen, Kinder sollen ihre Bücher halten, damit spielen, ja darauf herumkauen! Lesen soll eine interaktive und sinnliche Erfahrung sein.» Bildschirme könne man dann zwischen eineinhalb und fünf Jahren sehr graduell einführen. Sie sollten aber nicht ein Babysitter-Ersatz sein, weder als Ablenkung noch als Belohnung oder Bestrafung. Sobald die Kinder selbst lesen lernen könnten, mache es Sinn, Print und Digital nebeneinander laufen zu lassen, auch zur Unterstützung des Lesens. Mit vielleicht sieben oder zehn Jahren könne dann die Schule die Kinder in die Welt des vertieften Lesens einführen. «Wenn wir nur noch skimmen und Mühe damit haben, Information und Desinformation auseinanderzuhalten, gefährden wir am Ende unser demokratisches Zusammenleben»17 , glaubt die Hirnspezialistin.

Kurz und gut: Vielleicht können wir ja selber wieder mal ein Buch zur Hand nehmen. Neben der Bibel kann es durchaus auch mal ein guter Roman sein – oder ein Sachbuch über Verschwörungstheorien.


1. Da ich mich bisher nicht zum Mitmachen in sozialen Medien verführen liess, folge ich in diesem Teil meist den Gedanken der Journalistin Jessica King in «Der Bund», 12.2.24
2. dt. Gartenzaun mit dem Symbol #
3. Magazin INSIST, April 2018
4. «Der Bund», 13.2.24
5. «Der Bund», 18.9.23
6. «Der Bund», 10.2.24
7. «Der Bund», 21.2.24
8. Anna Lutz im Pro-Medienmagazin vom 10.1.24
9. «Der Bund», 11.12.23
10. Livenet, 14.11.23
11. «Der Bund», 6.1.24
12. «Der Bund», 12.10.23
13. «Der Bund», 20.10.23
14. «Der Bund», 13.1.24
15. Magazin INSIST, April 2018
16. https://www.watson.ch/digital/review/279309107-twitter-alternative-17-gruende-warum-sich-mastodon-auch-fuer-dich-lohnt
17. «Der Bund», 21.12.23


Dieser Artikel erschien erstmals am 01. März 2024 auf Forum Integriertes Christsein.
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~ 5 min Macht der Glaube einen Unterschied? Ja, Christinnen und Christen, die eine Verbindung zwischen Theologie, Spiritualität und Gerechtigkeit sowie Nachhaltigkeit herstellen können, verhalten sich nachhaltiger.

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Der Arbeitgeberverband fordert, dass wir alle mehr arbeiten sollen, um dem Fachkräftemangel beizukommen. Kann das gut gehen? Und: Brauchen wir das wirklich?

Die «betriebsübliche Arbeitszeit» hat im letzten Jahrhundert stetig abgenommen. Während die Schweizerinnen und Schweizer vor hundert Jahren noch weit über 50 Stunden pro Woche arbeiten mussten, so erreichte die durchschnittliche Arbeitszeit im Jahr 1993 42 Stunden und pendelte sich seit 2003 auf 41,7 Stunden ein. Da könnte man meinen, etwas mehr davon könne ja nicht schaden.

Arbeiten wir wirklich weniger?

Die Trendwende zu mehr Arbeit hat schon länger stattgefunden: Auf Druck der Finanzdienstleister hat Bundesrat Schneider-Ammann auf Anfang 2016 verfügt, dass Arbeitnehmende, wenn sie ein Bruttojahreseinkommen inklusive Boni von mindestens 120’000 Franken haben und weitgehend selbst über ihre Zeiteinteilung entscheiden können (und falls die Firma einem Gesamtarbeitsvertrag untersteht), ihre Arbeitszeit «nicht mehr erfassen müssen». Das heisst in den meisten Fällen, nicht mehr erfassen dürfen – und damit arbeiten müssen «bis fertig». Doch fertig ist selten, denn solange keine Schranken da sind, kann man den Angestellten problemlos noch mehr Aufgaben zuweisen. Hunderttausende von Menschen in der Schweiz arbeiteten schon vorher länger als «betriebsüblich», nun sind noch mehr dazugekommen.

Immer dichter, immer schneller

Hinzu kommt die massiv gestiegene Arbeitsintensität: In den letzten Jahrzehnten fand eine starke Verdichtung der Arbeit statt. Leerzeiten existieren kaum mehr. Immer mehr Menschen arbeiten nur noch im «Notfallmodus». Das Dringliche hat überhandgenommen. Ältere Menschen haben mir schon mehrfach gestanden, dass sie froh sind, nicht mehr arbeitstätig zu sein. Früher hätten sie zwar mehr Stunden gearbeitet, aber dafür schön stetig und «eins nach dem anderen». Heute seien alle nur noch am «seckle».

Dieser Dauerstress kommt nicht von ungefähr: Um den Return on Investment (ROI) – die Kapitalrendite – für die Aktionäre zu optimieren, streichen börsenkotierte Unternehmen regelmässig Stellen. Sie wollen dann die Arbeit auf die verbleibenden Angestellten verteilen. Wenn früher ein ROI von 5 Prozent gut war, müssen es heute 30 Prozent sein. Wir haben uns daran und an die Folgen gewöhnt und finden das einfach normal. Doch dieser Druck «von oben» zwingt in der Konkurrenzsituation auch viele andere Unternehmen zur selben «Kostensenkung», wie etwa die Migros, die innert zwei Jahrzehnten die Anzahl der Angestellten pro Ladenfläche halbiert hat.

Steuersenkungen führen in eine Spirale

Vielleicht auch unter dem Eindruck, dass wir ja hart arbeiten und «der Staat» uns nicht «alles wegnehmen» soll, haben wir in den Kantonen regelmässig weiteren Steuersenkungen zugestimmt, mit der Folge, dass danach auch in den Schulen und Spitälern Stellen gestrichen wurden, sodass der Stress in diesen Bereichen unerträglich hoch geworden ist. Grössere Klassen machen die Arbeit der Lehrkräfte noch schwieriger. Heute wollen sich immer weniger gut gebildete junge Menschen diesen Job antun, in gewissen Fächern herrscht inzwischen Lehrermangel, was wiederum zu grösseren Klassen führt. Und in den Spitälern wird längst vom Pflegenotstand gesprochen. In keiner anderen Branche gibt es so viele Aussteiger: 46 Prozent verlassen laut dem Schweizer Berufsverband für Pflegefachpersonal (SBK) ihren Beruf wieder, ein Drittel vor dem 35. Altersjahr. Oft deshalb, weil sie ausgebrannt sind.

In die Erschöpfung getrieben

Die Folge all dessen ist eine steigende Anzahl Burnouts, die aber momentan nur die Rückversicherungen stört. Zwischen 2012 und 2020 sind die Arbeitsunfähigkeiten auf Grund von psychischen Gründen um 70 Prozent gestiegen. Der Job-Stress-Index zeigt bis 2020 eine stetige Steigerung der Anzahl Menschen, die im kritischen Bereich arbeiten. Rund 30 Prozent der Menschen sind heute emotional eher oder sehr erschöpft. Auch die ständigen Umstrukturierungen und Veränderungen tragen dazu bei.

Wenn der Arbeitgeberverband unter diesen Umständen nun fordert, dass wir noch mehr und flexibler arbeiten müssten, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, dann ist dies hochgradig menschenfeindlich. Damit würden noch mehr Menschen in die Erschöpfung getrieben, und die Schäden müssten nicht einmal die Unternehmen berappen, da der Bundesrat sich ziert, Burnout als Arbeitskrankheit zu anerkennen. Die Gesundheitskosten und IV-Prämien sind auch wegen den Verschleisserscheinungen dieser Menschen gestiegen.

Die Alternative: Mehr Zeit und Beziehungen statt noch mehr «Wohlstand»

Dem «Mangel an Fachkräften» kann nur begegnet werden, indem wir unsere Ansprüche an die weitere Steigerung des Wohlstands zurückschrauben. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir wirklich einen Geländewagen (SUV) brauchen oder ein noch grösseres Heimkino.

Wenn wir weniger Fachkräfte haben, wird unsere Wirtschaft und damit unser Wohlstand tatsächlich etwas weniger schnell wachsen. Ist das wirklich ein Problem? Wir müssen innehalten und uns grundsätzlich die Frage stellen, was wir wirklich brauchen: Noch mehr «Wohlstand» oder ein weniger frenetisches Leben, in dem wir auch Zeit haben, um für unsere Kinder da zu sein oder Raum für die Kontemplation finden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu begrüssen, dass auch Akademiker Teilzeit arbeiten dürfen und nicht «zur Strafe» die Studienkosten zurückzahlen müssen. Warum sollten deren Kinder ihre Eltern kaum mehr sehen dürfen? Sollen sie in Krippen abgeschoben werden, nur weil die Eltern studiert haben?

Erziehung und Beziehung – das ist die Basis unserer Gesellschaft. Diese Grundtätigkeiten dürfen wir nicht leichtfertig opfern.


Dieser Artikel erschien erstmals am 01. März 2024 auf Insist Consulting.
Foto von Verne Ho auf Unsplash

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Das ChristNet-Forum vom vergangenen Samstag, 9. März 2024, in Bern wagte sich unter dem Titel „Gesundheitswesen: Zwischen Errungenschaft und Entgleisung“ an ein besonders brisantes Thema. Drei Referate mit unterschiedlichen Zugängen zum Thema mündeten in Rückfragen und Diskussionen zwischen Referierenden und Teilnehmenden.

Dass das Gesundheitswesen aus dem Ruder läuft, ist ein ständiges Thema in der Öffentlichkeit. Dies zeigt sich laut Dr. med. Severin Lüscher, Grossrat und Hausarzt im Kanton Aargau, zum Beispiel an der Anzahl Vorstössen, die von den eidgenössischen Räten behandelt werden. Waren es im Jahr 2001 noch 100, liege diese Zahl mittlerweile bei 600 pro Jahr. Als eines von vielen Problemfeldern nannte der Präsident der Sozial- und Gesundheitskommission des Aargauer Grossen Rates „Anspruchshaltung, Konsumverhalten und Masslosigkeit“. Die Gesundheitspolitik setze Fehlanreize, „jeder betrügt jeden“. Die Versicherten resp. Patientinnen benähmen sich nach der Bezahlung der Franchise wie im Selbstbedienungsladen ohne Kasse am Ausgang. Die Leistungserbringer verrechneten möglichst viele Leistungen. Daran ändere auch die Fallpauschale nichts. Die Versicherungen liessen die Tarifverhandlungen ins Leere laufen und die Politik habe sich der „Kostendämpfung“ verschrieben und sorge gleichzeitig für die Zunahme von Overheadkosten und nicht-produktiven Tätigkeiten. „Wie steht es mit der Sinnhaftigkeit und der Selbstwirksamkeit bei den Behandelnden und Behandelten?“, fragte Lüscher am Ende seines Referats. Das Gesundheitswesen könne nichts daran ändern, dass das Leben endlich sei. „Sind Spiritualität, Religiosität und Glaube im Kontext mit Gesundheit und Krankheit Privatsache oder ein Grundbedürfnis oder beides?“

Dr. Thomas Wild, Geschäftsleiter der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie (AWS) am Institut für Praktische Theologie der Uni Bern, stellte ebenfalls die „hohen Erwartungen an das Gesundheitswesen“ an den Anfang seines Referats. Sie zeigten sich auch an der gesundheitspolitischen Strategie 2020-2030 des Bundesrats. Nicht berücksichtigt würden dabei ethische Dilemmas und der Betreuungsnotstand ausserhalb der Pflege, die Auflösung der privaten Netzwerke also. Krankheit werde in der Bibel sehr umfassend definiert. Dazu gehörten sowohl körperliche Schwäche als auch seelische Verletzung, Erschöpfung und soziale Ausgrenzung – Aspekte, die heute zwar vermehrt Beachtung fänden, aber aufgrund von finanzieller und personeller Ressourcenknappheit in Zukunft durch das Gesundheitswesen kaum mehr angemessen abgedeckt werden könnten. Der frühere Spitalseelsorger am Berner Inselspital hielt fest, dass gerade christliche Seelsorge ermöglichen müsse, Themen anzusprechen, die in Gesellschaft und Institutionen ausgeblendet, übergangen oder tabuisiert werden, und plädierte für ein starkes kirchliches Engagement in Gesundheitsfragen.

Für mehr Ganzheitlichkeit in der Medizin plädierte auch Dr. med. Ursula Klopfstein. Sie zeigte anhand verschiedener Studien die Wichtigkeit von regelmässiger Bewegung im Zusammenhang mit dem Mikrobiom – der Gesamtheit der Mikroorganismen, die sich im und auf dem Menschen tummeln – auf und wie sich dessen Gesundheit nicht nur auf den Stoffwechsel oder die Entzündungsprozesse, sondern auch auf die Psyche auswirkt. Deshalb spielten nicht nur Medikamente bei der Erhaltung der Gesundheit eine grosse Rolle, sondern auch gesundes Essen und Bewegung. Für die ehemalige Pflegefachfrau und heutige Ärztin und Dozentin Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule standen deshalb folgende Fragen im Raum: „Wie kommen wir von einem Krankheits- zu einem Gesundheitswesen?“ und „Wie schaffen wir es, die Gesellschaft von einem ganzheitlichen Ansatz zu überzeugen, ohne zu einer Gesundheitsdiktatur zu werden und ohne vulnerable Gruppen zu diskriminieren?“

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Rechts oder links bestimmt unser politisches Denken und Agieren. Ist dies noch zeitgemäss, um den heutigen Anforderungen an die Politik zu genügen? Oder bräuchte es auch da ein Umdenken, um Lösungen für komplexe Probleme zu finden?

Die parlamentarische Rechts-Links-Sitzordnung bestimmt den politischen Diskurs der Neuzeit. Wie kam es dazu? Während der französischen Revolution wurden die räumliche Platzierung «Rechts» und «Links» politisch aufgeladen zu einem politischen Ordnungssystem, das in den revolutionären Umwälzungen ab 1791 Übersicht versprach. Die neue Nationalversammlung setzte die konservativen Aristokraten/Monarchisten auf die rechte, die fortschriftlich-revolutionären Patrioten auf die linke Seite.
Seitdem gilt diese Sitzordnung als Nomenklatur für alle Parteien im demokratischen Parlamentarismus. Sie bestimmt die politische Debatte bis heute, obwohl – und das ist der Anlass zu den folgenden Überlegungen – die Grenzlinien zwischen «links» und «rechts» programmatisch längst nicht mehr eindeutig sind.

Anachronistische Kategorien

Es mehren sich die Stimmen, welche die Kategorien «rechts und/oder links» für anachronistisch halten. Sie hinterfragen diese Zuweisungen von Parteien und Initiativen 1. .
Ich teile diesen Argwohn und reagiere besonders sensibel, wenn diese Etikettierung auch im christlichen Umfeld permanent unkritisch verwendet wird. Wenn also Einzelne oder Gruppen als «linksevangelikal» oder «rechts» tituliert werden, nur weil sie sozial und ökologisch agieren oder sich für traditionelle Werte einsetzen.

Gäbe es nicht auch ein Politisieren jenseits von links und rechts?

Diese Frage stellte Jim Wallis 1995 in seinem Buch «Die Seele der Politik» 2.
Die alten Schubladen der herrschenden politischen Ideologien von progressiv und konservativ, links und rechts seien gleichermassen unfähig, die gegenwärtige Krise klar zu benennen. Vertreten nicht Konservative und Progressive gemeinsam im Kern die grossen moralischen, sozialen und humanen Werte jüdisch-christlicher Tradition? War nicht das Auseinanderdividieren dieser Werte die Quelle für die daraus entstandenen, bis heute andauernden Polarisierungen und Grabenkämpfe?

Dass sich im 19. Jahrhundert die sozialpolitisch-progressiven Kräfte mit dem atheistischen Materialismus/Humanismus verbündeten, ist ja leider auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Christen und Kirchen den absurden Scheingegensatz von «sozialer Politik» und «Evangelium» jahrzehntelang kultiviert haben. Das zu verhindern ist den wenigen Persönlichkeiten der «Inneren Mission» (Joh. Hinrich Wichern +1881) und der religiös-sozialen Bewegung (Christoph Blumhardt +1919, Hermann Kutter +1931, Leonhard Ragaz +1945) damals leider nicht gelungen.

Das Rechts-Links-Schema franst aus

So prägt das Rechts-Links-Schema unser politisches und gesellschaftliches Bewusstsein als unverrückbares Ordnungsraster. Trotzdem scheint es nicht mehr zu passen.
Das hat das Taktieren der Parteien mit Unterlisten und Listenverbindungen für die letzte Nationalratswahl im Oktober 2023 gezeigt. Wer da mit wem wieso und warum koalierte – da konnte man nur staunen! Mutmassungen, Kopfschütteln und kritische Häme meldeten sich, denn das entsprach ganz und gar nicht unserem Bedürfnis nach verlässlichen Koordinaten.

Eine neue, ungewohnte Gemengelage entsteht global

Diese letztjährige Verwirrung in der Parteienlandschaft ist kein helvetischer Sonderfall, sondern ein europäisch-transatlantisches Phänomen. Es spiegelt einen Epochenwandel wider, der mit dem Fall der Mauer 1989 begonnen hat. Die bisherigen ideologischen Kategorien konservativ-traditionell-national und progressiv-multikulturell-global bröckeln ebenso wie das frühere Gegenüber von Kapitalismus und Kommunismus. China zeigt zum Beispiel, wie erfolgreich ein kapitalistischer Kommunismus sein kann, wenn er nicht von Korruption zersetzt würde.

Eine ideologisierte Politik wie bisher verhindert schon länger gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Multikrisen und zur Deeskalation internationaler Konflikte.
Gegenwärtig erleben wir, dass narzisstische Autokraten, selbstgefällige Oligarchen und egomanische Machtmenschen diese Ideologien nur noch propagandistisch nutzen, um Feindbilder zu kreieren und um dadurch ihre Nation – nein, sich selbst – gross zu machen. Und die Welt beginnt bedenklich zu taumeln.

In welche Richtung wird es gehen?

Die aktuellen Problemfelder «lassen sich nicht mehr so einfach auf der alten politischen Koordinatenachse zwischen rechts und links» verorten 3. Denn wir sind nicht mehr nur ökonomisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch, kulturell, sozialethisch, normativ, existentiell und neuerdings digital/medial in einer noch nie da gewesenen Intensität herausgefordert. Diese in sich autodynamische interagierende Vielfalt sprengt jede monokausale Erklärung. Ideologisch einseitiges, konservatives oder progressives Politisieren muss jetzt dringend offenlegen, welche Interessen da in Wirklichkeit noch wirkmächtig mitspielen.
Besonders bedenklich ist es in kürzester Zeit geworden, wie sich aktuell eine Intoleranz ausgerechnet bei denen radikalisiert, die für sich Toleranz einfordern. Politikerinnen und Parlamentarier, Wissenschaftler und Journalistinnen beklagen, wie seit der Pandemie eine teilweise gehässige Polarisierung und aggressiver werdende Verdächtigungskultur zunimmt, völlig jenseits der alten Rechts-Links-Gräben 4.

Politischer Gegner bleibt Mitmensch

Der christliche Glaube steht in unserer direkten Demokratie permanent in politischer Entscheidung. Umso mehr ist er jetzt gefordert, alte Polarisierungen und ideologische Gegensätze aufzubrechen und durch eine Gesamtschau zu überwinden, die wir beispielhaft bei den Propheten des Alten Testaments und natürlich bei Jesus finden: Es geht nicht um Macht, Profit und «gross sein wollen», sondern um den Dienst umfassender Mitmenschlichkeit.
Der Christliche Glaube analysiert die nationale Politik sowie die internationale und globale Wirklichkeit kritisch und merkt dann schnell, wie unzeitgemäss und perspektivlos das herkömmliche «Rechts-Links-Schema» wirkt. Es entspricht einfach nicht den biblischen Kriterien für eine Politik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung.

Was könnte eine Politik bewegen, die sich in letzter Verbindlichkeit – oder wenigstens minimal prinzipiell – an Jesu Botschaft, Gesinnung und Verhalten orientiert? Natürlich ist es enorm schwierig, Nächstenliebe von Klasse zu Klasse, Partei zu Partei, Rasse zu Rasse, Religion zu Religion und Nation zu Nation politisch umzusetzen. Aber jeder noch so gering erscheinende Versuch liesse uns eine politische Kultur «jenseits von rechts und links» entdecken, einen «dritten Weg», eine «neue Mitte», ein neues Verhalten, eine neue Freiheit von ideologischer Befangenheit.

Und es gab und gibt sie schon, die Politiker und Politikerinnen, die jenseits ihrer Parteizugehörigkeit als Brückenbauer agieren und die ihre Sachkompetenz und politische Überzeugung mit offener Dialogbereitschaft verbinden. Ihr argumentatives Ringen im Gespräch ermöglicht, einander zu verstehen und zu respektieren. Jede anständige, seriöse politische Kommunikation ohne Gehässigkeiten schafft eine Atmosphäre, in der mein politischer Gegner kein Feind ist, sondern Mitmensch bleibt! Gesprächsverweigerungen sind für eine Demokratie gefährlich, sie verhindern lösungsorientierte Sachpolitik und fördern subtile Machtpolitik.

In Schubladen denken – bitte nicht mehr!

Ich weiss: Die Sprachformel «Rechts/Links» lässt sich noch nicht aus der Welt zu schaffen.
Sie wird mir morgen und übermorgen in den Nachrichten und Medien begegnen wie eh und je. Wer aber dieses Schubladen-Denken aus seiner Denkkultur und dann auch aus seinem politischen Alltagsgeschäft verbannt, hebt sein politisches Denken und Agieren auf ein anderes – höheres – Niveau. Und das wird nachhaltige Folgen generieren.
Jeder zaghafte Versuch ist zu begrüssen und wäre unbedingt zu unterstützen!


1 Jüngst Martin Notter: «Die Einteilung in Konservative und Progressive folgt einer Parteilogik. Mit einem Zukunftsrat besteht die Chance, dass diese Logik überwunden wird (TAMagazin 34/2023)
2 Jim Wallis, Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München 1995. S.50-69
3 Robert Habeck, Von hier an anders. Köln 2021. S.68. Habeck ringt ab S.240 um eine Politik der Gemeinschaft in auszuhaltender Differenz jenseits herkömmlichen Lagerdenkens
4 Edgar Schuler, Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert. TA 9.8.2023

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Oktober 2023 auf Insist Consulting. Er wurde für ChristNet leicht überarbeitet.

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~ 4 min

Christinnen und Christen sind mit einem biblischen Freiheitsbegriff schnell zur Hand. Der folgende Artikel blickt unter die Oberfläche und führt weg von der Freiheit als höchstes Ziel einer Gesellschaft.

Immer wenn Freiheit als Wert und Ziel vertreten wird, wartet die Kritik daran gleich um die Ecke. Denn «Freiheit» wird meist zunächst als «negative» Freiheit verstanden, als ein «frei sein von…». Da drängt sich das Bedürfnis nach einer positiven Erweiterung auf.

Frei von, frei zu

Gerade aus christlicher Sicht kann zu Recht betont werden, es reiche nicht, bloss «frei von…», beispielsweise Sünde, Ungerechtigkeit, Angst, zu sein. Es gehe auch darum, «frei zu sein zu…», also mit frei wehendem geistlichem Rückenwind die Berufung eines gemeinschaftsfördernden Lebens mit Sinn, Perspektive und Hoffnung zu führen. Als Christ bin ich geneigt, die positive Sicht der Freiheit als wichtige Ergänzung willkommen zu heissen und die Diskussion um das Verständnis des Begriffs «Freiheit» damit ad acta zu legen: Ja, alle Menschen sollten und dürfen frei sein von Sünde, Unterdrückung und Ungerechtigkeit, um stattdessen in geistlicher, physischer und politischer Freiheit ein Leben im Gehorsam gegenüber dem Schöpfer zu führen und in verantwortlicher Mitgestaltung die Welt zu prägen, ganz im Sinn seines kommenden Friedensreiches. Mit dieser ergänzenden, von einem umfassenden Reich-Gottes-Verständnis ausgehenden Sicht von Freiheit sind schliesslich alle Aspekte von Freiheit abgedeckt, möchte man meinen.

Freiheit von Unterdrückung

Der kroatisch-amerikanische Theologe Miroslav Volf macht sich im Buch «Von der Ausgrenzung zur Umarmung» Gedanken über Exklusion, Inklusion, Identität, Unterdrückung, Befreiung, Versöhnung und vieles mehr. Er verbindet auf faszinierende Weise politische Theorie, geschichtliche Ereignisse, philosophische Erwägungen, biografische Erlebnisse und biblische Theologie. Ein zentrales Kapitel (124ff) ist mit «Umarmung» überschrieben. Die Geste der Umarmung steht bei Volf für eine Herzenshaltung der Nähe, der Vergebung, der Feindesliebe, des christusähnlichen «trotzdem…». Immer wieder geht es ihm um die Frage, wie Gebundene, Geknechtete frei werden können und was dazu sowohl von ihrer Seite wie auch von Seiten der Unterdrücker nötig ist. Hier kommt die Freiheit ins Spiel. Von einem christlichen Theologen würde man erwarten, dass er für einen Prozess plädiert, die mit dem Bekennen der Schuld und der Umkehr eines Unterdrückers beginnt und über die Vergebung des Gebundenen zu Versöhnung und neuer Nähe führt. Freiheit von Schuld, eine befreite Beziehung und tatsächliche Freiheit des vormals Unterdrückten wäre das Resultat.

Volfs skeptische Frage

Volf ist skeptisch gegenüber der eben geschilderten Erwartung. Nicht weil der Prozess per se falsch wäre, sondern weil es problematisch wird, wenn der Prozess, mit dem ein Zustand der Knechtschaft beendet werden soll, vorwiegend oder gar ausschliesslich durch das Ziel «Freiheit» motiviert ist. Die menschliche Anfälligkeit für die Sünde, so Volf, droht die gewonnene Freiheit in ihr Gegenteil zu kippen. Volf betont, dass sowohl «Täter» als auch «Opfer», ja alle Menschen, zur Umkehr gerufen sind. Wenn nun die Kategorien von Unterdrückung und Befreiung, von Schuld und Unschuld zu sehr einer Seite zugeordnet und in den Vordergrund gerückt werden, wird damit ein Gefälle kreiert, in welchem sich Unterdrückte moralisch überlegen fühlen, im Fall gewonnener Freiheit zu Unterdrückern werden und so die ehemaligen Täter/Unterdrücker in die Opferrolle und damit in die moralische Überlegenheit drängen. «Überlegene Moral ist allzu oft die Moral der Überlegenen» zitiert Volf (131f) Zygmunt Bauman und weist so auf die Risiken hin, die in einem Akt der Befreiung lauern für Menschen, welche die Freiheit gewonnen haben.

Von der Freiheit zur riskanten Liebe

Die Kategorien Schuld/Unschuld sind vor Gott klar, aber nicht vor den Menschen, da menschliches Zusammenleben komplex und selten eindeutig ist. Volf negiert keineswegs die Wichtigkeit befreienden Glaubens und Handelns. Aber er betont aus theologischer und philosophischer Überzeugung, dass «Freiheit» sich nicht als höchstes Ziel einer Gesellschaft eignet. Stattdessen plädiert er dafür, gemäss dem Vorbild Christi die Liebe zum höchsten Ziel menschlichen Handelns und gesellschaftlichen Zusammenlebens zu machen. Eine solche, vom Kreuz her inspirierte, Liebe ist verletzlich. Sie lebt riskant, muss sie doch damit rechnen, nicht erwidert, ja sogar zurückgewiesen und verachtet zu werden. Sie wird womöglich einseitig bleiben in ihrer nicht berechnenden Zuwendung und Vergebung. Aber was sie nicht tut: Sie kreiert kein neues Gefälle und sie bedient nicht die menschliche Schwäche, erlittenes Unrecht in Überlegenheit drehen zu wollen. Liebe eröffnet die Chance, dass eben doch etwas geschieht: Eine Reaktion, ein Nachdenken, ein zaghaftes Zurücklieben. Ein Wachsen von neuem Vertrauen. Auch wenn es Zeit braucht.

Befreiende Liebe

Volf bezieht die Vorrangstellung der Liebe vor der Freiheit vorwiegend auf das Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen oder sogar zwischen Staaten. Der Gedanke dahinter ist aber auch fruchtbar in anderen Lebensbereichen: Freiheit, und sei es auch christlich gemeinte Freiheit, birgt das Risiko, sich selbst ins Zentrum zu stellen. Denn Freiheit hat einen Zweck, sie ist gewissermassen «messbar» und Messbares neigt zu Vergleichen, zu Gewinnern und Verlierern. Liebe hingegen ist nicht messbar. Aber sie ist erlebbar und zweckfrei und kann damit der Vereinnahmung, der Gewinnerwartung und der Selbstzentriertheit besser widerstehen. Echte Liebe hat wie echte Freiheit ihre Quelle in Gott. Aber während letztere etwas Bestimmtes zu erfüllen hat, ist Liebe einfach, was sie ist.
Die Zweckfreiheit der durch Jesus motivierten Liebe ist deshalb auch die richtige Haltung, wenn wir vom politischen Feld zurück zum Alltagserleben kommen: Liebe muss nichts haben, muss nichts erreichen, muss nicht konsumieren, muss weder kaufen noch verkaufen, weder gewinnen noch vermeiden. Liebe ist frei, wahrhaft frei, nicht an sich selbst denken zu müssen und so in eine Egoknechtschaft zu geraten. Liebe kann sich verschenken zugunsten unserer Nächsten hier, anderswo auf der Erde und in der Zukunft. Christus ist gerade auch für freiheitsliebende Schweizer derjenige, der zuerst geliebt hat. Seine Liebe sprengt Ketten und befreit, ohne neue Knechte und Benachteiligte zu schaffen.


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~ 4 min

Freiheit kann sowohl kollektiv als auch individuell verstanden werden. Wichtige philosophische Grundlagen für diesen Wert wurden im 18. Jahrhunderts gelegt. Das biblische Verständnis dafür geht aber weit darüber hinaus.

«Freiheit» ist in der westlichen Welt ein beinahe ikonisches Konzept. Wenn es um das Zusammenleben der Menschen geht, gilt Freiheit immer als wichtiger, oft als wichtigster Wert. Schliesslich wurden und werden seit der Aufklärung Denkverbote und Dogmen in Frage gestellt und den Menschen und Völkern wird zugesprochen, in Freiheit ihre je eigene Autorität sein zu dürfen.

Zwei Konzeptionen von Freiheit

Die meisten Menschen haben ein weitgehend individualistisches Verständnis von Freiheit. Die Art, wie wir das Zusammenlebens im Staat und die eigene Verantwortung sehen, wurde wesentlich im Kielwasser der Aufklärung geprägt. Kant und Locke sind zwei Namen, die mit einem dem Individuum dienenden Verständnis von Freiheit verbunden sind. Diese Sichtweise kann im politikwissenschaftlichen Sinn «liberal» genannt werden. Das liberale Freiheitsverständnis hat viel Wirkung entfaltet, es ist aber nicht das einzige. Eine ältere Form des Freiheitsverständnisses geht auf die alte römische Republik oder auf Namen wie Machiavelli und Rousseau zurück. Im Gegensatz zu den oben genannten Denkern wurde bei diesen eher die Freiheit einer Gemeinschaft oder gar eines (Stadt-)Staates betont, kollektiv der Tyrannei die Stirn bieten zu können. Diese Sicht wird in der Regel mit dem Begriff «republikanisch» in Verbindung gebracht. Republikaner in diesem Sinn betonen im Gegensatz zu den Liberalen wesentlich stärker die Wehrhaftigkeit und Handlungsfreiheit des Kollektivs. Beiden Konzeptionen von Freiheit ist eigen, dass sie ein «frei sein von …» betonen. Während Liberale eher die Freiheit des Individuums vor staatlicher Willkür meinen, betont die republikanisch gesinnte Seite die freie Selbstbestimmung eines Volkes vis-a-vis einer meist äusseren, manchmal auch inneren Bedrohung.

Freiheit als Teil der Schweizer Identität

Beide skizzierten Strömungen sind in der Schweizer Politik identifizierbar. Sowohl das Volk als auch die einzelne Bürgerin wollen und sollen frei sein vor unzulässigen Einschränkungen. Die liberale Tradition wird im politischen Tagesgeschäft spürbar, wenn es beispielsweise um die Freiheit des Handels geht oder darum, Überwachungsbestrebungen des Staates in die Schranken zu weisen. Nicht selten werden in diesem Zusammenhang «Freiheit» und «Sicherheit» einander gegenübergestellt und betont, dass es keine Sicherheit geben kann ohne die Grundlage der Freiheit des Individuums. Die republikanische Tradition andererseits hinterlässt dann mediale Spuren, wenn der «Souverän», also die Stimmbevölkerung als massgebende letzte Instanz, betont wird oder wenn es darum geht, sich als Land der echten oder eingebildeten Einflussname aus dem Ausland oder der Anpassung fremden Mächten gegenüber entgegenzustellen. Stichworte dazu sind beispielsweise die Neutralitätsdebatte, das Bankgeheimnis und die Beziehung zur EU. Es gehört deshalb zur Geschichte und zum Selbstbild der Eidgenossenschaft, sowohl dem Individuum grösstmögliche Freiheit in allen Lebensbereichen zuzugestehen als auch zu betonen, dass die Schweiz als Volksgemeinschaft frei von Fremdbestimmung sein und bleiben solle.

Politische Freiheit ist weder rechts noch links

Die zwei Konzeptionen von Freiheit sind im politischen Tagesgeschäft beobachtbar; einige Themen sind sogar mühelos einer bestimmten politischen Partei zuzuordnen. Aber die Achse liberal-republikanisch ist kein Entweder-oder, sondern ein Kontinuum, auf dem sich politische Player je nach Fragestellung bewusst oder unbewusst positionieren. Deshalb sind die beiden Verständnisse von Freiheit auch nicht einfach mit der Links-rechts-Achse identisch. Bei Parteien links der Mitte sind sowohl ein Fokus auf das starke Kollektiv – Stichworte wie Solidarität und Lastenausgleich – als auch ein Unbehagen gegenüber staatlichen Übergriffen ins Privatleben – Stichwort Widerstand gegen Überwachsungsmassnahmen – feststellbar. Bei anderen Themen aber mit gleicher Vehemenz betont die politische Rechte sowohl die Gemeinschaft – Stichwort Selbstbestimmung der Schweiz als Nation – als auch Bedürfnisse des Individuums – Stichwort Steuer- und Wirtschaftspolitik.

Christliche Freiheit ist mehr als bloss republikanisch oder liberal

Freiheit im christlichen Sinn umfasst selbstverständlich wesentlich mehr als die Frage, wovon wir befreit werden müssen. Doch bleiben wir für den Moment bei der Frage, ob aufgrund eines christlichen Verständnisses von Freiheit eher das Kollektiv oder das Individuum vor etwas beschützt bzw. von etwas befreit werden muss.
Klar ist zunächst, dass die Freiheit auch aus christlicher Sicht hohe Wertschätzung verdient, denn wo der Geist Gottes weht, da ist Freiheit gemäss Paulus eine Folge (2. Kor 3,17) und zu Freiheit sind Christen schliesslich berufen (Gal 5,13). Auch dürfte es nicht überraschen, dass in dieser Perspektive kollektive und individuelle Freiheit nicht voneinander getrennt werden können, sondern miteinander verknüpft sind: In Jesu messianischer Antrittsrede (Luk 4, 16-21) stellt er sich vor als derjenige, der unter anderem Gefangene und Misshandelte – Individuen – befreit und dem Volk – dem Kollektiv – die befreiende Gnade Gottes zuspricht. Wen der Sohn frei macht, der ist wirklich frei (Joh 8,36), und dies gilt für Einzelne genauso wie für gemeinschaftliche Haltungen und Werte, wie das Gespräch in Joh 8,31-47 zeigt. Die Freiheit, die Christus Glaubenden verspricht, ist daher nicht «republikanisch» oder «liberal», auch nicht bloss die Summe oder eine Mischung von beidem, sondern weit mehr: Christliche Freiheit umfasst als Zielvorstellung letztlich die ganze Schöpfung (Römer 8,18-25). Diese weite Sicht kann dazu verhelfen, in politischen Fragen nicht bloss Aufmerksamkeit und Verständnis zu haben für unterschiedliche Konzeptionen von Freiheit, sondern darüber hinaus den Blick über das Tagesgeschäft hinaus zu erheben auf das, was Gottes Ziel ist: Eine befreite Schöpfung.

Ein weiterer Artikel zum gleichen Thema folgt nächste Woche.


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Was habe ich mich geärgert! Die Frühlingsferien standen bevor, der Rasen auf dem Fussballplatz war bereits kräftig, nur die Fussballtore fehlten. Ich schrieb der zuständigen Person unserer Stadtverwaltung, ob sie die Tore vor den Ferien noch aufstellen könnten. Nein, die Witterungsverhältnisse seien noch zu unsicher, der Rasen könnte Schaden nehmen. Diese Leute wissen nicht, was es heisst, mit drei halbwüchsigen Jungs auf Frühlingsferien zuzusteuern, ohne Fussball im Angebot.

In der Nachbargemeinde standen die Tore schon seit Wochen. Und auch meine Buben fuhren schliesslich mit den Velos hin und gingen dort Fussball spielen. Mir wurde einmal mehr bewusst, dass Kinder und Jugendliche selten Gehör finden. In unserer Stadtverwaltung gibt es zwar einen Jugendbeauftragten, er wurde aber noch nie an den Schulen gesehen und kein Kind weiss, wer er ist – geschweige denn, dass man ihn kontaktieren könnte. Wie in so vielen Gemeinden werden die Ideen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ausser Acht gelassen.

Wer darf mitbestimmen?

Wenn in der Schweiz politische Entscheide an der Urne gefällt werden, bestimmt ca. ein Viertel der Bevölkerung das Ergebnis 1 . Folglich sind drei Viertel aller Menschen in der Schweiz im Entscheid nicht repräsentiert. SP-Nationalrat Eric Nussbaumer hat uns am ChristNet-Forum Anfang Jahr herausgefordert, unsere Stimme für die Stimmlosen zu erheben. Als Beispiel für Stimmlose Bevölkerungsgruppen nannte er damals die Sans-Papiers – Menschen ohne Staatszugehörigkeit. In der Schweiz sind dies ca. 90’000 Personen.

Wessen Stimme bleibt in der Schweiz sonst noch ungehört? Die grösste Gruppe sind die Ausländer – 2.2 Mio. leben ohne Schweizer Pass hier. Sie sind unsere Nachbarn, Arbeitskolleginnen und Schulfreunde unserer Kinder. Mitbestimmen dürfen sie – bis auf einige Kantone in der Westschweiz und einzelne Gemeinden in Graubünden und Appenzell Ausserrhoden – nicht einmal auf Gemeindeebene. Eine praktisch gleich grosse Gruppe sind die 2.1 Mio. Menschen, die berechtigt wären, der Urne aus verschiedenen Gründen aber fernbleiben. Auch die 1.7 Mio. Kinder und Jugendlichen in unserem Land haben kein Mitbestimmungsrecht, ebenso wie ca. 16’000 Entmündigte.

Bei Minderjährigen kommt hinzu, dass sie von den Entscheidungen von heute besonders betroffen sind. Dies ist ganz grundsätzlich so, weil sie noch viele Jahre zu leben haben. Zudem sind sie überproportional von Armut betroffen und leiden meist mehrfach unter den prekären finanziellen Verhältnissen ihrer Eltern (materiell, sozial, kulturell, gesundheitlich, etc.). Trotzdem werden sie in der Regel nicht angehört, wenn es um die Festlegung der Sozialhilfebeiträge geht.

Engagement auf kommunaler Ebene

Mein Sohn und ich haben die fehlenden Sportmöglichkeiten während der Frühlingsferien zum Anlass genommen, um auf die Anliegen von Kindern und Jugendlichen aufmerksam zu machen. Wir verfassten eine Liste mit Forderungen, die es den Jungen erleichtern würden, in ihrer Freizeit Sport zu treiben. Dann sammelten wir über 100 Unterschriften von Erwachsenen, Lehrpersonen und Kindern, die unser Anliegen unterstützten, und sendeten alles an die Stadtverwaltung. Da wir zuvor schon sechsmal mit Anliegen an die Verwaltung gelangt waren, ohne ihr irgendwelche Eingeständnisse abringen zu können, wollten wir ein Ausrufezeichen setzen: Wir schrieben dem Chefredaktor des Rheintalers. Dieser hatte Verständnis für unser Anliegen und unterstützte dieses mit einem ganzseitigen Artikel und einem persönlichen Kommentar (https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/rheintal/rheineck-kinder-wollen-auch-in-den-ferien-fussball-spielen-ld.2446076).

Es folgte eine Einladung des Stadtpräsidenten – mein Sohn wurde nicht eingeladen -, um die Thematik zu besprechen. Er präsentierte einige Ideen, konnte aber nichts konkret zusagen. Später wurde ich erneut eingeladen und es wurden Fussballtore auf dem Allwetterplatz in Aussicht gestellt, damit Kinder auch in der nassen Jahreszeit Fussballspielen können. Diese stehen nun tatsächlich und werden auch während den Schulpausen rege genutzt.

Was hat es gebracht?

Aus meiner Sicht sind die Tore aber nicht der Hauptgewinn. Noch wichtiger erscheint mir, dass Dutzende von Kindern von dieser Aktion erfuhren und viele mit ihrer Unterschrift Teil davon wurden. Politische Bildung in der Praxis also. Auch auf Behördenseite hoffe ich auf positive Nachwirkungen. Nämlich, dass die Anliegen der Jungen in Zukunft nicht mehr ganz so unbedacht beiseite gewischt werden.

Wer sich für die Anliegen von Kindern und Jugendlichen einsetzen will, findet hier hilfreiche Ressourcen und ein Netzwerk von Gleichgesinnten:


1. 2022 lebten 8,82 Mio. Menschen in der Schweiz, davon waren 5,54 Mio. stimmberechtigt. An den Wahlen und Abstimmungen teilgenommen haben gemäss BfS 45,4 %, also 2.5 Mio.

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Die Mitglieder aus sechs christlich-sozialen Gruppierungen aus der Romandie trafen sich am Nachmittag des 12. Novembers 2023 in Morges unter dem Thema «Eine Zugehörigkeit, die die Solidarität in den Vordergrund stellt» zur «Plateforme Christianisme Solidaire».

Das Ziel der Tagung, an der auch ChristNet beteiligt war, bestand darin aufzuzeigen, wie politisches Engagement aus dem Glauben heraus konkret aussehen kann. Die beiden Referenten René Knüsel und Michel Sommer gaben zunächst einen Input, die Absicht der Veranstaltung war es jedoch, die Teilnehmenden kollektiv an der Weiterentwicklung des Themas in Workshops und Diskussionen teilhaben zu lassen. So wurden die Workshop-Themen nicht vorgegeben, sondern während der Referate von den Teilnehmenden vorgeschlagen. Auf den aufgehängten Zetteln konnten sich weitere Interessierte eintragen, worauf vier Workshop-Gruppen entstanden.

Der Soziologe René Knüsel beschrieb unsere Gesellschaft als eine Welt pluraler und selektiver Zugehörigkeiten, die auch reversibel seien. Jeder und jede versuche, „sich selbst zu sein“. Es bestehe die Gefahr eines „allgemeinen Rückzugs“ ins individuelle Universum. Um diesem entgegenzuwirken, müsse die gegenseitige Akzeptanz oder das, was Soziologen als „organische Solidarität“ bezeichnen, über die soziologischen Unterschiede hinweg bewusst gepflegt werden. Trotzdem gelte es diese zu respektieren, um das Gegenüber auch wirklich anzuerkennen. Jeder Mensch habe heute seine identitätsstiftende „Bezugsgruppe“, die sich von Person zu Person unterscheide.

Der Bibelwissenschaftler Michel Sommer interpretierte insbesondere Galater 3,26-29 dahingehend, dass die ersten christlichen Gemeinden ein «Überkleid» namens «Christus» empfangen hätten, das sich über die bisherigen konflikthaft unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten hinweg gebildet habe. Die Zugehörigkeit zu Christus sei von Grund auf offen für Vielfalt – sowohl intern als auch extern – in Bezug auf Sprachen, soziale Bindungen, Kulturen, Religionen und Biografien. Das berühmte Gleichnis des barmherzigen Samariters beeindrucke gerade dadurch, dass es zeige, wie ein Samariter seine kulturellen Barrieren überwand, um einen verletzten Juden zu pflegen und sich so mit jemandem zu solidarisieren, den er wohl bis dahin nicht als Nächster anerkannt hätte (Lukas 10,25–37).

Die Plenumsdiskussion mit den Referenten machte deutlich, wie wichtig die Entscheidung für ein verbindliches Engagement ist: Dieses helfe, die Interpretation des Evangeliums zu verfeinern, uns darin zu schulen, einander zuzuhören und unsere Argumentationsfähigkeit zu entwickeln. All dies erfordere Orte des offenen Austauschs und Kirchenkonzepte, die offen für Auseinandersetzungen sind, statt Strukturen, die von Generation zu Generation unreflektiert weitergegeben werden.

Weiter unterstrichen Teilnehmende, dass es darum gehe, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und anzuerkennen, ihnen Sicherheit zu bieten, ohne ihre kulturelle Zugehörigkeit dominieren zu wollen. Dazu gehöre es auch zu lernen, wie man Frieden schafft, indem man eine Verbindung zu anderen herstellt, ohne Gemeinsamkeiten oder einen Beitrag von der Gegenseite vorauszusetzen. Dieses Lernen erfordere Lernorte, an denen man von Angesicht zu Angesicht mit anderen «seine Batterien auflädt». «Peuple de frères, peuple de sœurs» («Volk von Brüdern, Volk von Schwestern») sangen wir zum Abschluss dieses Nachmittags, der unsere Nähe und unsere gemeinsame Sensibilität und Inspirationsquelle trotz verschiedener Kirchenzugehörigkeiten bestätigt hatte.


Übersetzung / Redaktion: Barbara Streit-Stettler

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Was ist Rassismus genau? Wie können wir ihm im Alltag begegnen? Mark Moser macht zunächst eine Auslegeordnung zu den Begrifflichkeiten und gibt schliesslich praktische Tipps, um «aktiv ein antirassistisches Leben» zu führen.

Rechtes Gedankengut und Rassismus ist in der deutschsprachigen Welt gemäss Studien auf dem Vormarsch. In der Schweiz wurden im Jahr 2022 10 Prozent mehr Fälle von Rassismus beim Schweizer Beratungsnetz gemeldet. Fremdenfeindlichkeit, rechtes Gedankengut und die Kategorisierung von Menschen nach sozialer Klasse, Ethnie, Nationalität und Aufenthaltsstatus ist auch in Kirchen leider nicht unüblich.

Im Kontext des Rassismusdiskurses trifft man inzwischen auf eine Vielzahl an Begriffen. Bezeichnungen wie black facing oder black profiling, aber auch auf Ausdrücke wie racial turn, rassiale Differenz, Intersektionalität, white supremacy oder critical whiteness. Grundlegend ist jedoch zunächst eine Klärung dessen, was eigentlich mit «Rasse» und «Rassismus» gemeint ist. Alltagsrassismus bezieht sich auf «lebensweltliche rassistische Praktiken und deren Erfahrung als auch auf die Inkorporierung von rassistischen Einstellungen im Sinne von Denk- und Handlungsmustern sowie emotionale Reaktionen und Prägungen.»

Im Schweizer Recht umfasst Rassismus jede Form von ungerechtfertigter Ungleichbehandlung, Äusserung oder physischer Gewaltanwendung, die Menschen wegen ihrer Herkunft, Rasse, Sprache oder Religion herabsetzt, verletzt oder benachteiligt.

Soziale Kategorisierung als Grundlage von Vorurteilen
Es gibt ein klassisches Konzept von «Rassismus». Rassistisch sind Ideologien, die die Menschheit in einer Anzahl von biologischen Rassen mit genetisch vererbbaren Eigenschaften einteilen, und die so verstandenen Rassen hierarchisch einstufen.
Weiter verbreitet hingegen ist ein verallgemeinertes Konzept (weite Bedeutung) von Rassismus. Es umfasst Ideologien und Praxisformen auf der Basis der Konstruktion von Menschengruppen als Abstammungs- und Herkunftsgemeinschaften, denen kollektive Merkmale zugeschrieben werden, die implizit oder explizit bewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden.

Diese Definition erweitert den Anwendungsbereich des Ausdrucks «Rassismus» von den biologisch aufgefassten Rassen auf alle Arten von Abstammungsgruppen, die als andersartig dargestellt werden, insbesondere auf «ethnische Gruppen» oder «Völker».

In unserer fragmentierten, hyper-individualisierten Gesellschaft beobachten wir die Auswirkungen von sozialer Kategorisierung. Darunter verstehen wir den mentalen Vorgang, bei dem eine Person jemand anderes oder sich selbst einer sozialen Kategorie bzw. sozialen Gruppe zuordnet. Man sieht eine andere Person oder sich selbst als Frau oder Mann, alt oder jung usw. Es handelt sich um einen automatischen Prozess, der sich praktisch nicht unterdrücken lässt. Zum einen ist soziale Kategorisierung nützlich, weil sie erlaubt, Erwartungen aufzubauen und Handlungen vorzubereiten. Zum anderen ist sie Grundlage für die Anwendung von Stereotypen und Vorurteilen.

Die Sozialforschung zeigt, dass wir zwischen den Gruppen (In-Groups), denen man sich zugehörig fühlt, und den Fremdgruppen (Out-Groups), auf die das nicht zutrifft, differenzieren. Ingroup-Mitglieder sehen einander als Individuen, während wir Outgroup-Mitglieder eher als Gruppe sehen. Forschungen zeigen, dass wir bei der Beurteilung von Personen aus anderen sozialen Gruppen (Out-Groups) weniger empathisch und eher kritisch und mit häufig negativen Assoziationen reagieren.

Rassismus ist mit Nächstenliebe nicht vereinbar
«Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» Dieses Gebot der Nächstenliebe ist eindeutig, es enthält keinen Spielraum für Diskriminierung und Verfolgung von Menschen. Gott liebt den Menschen: «Nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden» (1. Johannes 4,10). Dabei ist seine Liebe uns Menschen gegenüber bedingungslos und gilt allen. Ebenfalls sehr bekannt ist folgende Stelle aus dem 2. Buch Mose: «Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen» (2. Mose 20, 22). Die Botschaft ist glasklar: Rassismus ist nicht vereinbar mit dem Gebot der Nächstenliebe. Ebenso ist Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht kompatibel mit einer Theologie, die von einem liebenden Gottesbild ausgeht.

Rassistische Vorstellungen haben sich Weisse zurechtgelegt, um sich von weissen Nicht-Christen (Juden, Muslime etc.) und von christlichen Nicht-Weissen (z. B. Äthiopier, Kopten, Araber, christianisierte Afrikaner, Latinos etc.) abzugrenzen und sich als Herren über sie zu stellen.

Gerade das Christentum muss seinen Anteil am Rassismus anerkennen, aufarbeiten und ihn mit einem anderen Ansatz überwinden. Auf wissenschaftlicher, aber auch auf literarischer Ebene gibt es in letzter Zeit von Angehörigen der People of Colour hervorragende Schriften, die solche Ansätze und Visionen entwerfen.

Für das Christentum ist «Menschlichkeit» ein Ansatz: Vor Gott sind wir Menschen alle gleich. Menschlichkeit zielt auf Versöhnung hin.
Die Vorstellung, dass Gott im Menschen wohnt und nicht irgendwo weit weg im Weltall, kann ein Weg sein, dass Menschen einander respektvoll behandeln.
«Gott schaut herab vom Himmel auf die Menschen, zu sehen, ob da ein Verständiger sei, einen, der nach Gott fragt» (Psalm 53,3).

Konkret: Wie auf Rassismus reagieren?
Rassismus nicht zu akzeptieren ist eine aktive Lebenshaltung. Ich versuche aktiv anti-rassistisch zu leben. Ich toleriere keine rassistischen und diskriminierenden Aussagen und Handlungen. Ich bin bereit, auf diese zu reagieren. Was ich unbedingt vermeiden will, ist eine Situation, in der ich rassistische Aussagen oder Handlungen schweigend hinnehme. Denn Schweigen wird als Zustimmung, als Akzeptanz verstanden.

Je nach Beziehungs- und Vertrauensgrad, wähle ich eine unterschiedliche Vorgehensweise bei rassistischen und diskriminierenden Aussagen.

Wenn kaum Vertrauen und Beziehung vorhanden sind, erlebe ich es als wenig erfolgsversprechend, eine Haltungsänderung bewirken zu wollen. Dann benenne ich die rassistische oder diskriminierende Aussage und Handlung und grenze mich ab. Wichtig ist es, die Aussagen und Handlungen sichtbar zu machen und allenfalls auch Massnahmen einzuleiten.

Ich bin bereit, meine Ablehnung der Aussage verbal zu äussern und fokussiere auf die Aussagen und nicht auf die Person. Ich versuche, die Aussage nachzuvollziehen und lasse die Aussage verifizieren. «Habe ich dich richtig verstanden? Du sagst …» Dies gibt der Person die Möglichkeit, allenfalls die Aussage abzuschwächen oder sie zurückzuziehen.
Ich versuche nachzuvollziehen, warum die Person diese Aussage in diesem Augenblick macht. Ist es aus Wut, Enttäuschung oder aus dem Affekt? Das entschuldigt die Aussage nicht, hilft aber bei der Einordnung.

Ich setze klare Grenzen mit Aussagen wie: «Ich bin da ganz anderer Meinung und ich distanziere mich in aller Deutlichkeit von dieser Aussage.»
Häufig reagieren Menschen, die rassistische Aussagen machen, mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung. Ich verweise häufig auf den gesetzlichen Kontext und die Tatsache, dass Menschen gemäss Schweizer Recht nicht aufgrund ihrer Herkunft, Nationalität usw. diskriminiert werden dürfen und versuche das Gespräch auf Prinzipien und Werte zu lenken.

Gerade weil Religionen Nährböden für rassistische Interpretationen bieten können, ist es besonders wichtig, dass sich Religionsangehörige gegen Rassismus einsetzen.
Als Mensch und Christ bin ich überzeugt, dass Gott der Vater/die Mutter eine liebevolle Gottheit ist. Diese göttliche Liebe gilt entweder niemandem oder allen.


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