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Einleitung

In der Bibel sind die Stellen zahlreich, da Gott seinem Volk ein wunderbares Land verheisst. Die erste Stelle betrifft Abraham, der einen Nachkommen bekommen und in das Land ziehen soll, das Gott ihm zeigen wird1, 2 . Diese Verheissung wurde mehrmals wiederholt. Schliesslich konnte Israel das Land Kanaan einnehmen3 .

Später entzog Gott seinem Volk das Land wieder. Der letzte Rest wurde ihm genommen, als der zweite Tempel von den Römern im Jahr 70 n. Chr. zerstört wurde. Aber in den Propheten sind die Verheissungen zahlreich, dass Gott sein Volk ins Land zurückführen werde4 .

1948 wurde der moderne Staat Israel ausgerufen als Heimstätte für die von allen Seiten bedrängten Juden. Für viele Juden und Christen hatte damit die endgültige Erfüllung der Landverheissungen angefangen.

Im Neuen Testament wird die Landverheissung auf eine ganz besondere Art behandelt. Einerseits wird sie von Jesus und den Aposteln auf die ganze Erde ausgeweitet5 . Andererseits wird gezeigt, dass „in Christus“ erfüllt ist, was die Väter erwartet hatten: die persönliche Gegenwart Gottes in seinem Christus6 . Paulus unterscheidet zwischen dem irdischen und dem himmlischen Jerusalem7 . Die Heimat derer, die in Christus sind, ist das Jerusalem im Himmel. Dorthin sind sie unterwegs.

Welche Stellung sollen wir Jesus-Gläubigen mit heidnischem Hintergrund heute zu der Land-Verheissung einnehmen? Sollen wir uns denen anschliessen, die mit politischem und persönlichem Engagement das Land Israel, dessen biblische Dimensionen sie betonen, um jeden Preis verteidigen wollen? Oder denen, die behaupten, das Land Israel habe keine Bedeutung für unsern Glauben an Jesus Christus? Oder gibt es einen dritten Weg?

Für die folgenden Erwägungen haben mich drei Aufsätze angeregt, die ich sehr zur Lektüre empfehle8 .

1. Das Land Israel heute

Wir müssen unterscheiden zwischen dem „Land der Verheissung“ und dem Stück Land, das seit 1948 Israel heisst, weil darauf der moderne Staat Israel errichtet worden ist.

Verheissung bedeutet: Gott hat dem Volk das Land versprochen, und es ist auf dem Weg, in diesem Land zu wohnen. Für Israel gehören Erwählung des Volkes und Verheissung des Landes untrennbar zusammen. Weil Gott bestimmte Orte erwählt hat, ist das Land zwischen Ägypten und dem Zweistromland der Raum, der Israel zugeteilt ist.

 

Verwirrend ist es, dass Palästina seit Jahrhunderten mehrheitlich von ganz anderen Menschen bewohnt wurde; im Altertum hiessen sie Philister, heute Palästinenser, die dauernd von ihren Herren (arabischen, türkischen, europäischen) unterdrückt und ausgenutzt wurden. Seit 1967 leben sie unter israelischer Besatzung. Das hat ihnen aber nicht die ersehnte Befreiung gebracht, sondern sie haben neue Herren bekommen, die sagen, wie sie zu leben haben. Damit erleben sie eine erneute Unterdrückung, die der ähnlich ist, die ihre Vorfahren früher erlitten hatten.

Also leben in diesem Raum zwei Menschengruppen, die ihr Geschick selber zu gestalten wünschen, d.h. die den Ton angeben wollen, welche Lebensart hier gelten soll und wie die Ressourcen an Land, Wasser und Menschen verwendet werden sollen. Die Israelis berufen sich für ihren Anspruch auf ihre Bibel, in der verschiedene Modelle von Gestaltung des Landes vorliegen, d.h. verschiedene Vorstellungen von der Grösse des Gebietes, dem Einflussbereich der Regierung und der traditionsgemäss entscheidenden Gesetze.

Die Palästinenser berufen sich auf ihre Jahrhunderte alte Präsenz, auf die islamische Vorstellung, dass dieses Land, das einmal für Allah erobert worden ist, nicht aufgegeben werden und unter nichtislamische Herrschaft kommen darf, auf die Gesetze, die nach ihrer Tradition Geltung beanspruchen und auf das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung der Völker.

Jede Seite fordert mit grösst möglicher Kraft ihr Rechte ein und kämpft mit allen möglichen Mitteln, sie zu erhalten bzw. zu behalten. Jede Seite setzt die andere unter Druck in der Hoffnung, dass sie von ihren Ansprüchen ablässt. Jedes der beiden Völker möchte das andere dominieren oder, wenn das nicht geht, auf die Seite schaffen.

Die Weltgemeinschaft schaut zu und nimmt für die eine oder die andere Seite Stellung. Das geschieht im Bereich der Medien, der Wirtschaft und der Politik. Sie unterstützen ihre Lieblinge und stellen ihre Gegner in ein schiefes Licht. So nimmt die Weltgemeinschaft auf der Ebene psychologischer Kampfführung am Konflikt teil .

Wie sollen wir uns darin so verhalten, dass wir es vor unserem Herrn, Jesus Christus, Jeschua HaMaschiach, verantworten können?

2. Das Land Israel im Licht des Glaubens an Jesus Christus

Ich gehe mit Paulus davon aus, dass „ein neues Geschöpf ist, wer in Christus Jesus ist“ (2.Kor.5,17): „Das Alte ist vergangen, siehe, ganz Neues ist am Werden“. Von da aus werden Fragen um Land, Besitz und Sicherheit in einem besonderen Sinn behandelt. In Christus gehen wir auf das ewige Leben zu, auf das himmlische Jerusalem: das Neue. Darum sind in Ihm politische Ansprüche keine letzten Fragen; sie gehören zum Alten. Sie sind nur vorläufig wirksam.

Christus sagte: „Ich bin das Licht für die Welt“9 , und zu seinen Nachfolgern: „Ihr seid das Licht, das die Welt erhellt“10 . Das bedeutet für uns: Lasst das Licht, das ihr in mir seid, für die Menschen leuchten, und zwar für alle Menschen; die „Welt“ bedeutet in diesem Zusammenhang die ganze Menschheit. In seinem Buch „Lass dein Licht leuchten“11  ermutigt uns Jim Montgomery, unser Haus als „lighthouse“, d.h. als Leuchtturm bzw. „Lichthaus“ zu sehen, sodass unsere Nachbarn, über die guten Beziehungen, die wir pflegen, an dem Licht Teil bekommen, das von Jesus Christus ausgeht. Ich verstehe das so, dass Jesus seiner Gemeinde diesen Auftrag gibt.

 

Er gilt aber auch Israel. Gott richtete folgendes Wort an sein Volk: „Gott, der Herr, hat den Himmel geschaffen und ihn wie ein Zeltdach ausgespannt. Die Erde in ihrer ganzen Weite hat er gebildet, die Pflanzen liess er hervorspriessen, und den Menschen hat er Leben und Atem gegeben. Und nun sagt er zu seinem Boten: «Ich, der Herr, habe dich berufen, meine gerechten Pläne auszuführen. Ich fasse dich an der Hand und helfe dir, ich beschütze dich. Du wirst den Völkern zeigen, was ich von ihnen will, ja, für alle Völker mache ich dich zu einem Licht, das ihnen den Weg zu mir zeigt»12 . Danach hat das Gottesvolk Israel von seinem Gott den Auftrag, für alle Nationen Licht zu sein “ ein Leuchtturm für alle Menschen „, damit sie den Weg zu ihrem Schöpfer finden.

Diesen Auftrag können wir auch auf unsere Nation beziehen: Schweizer, werdet zu einem Leuchtturm für alle Menschen, d.h. für alle Völker. „An euren Taten sollen sie euren Vater im Himmel erkennen und ihn auch ehren“. Damit sagen wir aus: Werdet ein Ort der Orientierung in dunkler, stürmischer Zeit, weil über euch Gottes Herrlichkeit aufstrahlt13 .

Wenn nun in unsern Kreisen zu Recht die Forderung besteht, das Land Israel in höchster Ehre zu halten, so kann ich es folgendermassen verstehen: Israel ist berufen, in seinem Land der Leuchtturm zu sein, von dem der Segen Abrahams an alle Völker ausgeht14 , d.h. die Wahrheit Gottes wird unter die Völker hinausgetragen15 . Das ist ein messianisches Wort, das durch Jesus aktualisiert worden ist, als er vor dem Richter des römischen Weltreiches sagte: «Ja, du hast recht. Ich bin ein König. Ich bin geboren und in diese Welt gekommen, um ihr die Wahrheit zu bezeugen. Wer bereit ist, auf die Wahrheit zu hören, der hört auf mich.»16 . So wird Gottes Volk seinen Auftrag, Leuchtturm für die Völker zu sein, einlösen.

Dieser Auftrag steht in einer auffälligen Spannung zu dem, wie Israel heute seine Existenz auffasst. Dazu Frank Grothe: „Wegen der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Antisemitismus fühlen sich jüdische Menschen, die in der Diaspora leben, im Gegensatz zu israelischen Juden, in ihren wie auch immer gearteten Lebensumständen häufig nicht völlig dort zu Hause, wo sie leben. Ausserhalb Israels wird das Praktizieren des jüdischen Glaubens zur Bestätigung der eigenen Identität immer wichtiger und das Land Israel wird zur Zufluchtsmöglichkeit, die in einer feindseligen Welt das äusserst nötige Gefühl der Sicherheit verleiht“17 . Danach ist Israel vor allem um seine Sicherheit besorgt, während es seinen Auftrag, ein „Leuchtturm für alle Völker zu sein“, darüber vergisst oder doch sehr in den Hintergrund treten lässt.

Jesus hat diesen Auftrag aufgegriffen und aktualisiert. In ihm wird Israel zum Licht für alle Menschen. Werden die heutigen Israeliten diesen Auftrag durch Jesus annehmen, oder werden sie sich davon distanzieren? Werden wir Christen aus den Heiden unsern jüdischen Geschwistern diesen Auftrag in Erinnerung rufen oder werden wir an diesem unserem Auftrag vorbeigehen, d.h. ihnen das Licht Jesu schuldig bleiben und sie so in der Finsternis belassen?

Wir können unsern Auftrag in zwei Richtungen verpassen: 1. Wenn wir uns mit der Selbstbehauptung konservativer israelischer Gruppen identifizieren. 2. Wenn wir gleichgültig über die Nöte des Volkes und des Staates Israel hinweggehen.

Zu 1. zitiere ich Frank Grothe: „Wenn Israel Gefahr läuft sein Land zu verlieren, ist dies ein klares Zeichen dafür, dass Gott sein Volk auffordert umzukehren. Wenn Israel in Rebellion, Ungehorsam und Sünde verharrt, ist der Verlust des Landes eine sehr reale Bedrohung.“

Diese (oben beschriebenen) Anschauungen motivieren religiös-jüdische Zionisten. Die Mehrheit der jüdischen Siedler, die sich im Westjordanland und in Gaza niedergelassen haben, glauben an ein israelisches Commonwealth, das in dem Land errichtet wird, das den hebräischen Patriarchen versprochen wurde. Sie sind der Überzeugung, das politische und religiöse jüdische Recht müsse überall in Kraft gesetzt werden. Dies sei der Beginn der lange erwarteten Erlösung und werde das Kommen des Messias beschleunigen.

 

Eine bestimmte Gruppe dieser religiösen Nationalisten wird „die Getreuen vom Tempelberg“ genannt. Diese Gruppe arbeitet auf den Aufbau eines neuen jüdischen Tempels hin, der auf dem historischen Platz des salomonischen und des herodianischen Tempels aufgebaut werden soll. Für sie sind die moslemischen Heiligtümer, die jetzt dort stehen, eine Schändung, die verschwinden muss, selbst wenn dies Krieg mit der gesamten islamischen Welt bedeutet. Diese Leute sind der Meinung, das gesamte Gebiet des biblischen Israel müsse unter jüdische Herrschaft gebracht werden. Mit den Palästinensern dürfe hinsichtlich Jerusalems oder hinsichtlich der Siedlungen keinerlei Kompromiss eingegangen werden, weil Gott ausdrücklich geboten habe, mit einem Feind niemals einen Kompromiss in Bezug auf das Land zu schliessen. Diese Leute nehmen für sich in Anspruch, wirklich an den Gott des Tenach (des Alten Testamentes) zu glauben, und sie sind bereit, den Preis für ihre Überzeugungen zu bezahlen. Übrigens werden jüdische Gruppen wie diese häufig moralisch und finanziell von bestimmten evangelikalen Christen unterstützt, die Anhänger einer ähnlichen Eschatologie sind.?

Zu 2. Wenn wir dieser Tendenz nachgeben, werden wir uns auch von den jüdischen Menschen distanzieren, d.h. wir verzichten auf den persönlichen Zugang zu ihnen. Wir kommen nicht darum herum, uns, wenn immer sinnvoll, in der Gemeinde, im Bekanntenkreis und in der Öffentlichkeit auf die Seite des Gottesvolkes Israel zu stellen. Die Menschen um uns herum sollen wahrnehmen, dass wir zu den jüngeren Geschwistern dieses Volkes gehören, weil wir „im Wurzelstock Israel eingepfropft“18  sind.

3. Folgerungen

Wir werden unsere politische Sicht davon bestimmen lassen, dass wir in Christus (dem Messias der Juden) an der Erlösung, d.h. am „verheissenen Land“ im Sinn des ewigen Lebens Anteil haben.

Das Land Israel ist selber ein sichtbares Zeichen für Gottes Treue, nämlich dass er bereit ist, seine Friedens-Verheissung für die ganze Erde wahr zu machen. Es ist der Weg für die Juden, Gottes Wort neu zu vertrauen. Gottes Wort sagt zu Israel: „Du sollst in dem Land, das ich dir gegeben habe, ein Licht für die Heiden, ein Leuchtturm für alle Völker sein.“

Meine Frage an das jetzige Staatssystem und die jetzige Regierung Israels lautet: „Seid ihr bereit, diesen Auftrag wahrzunehmen, wie er durch den Messias offenbart wird? Seid ihr bereit, dieses Zerbrechen des Messias anzunehmen, das die Ausführung des Auftrags erst ermöglicht?“ Das ist es, was Gott in Jesus offenbart hat.

Der jetzige Regierungschef ist ein General gewesen, und er regiert wie ein General. Als solcher tut er seine Pflicht, indem er kämpft, bis er den Sieg über seine Feinde errungen hat. Das entspricht der militärischen Sicht Davids. Dieser militärischen Sicht des jüdischen Königtums hat Jesus in seinem Leiden bis zum Tod am Kreuz eine andere Sicht entgegengesetzt. Sein Ziel war ebenfalls der Sieg, jedoch der Sieg über alle Schuld, alle Gewalt und alles Verderben auf der Erde. Ist Israel und sind wir Christen bereit, diese Sicht anzunehmen und die Konsequenzen daraus zu ziehen, auch in unserem Verhältnis zum Land Israel?

Im kommenden Friedensreich, in dem der Geist des Messias den Ton angibt19 , werden die Fremden und selbst die Feinde beieinander wohnen. Dieses Wort ermutigt jeden möglichen Versuch, die verfeindeten Menschen zum Austausch zusammen zu bringen. Sich kennen lernen, einander schätzen lernen, einander gegenseitig bereichern, die Absichten Gottes für einander erfassen lernen, solches Verhalten verweist auf das von Jesaja verheissene Friedensreich. Deshalb begrüsse ich den Versuch der „Genfer Initiative“, dass Vertreter der Israeli und der Palästinenser mit einander eine Auslege-Ordnung vorgenommen haben über die gegenseitigen Vorstellungen und Forderungen im Blick auf das Land Israel. Das sind Vorschläge, deren allfällige Verwirklichung viel Weisheit von Gott, politisches Geschick und viele weitere Begegnungen erfordert.

Danach kann das Land Israel für die Juden der Ort werden, von dem aus sie Jeschua, ihren Messias, allen Menschen der Erde verkünden, sodass sie Licht und Segensträger für alle Menschen werden. Sie sind berufen, ein „Leuchtturm“ für die ganze Menschheit zu sein.

Das gleiche gilt für die Palästinenser (und für alle andern Nationen): „Ihre Heimat soll zu einem Leuchtturm für die Völker der Welt werden “ durch den ersehnten Erlöser Jesus Christus. Hier finden sich beide Gruppen im gleichen Auftrag.

 

Schlussbemerkungen

Heute schaut die ganze Welt auf Israel/Palästina, d.h. es ist schon jetzt ein „Leuchtturm“. Aber es ist die Frage, ob es Gottes Licht weitergibt, wie es uns in Jesus Christus offenbart worden ist, oder ob es ein traditionelles, gesetzliches, verdunkeltes, bedrohliches Halblicht ist, das eher Gefangenschaft wiedergibt, statt den Weg der Befreiung, wie er von Jesus verkündigt worden ist. Wie kommt es, dass heute in unserer Welt Israel als Zeichen des Fluches wahrgenommen wird, statt als Zeichen für Gottes Segen, der allen Völkern gilt?

Wie unterstützen wir Christen aus den Völkern der Welt das Gottesvolk, dass es wirklich in seine Bestimmung kommt, das Licht unter die Völker zu tragen? Von Paulus aus ist unser Auftrag klar: Wir sollen die Juden zur Nacheiferung reizen, wie er es selber gelebt hat, damit sie an Gottes Gnade teilnehmen20 . Und die Palästinenser? Sie haben nur eine Zukunft, wenn sie Jesus als ihren Erlöser kennen lernen und annehmen.

Beten wir um neue Wege, wie wir „den Juden ein Jude und den Palästinensern ein Palästinenser“ werden können21 . Das kann ja nur geschehen in der Kraft des heiligen Geistes, der von Jesus Christus, Jeschua HaMaschiach ausgeht. Achten wir darauf, wo solche Begegnungen bereits geschehen, damit wir sie unterstützen und allenfalls neu eingehen.

Bern, 22. Februar 2005, Werner Ninck

 


1. Die meisten Zitate stammen aus der Übersetzung „Hoffnung für alle“

2. 1.Mose 12,1-2, Der Herr sagte zu Abram: «Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft, und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde! Deine Nachkommen sollen zu einem großen Volk werden; ich werde dir viel Gutes tun; deinen Namen wird jeder kennen und mit Achtung aussprechen. Durch dich werden auch andere Menschen am Segen teilhaben soll.

3.  Josua 24,13: Ich gab euch ein Land, das ihr nicht mehr urbar machen musstet, und Städte, die ihr nicht erbaut habt. Ihr esst die Früchte von Weinbergen und Ölbäumen, die ihr nicht gepflanzt habt.

4. z.B. Hes. 36,24: Ich hole euch zurück aus fernen Ländern und fremden Völkern und bringe euch in euer eigenes Land.

5. z.B. Matth.5,5: Glücklich sind, die auf Gewalt verzichten, denn sie werden die ganze Erde besitzen.

6. z.B. Joh.4,12-24: Jesus antwortete: «Glaube mir, die Zeit wird kommen, in der es unwichtig ist, ob ihr Gott auf diesem Berg oder in Jerusalem anbetet. Ihr wisst ja nicht einmal, wen ihr anbetet. Wir aber wissen, zu wem wir beten. Denn das Heil der Welt kommt von den Juden. Doch es kommt die Zeit, ja sie ist schon da, in der die Menschen Gott überall anbeten können; wichtig ist allein, dass sie von Gottes Geist und seiner Wahrheit erfüllt sind. Von diesen Menschen will Gott angebetet werden. Denn Gott ist Geist. Und wer Gott anbeten will, muss seinen Geist haben und in seiner Wahrheit leben.»

7. Gal.4, 22-24.26: Dort heißt es, dass Abraham zwei Söhne hatte: einen von der Sklavin Hagar und einen von seiner Frau Sara, die als Freie geboren war. Der Sohn der Sklavin wurde geboren, weil Abraham endlich einen Sohn haben wollte, der Sohn der Freien dagegen, weil Gott ihn verheißen hatte. Am Beispiel dieser beiden Frauen will uns Gott zeigen, wie verschieden die beiden Bündnisse sind, die er mit den Menschen geschlossen hat. Den einen Bund schloss Gott auf dem Berge Sinai mit dem Volk Israel, als er ihm durch Mose das Gesetz gab. Dieses Gesetz aber knechtet uns und bringt nur Sklaven hervor wie Hagar…. Die andere Frau aber, von der wir abstammen, ist frei. Sie weist auf das neue Jerusalem im Himmel hin, auf den neuen Bund, den Gott mit uns durch Jesus Christus geschlossen hat.

8. Frank Grothe, Jüdischer Glaube und heiliges Land. (www.grothe.ch). P. Walker, Die Auslegung der Landverheissung im neuen Testament (unterrichtet Neues Testament an der Wycliffe Hall, Oxford University in England), O. Palmer Robertson, Die Landverheissung im Licht des neuen Testaments (Robertson unterrichtet am Knox Theological Seminary in Fort Lauderdale, Florida, USA und am African Bible College in Lolongwe, Malawi)

9. Joh.8,12

10.  Matth.5,14

11. Jim Montgomery, Lass dein Licht leuchten. Wie Jesus zu unseren Nachbarn kommt. Gloryworld Medien, 2002.

12. Jes.42,5.6

13. Jes. 60,1.2

14. 1.Mose 12,3

15. Jes.42,1

16. Joh18,37

17. s. Anm. 7

18. Röm.11,17

19. Jes.11,1-9 Was von Davids Königshaus noch übrigbleibt, gleicht einem alten Baumstumpf. Doch er wird zu neuem Leben erwachen: Ein junger Trieb sprießt aus seinen Wurzeln hervor. Der Geist des Herrn wird auf ihm ruhen, ein Geist der Weisheit und der Einsicht, ein Geist des Rates und der Kraft, ein Geist der Erkenntnis und der Ehrfurcht vor dem Herrn. Er wird den Herrn von ganzem Herzen achten und ehren. Er richtet nicht nach dem Augenschein und fällt seine Urteile nicht nach dem Hörensagen. Unbestechlich verhilft er den Armen zu ihrem Recht und setzt sich für die Rechtlosen im Land ein. Sein Urteilsspruch wird die Erde treffen; ein Wort von ihm genügt, um die Gottlosen zu töten. Gerechtigkeit und Treue werden sein ganzes Handeln bestimmen. Dann werden Wolf und Lamm friedlich beieinander wohnen, der Leopard wird beim Ziegenböckchen liegen. Kälber, Rinder und junge Löwen weiden zusammen, ein kleiner Junge kann sie hüten. Kuh und Bärin teilen die gleiche Weide, und ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Heu wie ein Rind. Ein Säugling spielt beim Schlupfloch der Viper, ein Kind greift in die Höhle der Otter. Auf dem ganzen heiligen Berg wird niemand etwas Böses tun und Schaden anrichten. Alle Menschen kennen den Herrn, das Wissen um ihn erfüllt das Land wie Wasser das Meer.

20. Röm.11,14.15: Denn kam es schon zur Versöhnung der Völker mit Gott, als er sich von Israel abwandte, wie herrlich muss es werden, wenn Gott sich seinem Volk wieder zuwendet. Dann werden Tote zum Leben auferstehen.

21. 1.Kor.9,19ff.


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Eine Einleitung über Globalisierung von Ruth Valerio im pdf unten :

– Globalisierung und Armut
– Globalisierung, die Gemeinde und Mission
– Globalsierung aus biblischer Perspektive

Globalisierung_Valerio

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Mit unheimlicher Lautstärke dröhnen die Glocken der Friedenskirche durch meine Nachbarschaft. Insbesondere am Sonntagmorgen schallen sie derart durchdringend, dass jedes Schlafen verunmöglicht wird. Ein Christ antwortete auf mein Klagen diesbezüglich: „Wir können doch froh sein um dieses Geläute. Das ruft uns Schweizern wenigstens wieder in Erinnerung, dass wir in einem christlichen Land leben.“ In einem christlichen Land? Wir? – Diese Idee macht mich stutzig. Was heisst es überhaupt, ein christliches Land zu sein? Und falls wir wissen was es heisst, ein christliches Land zu sein ? ist die Schweiz ein solches Land?

1. Sind die Schweizer Christen? ? ein erstes Kriterium

Ja, wann ist ein Land ein christliches Land? Für viele Leute ist die Antwort: Wenn es in diesem Land viele Christen gibt. Dieses Kriterium bedient sich des Mottos „Die Summe der Teile machen das Ganze aus“. Wenn alle Bewohner Christen sind, oder ein Grossteil, oder mehr als die Hälfte, so kann man das Land als Ganzes christlich nennen. Zur reinen Anzahl an Christen kommt Folgendes: In einem Land, in dem es viele Christen gibt, werden konsequenterweise auch die Gesetze, die Kultur und „die Luft, die man atmet,“ christlich geprägt sein. Deshalb wird oft auch gesagt, dass ein Land, das christliche Werte in Politik und Gesellschaft verwirklicht, ein christliches Land sei.

Ein erstes Kriterium für ein christliches Land wäre also: ein Land, in dem einerseits viele Christen leben, und in dem andererseits christliche Werte in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen.

a) Heute

Ist die Schweiz nach diesem Kriterium ein christliches Land? Dazu müssen wir uns fragen, was es heisst, Christ zu sein. Fragt man die Christen danach, so betonen sie immer, dass Christsein viel mehr bedeute als an Weihnachten pro forma einen Gottesdienst über sich ergehen zu lassen. Christsein bedeute, in seinem Leben einen Punkt zu setzen und umzukehren, sich von Gott die Fehler vergeben zu lassen, Sorglosigkeit und Freude und Befreiung schenken zu lassen, mit Jesus , seiner Liebe und seinem Geist durch den Alltag zu gehen und vieles mehr. Wieviele der Schweizer Einwohner sind von dieser Vision geprägt? Wo ist auch nur ein Ort in der Schweiz, dessen Strassen mit Christenmenschen gefüllt wären? Ich sehe ihn nicht.

Und da die Öffentlichkeit immer von den Bürgern geformt wird, die sie ausmachen, sind somit auch unsere Gesetze, unsere Gesellschaft und Kultur nicht von christlichen Zielen geleitet (und wenn sie es sind, dann entspringt dies nicht mehr einer christlicher Motivation). In der Schweizer Öffentlichkeit wehen viele Geister, gute wie böse: die Geldliebe, die Bitterkeit, die Ehrlichkeit, die Sorge um die Natur, der Spass, usw. Der Geist Jesu aber ist inmitten dieser Stürme kein starker Wind.

Sehr viele Christen verwenden zwei verschiedene Definitionen von Christsein und christlichen Werten, je nachdem ob sie die Meinung vertreten, die Schweiz sei ein christliches Land oder ob sie sonst ? im Rahmen eines Gottesdienstes oder eines Hauskreises ? über ihren Glauben sprechen. In ersterem Fall gilt die Schweiz auf einmal als christliches Land, nur weil noch eine Minderheit manchmal den Gottesdienst besucht oder weil unsere Gesetze entsprechend den Zehn Geboten das Morden verbieten.

b) Gestern

Einige Leser werden eingestehen, dass die Schweiz heute tatsächlich nicht mehr von Christen bevölkert ist. Aber sie werden erwidern, dass dies in den vergangenen Jahrhunderten anders gewesen sei. Und: Unsere ganze heutige Kultur sei auf diesem christlichen Boden früherer Zeiten gewachsen und somit von ihm genährt.

 

Dazu ist dreierlei zu erwidern: Erstens, inwiefern kann einen der Glauben der Vorfahren tragen ? und inwiefern muss jeder Mensch selbst zu Gott finden? Zweitens, wie stark ist der Einfluss der Zeiten von Niklaus von der Flüe und Jeremias Gotthelf auf das Leben im 21. Jahrhundert überhaupt noch? Drittens ? und das ist die wichtigste Erwiderung ?, wie christlich sind unsere Wurzeln wirklich? Wer prägte das sogenannte christliche Abendland: Bibeltreue Prediger oder vom Aberglauben durchtränkte Volksfrömmigkeit? Ein paar wenige pazifistische Mennoniten oder unzählige kriegslustige Adlige? Matthias Claudius oder Denis Diderot? Die Liste liesse sich fortsetzen. Vergleichen wir doch einmal, was Jesus der Welt angepriesen hat und was die Öffentlichkeit und den Alltag eines Menschen in den Jahrhunderten des sogenannten christlichen Abendlandes geprägt hat! Stellt sich da nicht die Frage, ob nicht auch in der so vielbeschworenen christlichen Vergangenheit der Schweiz der „breite Pfad“ von mehr Menschen beschritten wurde ? das neue Leben hingegen, das Gott den Menschen geben möchte, nur einen kleinen Teil der Menschen und der Kultur und Politik echt verändern konnte?

Es sieht also so aus, dass sowohl heute als auch in der Vergangenheit ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung zu jenen Menschen gehört, die das Evangeliums zu empfangen brauchen und nicht zu jenen, die es schon empfangen haben. Und somit war auch die Gesellschaft, Politik und Kultur nie besonders stark von christlichen Zielen geleitet. Wenn man die „Christlichkeit“ eines Landes daran messen will, ob die Teile, die es ausmachen ? seine Menschen, seine Führer, sein öffentliches Leben ? vom Glauben an den Gott Abrahams geprägt sind, so können wir die Schweiz nicht als christliches Land bezeichnen.

2. Ist die Schweiz Christ? ? ein zweites Kriterium

Es gibt Christen, die die Schweiz trotzdem als christliches Land bezeichnen, obwohl sie einsehen ? und auch beklagen -, dass die Schweizer die Prägung durch den Glauben an Jesus verloren haben oder nie gehabt haben. Und zwar, weil sie unter einem christlichen Land etwas anderes verstehen, als dass in diesem Land eine bestimmte Anzahl von Christen leben. Diese andere Sicht betont, dass wir uns im Bundesbrief und in der Verfassung Gott anbefohlen haben und Gott die Schweiz gesegnet hat. So wie ein Individuum sich zu Gott bekehren kann, so kann auch eine Nation ? wie eine Person ? mit Gott in eine Beziehung treten. Es spielt dabei keine Rolle, dass die Schweizer heute in ihren je individuellen Leben Gott verlassen haben. Die Schweiz als Ganzes ist und bleibt Gottes Kind ? so die Meinung vieler Christen. Dieses zweite Kriterium dafür, ob ein Land christlich ist oder nicht, bezeichnet ein Land nicht dann als christlich, wenn seine Teile es sind, sondern wenn das Land als Land eine spezielle Beziehung zu Gott hat.

a) Flaggen, Briefe und Präambeln

Es scheint äusserst fraglich, ob die Schweiz nach diesem zweiten Kriterium ein christliches Land ist. Oftmals wird zur Stützung dieser Idee auf das Kreuz in unserer Flagge verwiesen. Man muss sich jedoch fragen, ob zum Beispiel der Kanton Neuenburg wirklich ein christlicherer Kanton ist als der Kanton Bern, nur weil in seiner Flagge ein Kreuz prangt statt eines Bären. Macht das den Unterschied?

 

Als weitere Stützung für die Idee einer „christlichen Schweiz“ wird oft der Bundesbrief von 1291 genannt. Nur ist es bei genauerem Hinsehen nicht einsichtig, wie der Bundesbrief die Schweiz irgendwie näher zu Gott geführt hätte. Der Bundesbrief ist ein Dokument, das einen Verteidigungsbund zwischen drei Tälern und die wichtigsten Regeln der Justiz kurz und schriftlich festhält. In keiner Weise ist es ein Bund mit Gott, wie dies zur Zeit unter Christen zu hören ist1 ! Natürlich beginnt der Bundesbrief „In Gottes Namen, Amen“ und an einer Stelle kommt ein „so Gott will“ vor. Aber weshalb diese zwei Formulierungen ein Militär- und Justizbündnis zu einem Gottesbund machen sollen, ist nicht einsichtig. Die Anrufung Gottes in der Einleitung war etwas Bescheideneres ? man bat Gott darum Herr oder Zeuge (oder etwas Ähnliches) des Bundes zwischen den Talschaften zu sein. Und wenn man bedenkt, wieviel tausend Bündnisse und Urkunden zu dieser Zeit (nicht zuletzt jene der Feinde der Eidgenossen) mit einer solchen oder ähnlichen Anrufung Gottes begonnen haben, so muss man anerkennen, dass die Einleitung nur teilweise das Gewicht eines ernsten Wortes besass, zum grössten Teil aber einfach gebräuchliche Floskel war. Auch muss man sich bewusst sein, dass der Bundesbrief nicht das Gründungsdokument der Schweiz ist. Es gab damals eine Reihe solcher Bündnisse ? im 19. Jahrhundert wurde einfach dieses besonders prägnante Beispiel als Anfang der Schweiz bestimmt.

Dann gibt es noch die Präambel zur Bundesverfassung: „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Die Bibel lehrt uns an so vielen Stellen, dass Gott nicht auf offizielle Bezeugungen achtet, sondern dass ihm die tatsächliche Herzenshaltung und die daraus fliessenden Taten wichtig sind2 . Weshalb eine solche Präambel die Schweiz christlicher machen soll, ist deshalb völlig unerklärlich. Dies ist umso unerklärlicher, wenn man die Bedeutung der Präambel bedenkt. Juristisch gesehen ist klar, dass die Präambel keine Rechtskraft hat ? ihr Wert ist allein symbolischer Art. Auch wurde in den parlamentarischen Beratungen deutlich, dass in dieser Anrufung nicht einfach der Gott der Christenheit angerufen wird. So sagte der federführende Bundesrat Koller: „Jede Person kann (…) Gott dem Allmächtigen einen persönlichen Sinn geben.“ Die meisten Parlamentarier machten deutlich, dass das „Im Namen Gottes des Allmächtigen“ vor allem die Begrenztheit unseres menschlichen Handelns ausdrücke, und nicht mehr. Wer kann die Propheten lesen und gleichzeitig behaupten, dass es Gott ehrt, wenn eine solche Präambel als Worthülse beschlossen wird, für die einer der wichtigsten Gründe laut bundesrätlicher Botschaft der Traditionsanschluss ist? Welches Land kann sich vor Gott rühmen, das zwar der Verfassung ein paar schöne Worte voranstellt, im Alltag aber dem Geld, dem Wirtschaftswachstum und der Leistungsgesellschaft verschrieben ist?

Weiters wird oftmals auf das Wohlergehen der Schweiz verwiesen, um zu beweisen, dass Gott unser Land speziell gesegnet hat. Was, wenn nicht Gottes Segen, hätte unser Land mit einer derart friedlichen Geschichte und einem derart grossen Bruttoinlandsprodukt ausgestattet? Nun, die Bibel ist voll von Klagen darüber, wie die Gottlosen saufen und fressen können3 , während diejenigen, die Gott gehören, unten durch müssen. Natürlich gibt es in der Bibel ebenso viele Beispiele, wo Gott die Seinen mit irdischem Wohlergehen segnet4 . Dass es diese beiden Seiten gibt, zeigt uns, dass man nie auf einfache Weise sagen kann: Uns geht es gut, also steckt Gott dahinter. Genausogut könnte unser Wohlergehen die Folge unserer guten wie schlechten Taten sein oder der freien Gnade Gottes entspringen.

Auch nach dem zweiten Kriterium gibt es also keinen Grund, die Schweiz als Land als besonders zu Gott gehörig zu betrachten5 .

b) Exkurs: Länder als Ansprechpartner Gottes?

Hier ein kleiner Exkurs über einen wichtigen, wenn auch komplexen Nebenaspekt:

Wir sind oft in Verwirrungen verstrickt, wenn wir Länder überhaupt als zu Gott gehörig zu betrachten. Wir können nicht davon sprechen, dass die Schweiz als Schweiz ? oder irgendein Land ? christlich sei, ohne zu beachten, dass wir moderne Menschen uns überhaupt nicht mehr gewohnt sind in Gruppen, Generationen und Nationen als organischen Einheiten zu denken. Für uns scheinen Gemeinschaften immer bloss eine Ansammlung von Individuen zu sein. Für die Menschen des 21. Jahrhunderts ist es ein querer Gedanke, ein Land ? und nicht einen Menschen ? als Gottes Partner zu bezeichnen. Unserem völlig individualistisch und liberal geprägten Denken fällt es schwer, die Tatsache, dass auch Gemeinschaften eine Beziehung zu Gott haben können, aufzunehmen, sauber einzuordnen und vor allem wahrzuhaben. Die Bibel aber spricht oft zu einer Gemeinschaft ? nicht als einer Summe von Einzelpersonen, sondern als einer einzelnen Person6 .

Natürlich ist es nicht eindeutig zu verstehen, wie Gott zu Gemeinschaften spricht (und sogar das „ob überhaupt“ ist nicht völlig klar). So sprach Gott damals z.B. zu Menschen, die sich vielmehr als Wir denn als Ich empfunden haben. Inwieweit können wir diese Aussagen auf uns heutige Menschen übertragen, die sich vielmehr als Ich denn als Wir empfinden? Die Gemeinschaften zu denen Gott gesprochen hat waren völlig andere als heute. Damals waren Stämme, Grossfamilien und Königtümer relevant. Heute sind es multi-ethnische demokratische Nationalstaaten, Freundeskreise und Kleinfamilien. Ebenfalls zu bedenken ist, dass Gott nicht jedesmal wenn er ein Volk anspricht wirklich das Volk als Volk meint. So sagen wir auch heute, dass die Schweiz Nein gesagt habe zum EWR, wenn wir eigentlich sagen wollen, dass eine Mehrheit der Individuen Nein gesagt habe. Des Weitern stiftet Verwirrung, dass Gott zur Nation Israel eine ganz besondere Beziehung gehabt hat ? inwieweit können wir aber aus der Beziehung Gottes zu Israel etwas über die Beziehung Gottes zu anderen Nationen lernen? Ein weiterer gewichtiger Punkt ist, dass Gott uns mit dem neuen Testament ein neues Denken bringt. Die Umkehr, die Taufe, die Geisterfüllung und die Gottesbeziehung des Individuums haben nun eine ganz andere Priorität als im alten Testament. Trotz dieser Fragen, die unser Verständnis etwas in Nebel hüllen, bleibt es dabei, dass Gott sowohl Einzelpersonen als auch Völker anspricht.

c) Schluss: Die Schweiz ist kein christliches Land

Zusammenfassend für den ganzen Text lässt sich folgendes sagen: Wir haben zwei Kriterien dafür begutachtet, was ein Land zu einem christlichen Land machen könnte. Das erste Kriterium sieht ein Land dann als christlich an, wenn sowohl ein ansehnlicher Teil seiner Bewohner als auch die dadurch geprägte Öffentlichkeit christlich sind. Das zweite Kriterium sieht ein Land auch dann noch als christlich an, wenn kaum mehr jemand aktiv Jesus nachfolgt, dieses Land aber ? als Land ? mit Gott in eine Beziehung getreten ist. Nach keinem dieser beiden Kriterien ist die Schweiz ein christliches Land.

3. Schweiz ohne Gott

Es ist also Tatsache, dass die Christen nicht die Vertreter der eigentlichen, wahren, christlichen Identität der Schweiz sind. Nein, sie leben in einem säkularen, liberalen Staat als eine unter vielen Minderheiten. Diesen Paradigmenwechsel nachzuvollziehen tut gut. Wenn wir der Wahrheit in die Augen schauen können, so ist das befreiend.

 

a) Ein neues Haus bauen, statt die Trümmer des Alten zu bewachen

Wir Christen sollen nicht mehr krampfhaft im Namen des ganzen Schweizervolkes die christliche Fassade hochhalten. Nein, wir dürfen die alten Wurzeln absterben lassen und etwas Neues säen! Jesus hat nicht Bewahrung, sondern Umkehr gepredigt. Es gibt in der Schweiz auch gar nicht viel zu bewahren, was mit der Erlösung durch Jesus zu tun hätte und den Werten, die er gebracht hat. Diese Botschaft und diese Ethik müssen den Schweizerinnen und den Schweizern zuerst gebracht werden und können nicht „reaktiviert“ werden. Eine traurige Formulierung hat das Aktionskomitee CH-CH gewählt, als es das christliche Erbe der Schweiz als „grosses, weitgehend ruhendes Kapital“ bezeichnete. Wie können wir den Glauben als Kapital bezeichnen, als etwas was wir ? unabhängig von unserer gegenwärtigen Verfassung ? besitzen? Oft werden im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die Kirchen dazu aufgefordert, die Hüter des sogenannten „christlichen Abendlandes“ zu sein. Doch die Christen sollten sich nicht dazu hinreissen lassen, ihre Zeit und Energie aufzuwenden, um die Liquidation dieses Abendlandes zu verwalten und zu bremsen. Statt ihre Kräfte für die Aufrechterhaltung einer Kultur zu verschleissen, die oft herzlich wenig mit dem Zimmermann und Gottessohn Jesus zu tun hatte, sollten die Christen sich neu auf Gott besinnen, die Sonne über dem Abendland untergehen lassen und das Licht des Morgensterns verkünden. Ein hoffnungsvoller Schimmer am Horizont ist, dass in letzter Zeit Christen die Schweiz vermehrt in ihr Gebet miteinschliessen.

b) Die wahre Situation nicht verschleiern

Es tut gut einzugestehen, dass die „christliche Schweiz“ viel mehr Tünche denn Substanz ist. Erst wenn wir ehrlich unsere Ferne von Gott und unsere Mängel eingestehen, können wir zu ihm umkehren. Dass diese Gottesferne Tatsache ist, sehen auch Aussenstehende. So schreibt ein Muslim über seine Erfahrungen in der Schweiz: „Zwar ist die Schweiz ein christliches Land, davon spürt man im Alltag aber reichlich wenig. Typisch christliche Werte wie Hingabe zu Gott, Nächstenliebe u.s.w. treten immer mehr in den Hintergrund und machen den ‚modernen‘ Werten wie Kapitalismus, Egoismus und Säkularismus Platz. Wir Muslime leben also mitten in einer Welt, die dem materiellen Wohlergehen höchste Priorität einräumt, während für die Muslime das geistige Wohlergehen Vorrang hat.7

Die Christen sollten die Ersten sein, die ihren Mitbürgern die Heuchelei verwehren, dass wir ein christliches Land seien. Wieviele unserer Mitbürger beruhigen sich damit, dass wir in der Schweiz Christen seien und christliche Werte hochhalten würden, ohne dass sie je etwas vom frischen Wind des Evangeliums gespürt haben? Weshalb unterstützen wir Christen diese Heuchelei? Weshalb stehen ausgerechnet christliche Politiker dafür ein, dass die Bundesverfassung immer noch in Gottes Namen beginnt, obwohl dies in einem heidnischen Land wie der Schweiz vor allem die Augen vor der Realität verblendet ? einer Realität, die uns zur Umkehr animieren sollte?8

Warum bieten die Christen fröhlich Hand, wenn die offizielle Schweiz ihr christliches Deckmäntelchen umhängen will wie andere Leute ein Kreuz um den Hals als Talisman tragen? Hoffen gewisse Christen nicht auf eine „top-down“-Erneuerung ? was nichts anderes als Geisterfahren wäre ?, wenn sie von ihrem Traum der Hinwendung der offiziellen Schweiz zu Gott sprechen? Weshalb berufen sich Politiker in ihren Argumentationen immer wieder auf christliche Prämissen (mit dem Hinweis darauf, dass wir ja ein christliches Land seien), obwohl eine christliche Prämisse einen Nichtchristen nie und nimmer wird überzeugen können, egal ob sein Heimatland „christlich“ genannt wird oder nicht? Weshalb wird in der NZZ9 eine Bundesverfassung gepriesen, die sich ihres religiösen „Fundaments“ bewusst sei, obwohl klar ist, dass der Glauben in der Schweiz höchstens noch Oberfläche ist, aber nie und nimmer mehr Fundament?

Manche Christen geniessen vielleicht unbewusst, dass das Pathos des Offiziellen, Staatlichen und Mächtigen sich damit auf das Christentum, ihren Glauben, überträgt: „Mir si öppis ? auf unserem Glauben fusst die ganze Schweiz!“. Doch dieser Pathos entspricht nicht dem Geist der Bibel (und der Grund für den Pathos nicht der Realität). Auch vermischen manche Christen ihre Liebe zur Schweiz (was an sich, sofern es wirklich Liebe ist und nicht Egoismus, etwas Schönes darstellt) mit ihrer Liebe zu Gott, so dass am Schluss die Heimat im Glauben gar nicht mehr von der Heimat in den Bergen unterschieden werden kann. Sogar eine gewisse Romantik mag hinzukommen ? wie bei Novalis: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte.10

 

(Johannes der Täufer: Er muss zunehmen, ich muss abnehmen.)

c) Das Ziel: Eine christliche Stimme für Neues

So menschlich gestaltet war dieser Erdteil aber nie ? und er ist es auch heute nicht. Deshalb muss die christliche Minderheit in der Schweiz nicht frustriert irgendetwas zu restaurieren versuchen, oder sich als Sprachrohr der schweizerischen Seele verstehen, die ja „eigentlich“ christlich wäre. Nein, die kleine christliche Stimme inmitten der vielen Stimmen der modernen Schweiz soll eine Stimme sein, die etwas Neues bringt. Eine Stimme, die inmitten von Unheil das Leben des Einzelnen und der Öffentlichkeit verändert. Eine Stimme, die der Schweiz den Weg zu Christus und seinen Werten zeigt.

 

Dominic Roser, November 2004, dominic.roser@vwi.unibe.ch



2. Vgl. z.B. Amos 5, 21 ? 27 oder Matthäus 6, 5 – 6

3. Als Bsp.: Psalm 73, 4; Psalm 8, 14; 2. Korinther 11, 23 ? 28.

4. Als Bsp.: 5. Mose 11, 13 ? 17; 2. Chronik 1, 11 ? 12; Psalm 37, 9.

5. Wenn jemand trotzdem die Meinung vertritt, dass die Schweiz Gott sehr nahe stünde, so müsste er immerhin eingestehen, dass sie dies nicht mehr als viele andere Länder tut. Wieviele Länder Europas haben sogenannt ?christliche? Elemente in ihrer Geschichte, wie z.B. Könige, die gebetet haben, und ähnliches? Wie sieht es erst mit den USA aus? Ragt die Schweiz in dieser Beziehung wirklich heraus?

6. Unterstützende Bibelstellen für diesen Punkt sind z.B.: 5. Mose 32, 8 ? 9; Jesaja 43, 1 ? 4; Sacharja 11, 10; am deutlichsten wird die Tatsache jedoch dadurch, dass man bedenkt, dass Gott mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen hat.

7. http://www.barmherzigkeit.ch/Leseproben/muslime_in_der_ch.html. Eine ähnliche Aussenperspektive gibt der jüdische Humanist Erich Fromm in seinem Werk ?Haben oder Sein?. Er ist der Meinung, dass die Bekehrung Europas zum Christentum weitgehend an der Oberfläche blieb. Höchstens noch zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert könne man von einem Wandel des Herzens sprechen.

8. Es waren Sozialdemokraten, die die Aufgabe übernommen haben, bei der Beratung der Präambel der neuen Bundesverfassung auf die Realität aufmerksam zu machen: Jean Ziegler: „De quoi le Christ se plaint-il tout le temps? Des Pharisiens. Que font les Pharisiens, cette secte de semi-intellectuels à Jérusalem? Ils proclament la gloire de Dieu. Ils proclament et ils font le contraire. Ici, on veut de nouveau nous engager dans la voie proclamatoire. Ce préambule est une absurdité. Il n’y a pas d’Etat chrétien (…). Ce matin, nous avons l’occasion de mettre fin à cette effroyable hypocrisie (…).“ Andreas Gross: „In diesem Sinne ist die Anrufung Gottes zu einer Floskel geworden. (…) Damit, so denke ich, erweisen wir der Tradition einen schlechten Dienst (…). Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, der erste Absatz sei eigentlich eine Anmassung.“ Hans Widmer: „Der grosse Theologe Karl Barth hat schon in den vierziger Jahren festgestellt, dass das heutige Volk der Eidgenossen keine Glaubensgemeinschaft ist, sondern ein ‚aus Reformierten, Katholiken, Idealisten, Materialisten aller Art wunderlich gemischtes Volk‘.“

9. NZZ am Sonntag, 22. Juni 2003

10. Die Christenheit oder Europa ? Ein Fragment  (1799).

~ 3 min

Dach dem Vergleich der beiden Länder (siehe die beiden Artikel zu El Salvador bzw. Kuba) scheint es mir, dass ein dritter Weg zwischen den beiden Extremen noch immer der menschenwürdigste ist. Leider hat sich nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks der Kapitalismus entfesselt und hat neue Wege verdrängt.

Doch was nützt durch Liberalisierung generiertes Wachstum, wenn gerade diejenigen, die die Verbesserung der Lebensumstände am nötigsten hätten, noch ärmer werden? Und selbst im nunmehr ?reichsten Land der Erde?, den USA, hören wir auch nach 25 Jahren Neoliberalismus und starkem Wirtschaftswachstum, ?Gesundheitsversorgung und gute Bildung für alle ist nicht bezahlbar?. Worauf warten wir denn? Oder haben nicht alle Menschen, ungeachtet ihrer Leistungsfähigkeit, ein Recht auf ein würdiges Leben in akzeptabler Gesundheit und mit einer Bildung, die ein selbständiges Fortkommen erst ermöglicht? Es gibt auch keine Freiheit ohne die Fähigkeit, diese Freiheit auch zu gebrauchen.

In sozialistischen Systemen hingegen liegt sehr viel Potential brach, da Antriebe zur Ausschöpfung der Gaben nicht ermöglicht werden. Das Verbot, sich auszudrücken und die Unmöglichkeit, an der Situation etwas zu ändern sorgt für viel Frust, auch wenn in kapitalistischen Ländern für einen Teil der Bevölkerung die Situation faktisch nicht anders ist.

Warum denn nicht endlich die guten Seiten beider Modelle kombinieren?

–        Gesundheit und Bildung für alle, damit die Chancengleichheit wirklich gegeben ist, damit jeder die Fähigkeit hat, für sich zu sorgen.

–        Freiheit für unternehmerisches Handeln, aber gewisse Umverteilung durch Steuern, damit die Kluft zwischen reich und arm nicht wieder zu Chancenungleichheit führt.

–        Wo eine solche ?Behinderung der unternehmerischen Tätigkeit? zu mangelndem Wachstum und damit zu Arbeitslosigkeit führt, muss gemeinschaftsdienliche Arbeit durch staatliche Stellen und NGO?s geschaffen werden. Für alle gilt Pflicht zur Arbeit.

–        Wachstum muss allen zu Gute kommen, die daran arbeiten. Deshalb ist auch Umverteilung und gute Öffentliche Dienste eine Frage der Gerechtigkeit.

–        Echte Demokratie durch gesetzlich geregelten gleichen Zugang zu Wahlwerbung, Medien und öffentlicher Debatte.

–        Marktwirtschaft hat in diesem Rahmen seinen wertvollen Platz. Hingegen muss die Werbekraft der Unternehmen auf ein vernünftiges Mass beschränkt werden. Es darf nicht sein, dass materielle Bedürfnisse durch Gehirnwäsche immer neu geschaffen werden.

Diese Postulate sind umso eher möglich, je mehr auch christliche Werte zum Zuge kommen:

–        Gerechtigkeit und Solidarität: es wird auf den gerechten Zugang zu den Grundbedürfnissen geachtet.

–        Verteilung des Lohnes nach Leistung muss heissen nach Leistungsbereitschaft und nicht nach Leistungsfähigkeit bzw. Marktfähigkeit der Gaben.

–        Arbeit: Einerseits soll gelten: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Auf der anderen Seite darf es auch nicht sein, dass gewisse Leute sagen, es lohne sich ja gar nicht, mehr zu leisten, wenn ein Teil dieser Mehrleistung als Steuern allen zu Gute kommt. Wollen wir nur zu unserem egoistischen Nutzen arbeiten? Wir dürfen uns auch nicht länger sagen ?das ist halt so?, sondern offen gegen solche Mentalitäten Stellung beziehen! Arbeit muss als Dienst am Wohl des Nächsten verstanden werden!

Hindernisse

Aber warum aber kommen wir nicht dort hin, wo es allen Menschen guten Willens gut gehen würde? Dafür gibt es keine einfachen Erklärungen, aber ich denke, ein wichtiger Faktor ist, dass wir nicht bereit sind, zu teilen und von unseren egoistischen Vorstellungen abzulassen. Selbst wir Christen haben es noch nicht geschafft, das Wohl des Nächsten genauso hoch zu werten wie das eigene Wohl, und wir flüchten uns aus Sorge um unser Gut in Rechtfertigungsideologien, die uns ein gutes Gewissen geben, nicht zu teilen oder die uns gar sagen, dem Nächsten müsse aus Liebe zu ihm vor allem die Faulheit ausgetrieben werden… So lange wir damit nicht aufräumen, indem wir unsere eigenen Ängste konfrontieren, so lange wird es uns nicht gelingen, gerechte und für alle Menschen wohltuende Systeme zu schaffen. Einfach ist dies nicht, wie jeder von uns bei sich selber sieht. Wir können uns nur auf den Weg dorthin machen.


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~ 10 min

Nach unserem Aufenthalt in El Salvador hängten wir noch drei Wochen Ferien in Kuba an, um das Land und die letzten Züge einer anderen Welt kennenzulernen. Bei der Einreise am Flughafenzoll ein erstes Müsterchen, indem wir nachts um 11 Uhr herausgepickt und noch während zwei Stunden minutiös und seeehr langsam durchsucht wurden…

Das Kuba, das wir erlebt haben, das Land der Sonne, der Hitze, der Hurricanes, der Musik und der friedlichen Leute, aber auch derjenigen, die die Touristen als wandelnde Dollarnoten ansehen.

Ein Bisschen Geschichte

Nach der spanischen Invasion im 16. Jahrhundert starben sämtliche Indianer aus, meist an den eingeschleppten Krankheiten. Sie wurden durch Kolonisatoren und Sklaven ersetzt. Um 1902 wurde Kuba unabhängig von Spanien, aber sogleich durch die USA beherrscht, denn die Zuckerproduktion war gold wert. Diktatoren und korrupte Präsidenten wechselten sich ab, und die Insel wurde vor allem in der Zeit der Alkohol-Prohibition (in den USA) zum Paradies für dekadentes Nachtleben von US-Touristen. Die einheimische Bevölkerung allerdings lebte im Elend. Nach einigen Jahren mit Versuchsballonen ergriffen die Truppen von Castro, Che Guevara und Cienfuegos anfang 1959 die Macht, von der Bevölkerung weitgehend begrüsst, da sie das Joch der korrupten Diktatoren abwerfen konnten und da sie der Bevölkerung mit der Zeit exzellente Gesundheitsversorgung, genügend Nahrung und ein gutes Bildungssystem bieten konnten.

Heute sitzen einige hundert Menschen (die genauen Zahlen kennt niemand) aus politischen Gründen in den Gefängnissen. Die Unterdrückung ist nicht verschwunden, aber sie ist anders als diejenige zuvor.

Unsere Fragen

Viele Mythen kreisen um Kuba: die Einen verherrlichen Kuba als Hort der Helden wie Che Guevara und sehen das Land Fidels als Wächter der Gerechtigkeit, die Anderen sehen Kuba als übelste Diktatur, wo Millionen hungern müssen. Und die Touristen? Gewisse sehen nur das Dolce Vita (?alles paletti?), Andere nur die verfallenen Häuser (?ist ja schrecklich hier?). Je nach Voreinstellung… Wir versuchten, der Sache ein Bisschen auf den Grund zu gehen und benutzten die Reise, um intensive Gespräche mit möglichst vielen Menschen zu suchen.

Da stellt sich bereits die nächste Frage: sagen die Leute denn wirklich, was sie denken? Wir hatten erstaunlich offene Gespräche, die Leute haben nicht Angst, zu sagen, was sie meinen (im Gegensatz zu vielen Ländern im früheren kommunistischen Osteuropa). Es gibt gar einige Leute, die in der Öffentlichkeit USA-Flaggen auf den T-Shirts zur Schau tragen.

Und sind sie nicht einfach indoktriniert? Natürlich verbreiten die offiziellen Medien nur der Regierung genehme Informationen. Andererseits können in Teilen der Insel auch amerikanische Radio- und Fernsehstationen empfangen werden, die genauso einseitige Propaganda verbreiten… Was auffällt, ist das sehr hohe Bildungsniveau. Alle Menschen sind fähig, selbständig zu denken, persönlich zu argumentieren und kennen die unterschiedlichen politischen Systeme gut. Dies ergab immer längere und sehr interessante Diskussionen.

Hier ein paar Resultate unserer Gespräche:

  • Alle finden, dass die Revolution im 1959 eine gute Sache war. Das vorherige Regime war ja in der Tat hochgradig korrupt und diktatorisch. Zudem lebten grosse Teile der Bevölkerung im Elend und waren einer reichen Herrscherschicht unterworfen.
  • Praktisch alle sprechen sich gegen Präsident Bush aus. Fast niemand will dessen System in Kuba tel quel übernehmen.
  • Die Hälfte der Gesprächspartner möchte jedoch gewisse Reformen am Kubanischen System, und einige lehnen den Sozialismus rundweg ab. Eine Mehrheit aber hat Achtung vor dem persönlichen Einsatz von Castro und möchte auch den Sozialismus grundsätzlich beibehalten, vor Allem wegen des guten und für alle gerecht zugänglichen Bildungs- und Gesundheitssystems.
  • Wer als Vermieter von Touristenunterkünften Geld machen kann, findet das System meist gut, wer hingegen mit Wehklagen über die Situation bei den Touristen ein paar Dollarscheine Mitleidsgeld herausholen kann, sagt, alles sei sooo schlimm…

Mythen und Fakten

Die Situation in Kuba muss unbedingt im Vergleich zu den umliegenden Ländern in der Karibik und in Zentralamerika gesehen werden, nicht im Vergleich zur Schweiz oder zur USA. Denn auch vor der Revolution war die Situation ähnlich wie in den umliegenden Ländern, und der Abstand zu USA und Europa war schon damals riesengross.

Als Vergleichsbeispiel werde ich oft El Salvador heranziehen, da ich dieses Land besser kenne und da es als extremes Gegenteil bezüglich politischem und wirtschaftlichem System einen interessanten Vergleich bietet. Hier also eine Auswahl von beliebten Themen.

1) Essen

–        In Kuba gab es nach dem Wegfall des Hauptexportlandes Sowjetunion anfang der neunziger Jahre gab es tatsächlich einige Jahre mit verbreitetem Hunger. Heute jedoch hungert kaum mehr jemand. Situation von Jahr zu Jahr schwankend.

–        In El Salvador sind (nach ihren eigenen Angaben) jedoch 50% der Kinder unterernährt. Die Situation ist also nach Schicht sehr unterschiedlich.

2) Wohnen

–        In Kuba sind die Fassaden in Orten mit vielen Touristen schön renoviert, dahinter sieht es aber anders aus… Hingegen stimmt es ebensowenig, dass ein grosser Teil in verfallenden Häusern leben müsste. In Kuba leben diejenigen, die Häuser geerbt haben, ziemlich gut, umso mehr, wenn sie Touristenunterkünfte vermieten und damit noch mehr Geld für Renovation haben. Andere hingegen wohnen in kleinen und zum Teil baufälligen Häusern.

–        In El Salvador leben Reiche in Villen, die Mittelklasse in einfachen Häusern (auch sie wegen der grossen Kriminalität zum Teil hinter Stacheldraht) und die Unterschicht zum Teil in elendesten Slums.

3) Gesundheit

–        In Kuba ist die Lebenserwartung 77 Jahre und die Kindersterblichkeit (unter 5 Jahren) 0.9%, in El Salvador ist die Lebenserwartung 70 Jahre und die Kindersterblichkeit 3,9 %. In Kuba ist das Gesundheitswesen gut entwickelt und für alle zugänglich

–        In El Salvador gibt es Spitzenmedizin für die Reichen und gar keine für die Armen, die es sich nicht leisten können.

4) Bildung

–        In Kuba ist das Bildungsniveau durchgehend sehr hoch, und die Menschen können sich erstaunlich gut mündlich und schriftlich ausdrücken. Analphabetenrate 3%.

–        In El Salvador hingegen lebt ein guter Teil der Bevölkerung in totaler Ignoranz und hat nicht die Bildung, um vorwärts zu kommen. Viele können sich auch kaum ausdrücken. Analphabetenrate El Salvador 20%.

5) Infrastruktur

–        In Kuba ist Stromausfall gang und gäbe. Wasser ist hingegen meist kein Problem

–        In El Salvador ist der Strom generell da, dafür kommt das Wasser meist nur an einem halben Tag, wenn überhaupt…

6) Lohn und Armut

–        In Kuba zwischen 6 und 25 $ pro Monat, je nach Beruf, Erfahrung und auch Leistung. Dies scheint wenig, aber hinzu kommen noch gratis Gesundheitsversorgung, Bildung und in der Mehrheit der Fälle muss keine Miete bezahlt werden. Ein Berufswechsel ist im Übrigen sehr einfach: nach vier Jahren im Beruf kann jeder, der will eine neue Ausbildung machen und einen anderen Beruf ergreifen. Wir haben Leute kennengelernt, die drei bis vier unterschiedlichste Diplome hatten. Durch Anreize (nicht Zwang) versucht die Regierung, die wirtschaftlichen Bedürfnisse nach Berufsleuten zu decken. Aber für viele Kubaner ist der offizielle Lohn zu knapp, und diejenigen, die es können, verdienen sich daneben noch ein Zubrot, sei es im Tourismus, in der Nahrungsmittelproduktion, in Dienstleistungen, etc.

–        Von El Salvador habe ich leider keine genauen Angaben. Aber die Arbeitslosigkeit ist hoch, und die Unterschiede zwischen den Reichsten (die ?14 Familien, die das Land beherrschen) und den Unterschichten ist extrem.

7) Konsumgüter

–        In Kuba ist der Mangel an unseren gewohnten Konsumgütern für uns stark spürbar. Und den Kubanern trichtern US-Sender ein, was sie alles haben könnten, wenn der Sozialismus nicht wäre.

–        Wenn wir mit El Salvador vergleichen, dann ist der Mangel für grosse Teile der Bevölkerung genauso frappant. Und die Frage sei erlaubt, welcher Mangel schwerer wiegt: keine Nike-Turnschuhe oder keine Gesundheitsversorgung? Aber die Werbung redet (wie bei uns auch) ein, wir müssten unbedingt dies und jenes haben, um glücklich zu sein oder dazu zu gehören.

8) Arbeit

–        Über Kuba hört man oft ?Leute im Sozialismus müssen nicht arbeiten und werden faul?. Nun, dies ist ein Ammenmärchen, denn jeder ist verpflichtet, zu arbeiten (wie auch früher in Osteuropa). Siehe auch oben

–        In El Salvador versuchen sich viele mit Gelegenheitsarbeit durchzuschlagen. Trotz hoher Arbeitslosigkeit gibt es keine Arbeitslosenkasse.

9) Sicherheit

–        In Kuba kann man problemlos nachts auf den Strassen spazieren, da besteht keinerlei Risiko.

–        In El Salvador bunkert sich die Mittel- und Oberschicht hinter Stahltüren und Stacheldraht ein, und vor jedem Geschäft steht ein Sicherheitsbeamter mit geladenem Gewehr. Die Gewaltkriminalität ist extrem hoch, dies auf Grund der sozialen Situation, dem niedrigen Wert des Lebens, der Kriegsvergangenheit und der Zugänglichkeit zu Waffen. Wenn jemand ein Auto stehlen will, wird der Einfachheit halber der Fahrer umgebracht.

10) Freiheit

–        In Kuba ist die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, etwas eingeschränkt, vor Allem im Bereich der unternehmerischen Freiheit, in der Freiheit, reich zu werden (ist dies von der Bibel her wünschbar?), und in der Konsumfreiheit.

–        In El Salvador sind diese Freiheiten vom Gesetz her zwar gegeben, jedoch sind die Möglichkeiten weiter Teile der Bevölkerung diese Freiheit zu gebrauchen, kaum existent. Freiheit hier also für die Reichen und Gebildeten. Bezüglich der Sicherheit, sich frei zu bewegen, liegt die Freiheit klar in Kuba…

11) Politische Freiheit

–        In Kuba ist die politische Freiheit noch immer stark eingeschränkt. Öffentliche Kritik am System ist verboten, und hunderte von Menschen sitzen deswegen im Gefängnis. Ein goldener Käfig?

–        In El Salvador sind in den achtziger Jahren 70’000 Oppositionelle wegen ihrer Meinung umgebracht worden. Heute ist die Meinungsfreiheit theoretisch gegeben. Doch ein grosser Teil der Bevölkerung hat keinerlei Bildung, um kritisch denken zu können oder um sich auch wirklich hörbar einzubringen. Insofern theoretisch…

12) Demokratie

–        In Kuba fehlt die Demokratie völlig.

–        In El Salvador ist Demokratie theoretisch vorhanden. Wiederum theoretisch deshalb, weil die Regierungspartei bei den Wahlen mit einem Millionenbudget das Land einer Gehirnwäsche unterzieht und ihnen auch die Mehrheit der Medien gehören…

13) Religionsfreiheit

–        In Kuba war das Christentum bis in die neunziger Jahre stark eingeschränkt, heute jedoch mehrheitlich frei.

–        In El Salvador ist die Religion frei

14) Wert des einzelnen Menschen

–        Bei uns hört man oft ?Im Sozialismus hat der Einzelne keinen Wert?. Eine unsinnige, aber leider verbreitete Sichtweise. Das Leben des Einzelnen scheint in Kuba viel mehr wert zu sein als in El Salvador oder anderen umliegenden Ländern, wo Leute einfach dahinsterben, wenn sie kein Geld haben, um sich Medikamente zu besorgen, oder wo sie schutzlos den Hurricanes und Stürmen ausgeliefert sind.

–        Besonders beeindruckt haben uns diesbezüglich die flächendeckenden Massnahmen zum Schutz der Menschen gegen den drohenden Hurricane Ivan, der während unseres Aufenthaltes die Insel stark bedrohte. Es wurde grössten Wert darauf gelegt, dass keine Menschen sterben. Hunderttausende von Bewohnern wurden an sichere Orte gebracht, Notwasserversorgung eingerichtet, und die Medien hielten uns ständig auf dem Laufenden. Dieser Hurricane zog schliesslich an der Insel vorbei, aber frühere Wirbelstürme haben den Erfolg dieser Massnahmen gezeigt. Gleichzeitig raffte derselbe Hurricane auf angrenzenden Inseln, vor allem in Jamaica, viele Menschen dahin, weil jeder sich selber überlassen blieb. Arme Leute konnten dort keine sicheren Unterkünfte mehr aufsuchen, und auf Grund der zu erwartenden Plünderungen blieben viele auch in ihren Hütten. Plünderungen gab es aber in Kuba interessanterweise keine, und die Leute haben auch keine Angst davor.

15) Flucht

–        Flucht aus Kuba: Ja, etwa 2 von den 13 Millionen Kubanern leben heute ausserhalb des Landes, meist in den USA.

–        Vergleichen wir mit El Salvador, so stellen wir erstaunt fest, dass dort 1,5 von 8 Millionen im Ausland leben, auch hier meist in den USA. Das Suchen des Glücks ausserhalb des Landes hat offenbar mehr mit wirtschaftlichen Gründen als mit politischer Verfolgung zu tun… Sonst würden die Emigranten nicht automatisch ins reichste Land (USA) sondern in die Nachbarländer ziehen.

Weitere Mythen

Vor der Reise haben wir manchmal gehört ?Die Leute in Kuba sind frustriert und ausgelaugt von der Gefangenschaft?: irgendwie haben wir diesbezüglich keinen Unterschied zu El Salvador festgestellt.

Oder auch ?In Kuba ist alles verboten, die Kubaner dürfen nichts tun.?: Die Verbote beschränken sich wie wir gesehen haben, mehrheitlich auf die Gründung eines privaten Business (und auch da ist vieles erlaubt oder höchstens durch die Steuern beschränkt) und auf die politischen Rechte bzw. die freie Meinungsäusserung. Der Vergleich mit El Salvador: dort ist zwar alles erlaubt, aber die Mehrheit der Bürger hat nicht die Mittel zum Business oder zur freien Meinungsäusserung…

In Kuba selber erzählten uns verschiedene Gesprächspartner: ?All unsere Probleme sind nur wegen dem Embargo der USA?. Eine in Kuba weit verbreitete Meinung. Auf der einen Seite hat die Wirtschaftsblockade der USA gegen Kuba eine grosse Wirkung, da die USA sich das Recht herausnimmt, andere Länder und Firmen schwer zu bestrafen, die in Kuba Geschäfte tätigen. So wurde zum Beispiel die UBS von den USA mit einer Busse von 100 Millionen Dollar bestraft, weil sei mit Kuba geschäftete. Und Schiffe, die kubanische Güter transportieren, dürfen danach während 6 Monaten nicht mehr in die USA fahren. Auch Kredite erhält Kuba kaum noch, da die USA den IWF und die Weltbank anweist, an Kuba nichts zu zahlen und der IWF für die gesamte Finanzwelt Vorreiterfunktion hat. Aber auf der anderen Seite lassen sich mit dem Argument des Embargos leicht auch alle hausgemachten Probleme rechtfertigen. Eine perfekte Ausrede… Denn Einiges würde auch ohne Embargo nicht funktionieren.

Einzelne andere Kubaner verglichen die Insel mit den USA und fanden, dort sei alles besser, man müsse nur das System ändern, und schon werde die Insel wie die USA. Nun, wenn wir mit den anderen umliegenden Ländern vergleichen, dann könnte das ein böses Erwachen geben…

Übrigens: warum reagiert denn die USA denn gerade auf Kuba so wild? Der Verlust Kubas war für die USA eine grosse Schmach, da die Insel vor der Haustüre liegt und fast sämtlicher Besitz auf der Insel (der dann verstaatlicht wurde) den Amerikanern gehörte. Ein Stachel sitzt also im Fleisch…

Fazit

Es lohnt sich also bei der Analyse von Kuba, mit anderen Ländern zu vergleichen. Da relativiert sich vieles, im positiven und im negativen.

~ 7 min

Das zentralamerikanische Land El Salvador hat auf der Hälfte der Fläche der Schweiz etwa gleich viele Einwohner wie Helvetien. Es ist das Land der Vulkane, grün, tropisch, aber durch die dichte Besiedelung ist der Regenwald inzwischen verschwunden. Dafür rennen überall Hühner herum und der Mais ist das Grundnahrungsmittel. Dies als kleines Eindrucks-Mosaik…

Im Sommer/Herbst 2004 erhielten wir (meine Frau Carine und ich) einen tiefen Einblick in das Leben und die Gesellschaft dieses Landes. Wir wohnten dabei hauptsächlich in der Hauptstadt San Salvador bei Miguel, dem Leiter der Menschenrechtskommission von El Salvador, unternahmen aber ausgedehnte Reisen in andere Landesteile. Dabei liefen wir immer wieder Christen über den Weg, mit denen wir viel erleben konnten.

Blutige Geschichte

El Salvador war wie alle umliegenden Länder eine spanische Kolonie und wurde erst im 19. Jahrhundert unabhängig. Seit dieser Unabhängigkeit herrschen de facto die ?14 Familien?, mehrheitlich Abkömmlinge der Aristokratie, denen lange Zeit der grösste Teil des Landes gehörte. Die Oberschicht hat die aristokratische Mentalität weitergeführt und nimmt die Armen noch heute vor allem als wertloses Pöbel wahr.

Die dichte Besiedelung führte schon früh zu Nutzungskonflikten. Doch die Forderung der landlosen Bauern nach Landreform endete in den dreissiger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts jeweils in Repression mit zehntausenden von Opfern. Die Wunden des Bürgerkrieges der achtziger Jahre sind noch nicht verheilt. Wie kam es dazu?

Ende der siebziger Jahre forderten die Bauern eine Landreform, und die damals regierende Christdemokratische Partei arbeitete ein entsprechendes Projekt aus. General Roberto D?Aubuisson und seine Anhänger aus den reichen Familien wollten dies aber nicht hinnehmen und gründeten die ARENA-Partei und die Todesschwadronen . Diese hatten den Auftrag, alle Exponenten der Landreform umzubringen. Getötet wurde dabei auch der berühmte Erzbischof Romero, der zunächst apolitisch war, aber mit der Zeit die Ungerechtigkeiten im Land offen kritisierte. Die Spirale der Gewalt drehte sich immer schneller, bis 1980 ein offener Bürgerkrieg ausbrach. D?Aubuisson wurde Präsident, und die Todesschwadronen sowie gewisse Armeeeinheiten brachten etwa 70’000 zivile politische Gegner um. Das das in den USA trainierte Bataillon Atlacatl verübte dabei die grössten Massaker, so dasjenige von El Mozote, wo die gesamte Dorfbevölkerung inklusive Kinder (1000 Einwohner) zusammengetrieben und exekutiert wurde. Die kommunistische Rebellen brachten aber ebenfalls 5’000 Zivilisten um. Anfang der neunziger Jahre wurde endlich ein Frieden geschlossen, wobei es zu einer teilweisen Landreform kam.

 

Tragisch ist, dass dieser Krieg theoretisch doch eigentlich vermeidbar gewesen wäre:

Wenn die reichen Familien ein Gehör für die Schreie der landlosen Armen gehabt und sich nicht mit Gewalt gegen die demokratisch angegangene Landreform gestellt hätten, wäre das Blutvergiessen wahrscheinlich nicht geschehen und hätte gleichzeitig den Rebellen der Wind aus den Segeln genommen werden können. Dies erinnerte mich an die Bibelstelle, wo es heisst, dass die Gier die Wurzel allen Übels sei. Sie zieht sich durch viele unserer Lebensbereiche und hat hier besonders schlimme Auswirkungen gehabt. Dahinter verbirgt sich meines Erachtens die Angst um das eigene Wohl, das offenbar Arm und Reich gleichermassen trifft. Offenbar ist es schwierig, davon loszukommen.

Die amerikanische Politik ?Der Feind meines Feindes ist mein Freund? wurde auch hier blindlings durchgezogen. In der Absicherung des amerikanischen Hinterhofes gegen den Kommunismus wurde blind auf die herrschende Schicht gesetzt, was immer diese auch tat. Zeitweise flossen pro Jahr über 500 Millionen Dollar Militärhilfe ins Land. Erst Ende der achtziger Jahre, nachdem auch amerikanische Bürger von den Todesschwadronen ungebracht worden waren, entzog der amerikanische Präsident Bush Senior der Salvadorianischen Regierung das Vertrauen. Darauf wurde ein Friede möglich. Die Lehre daraus ist meines Erachtens ähnlich wie oben: wenn die Nöte der Armen ernst genommen worden wären, statt die Welt in die Guten (weil auf unserer Seite, egal was sie tun) und die Bösen auf der anderen Seite einzuteilen, wäre das Blutvergiessen wahrscheinlich zu vermeiden gewesen.

Die Menschenrechte heute

Die politische Gewalt ist heute bei Weitem nicht mehr derart virulent, aber die Armen stehen noch immer unter Druck. Heute geht es vor Allem um das Recht auf Leben (Zugang zu Wasser, Gesundheitsversorgung und Land) und das Recht auf politische Mitsprache. Letzteres heisst zunächst einmal Bildung in einem Land, wo noch immer ein Drittel der Einwohner Analphabeten sind und sich kaum ausdrücken können. In den achtziger Jahren hat El Salvador am sechstwenigsten aller Länder für öffentliche Bildung ausgegeben. Denn eine herrschende Schicht hatte (und hat zum Teil immer noch) offenbar kein Interesse an einer gebildeten Unterschicht.

Während unserer Mitarbeit in der Menschenrechtskommission wurden wir mit unterschiedlichsten Fällen von Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Hier zwei Beispiele:

Am östlichsten Zipfel an der Pazifikküste von El Salvador liegt das Dorf ?Las Mueludas?, an der Punta del Jaguey. Vor etwa 70 Jahren begann die Besiedelung dieser vormals unbewohnten Gegend. 60% der 250 Familien leben vom Fischfang, die Restlichen von der Landwirtschaft. Den etwa 1500 Einwohnern stehen ein Dutzend Villen von Superreichen am Strand gegenüber, die in der Postkarteidylle ihre Wochenendresidenz errichtet haben.

In den siebziger Jahren baute die Armee am Dorfrand eine Landebahn der Luftwaffe. Im Jahr 2001 plante sie, die Landebahn zu verbreitern, offiziell ? um die Souveränität des Landes zu gewährleisten?. In Wirklichkeit ist der Ausbauplan Teil des US-Amerikanischen ?Plan Colombia?, der den Drogenhandel in Mittel- und Südamerika militärisch zu bekämpfen versucht. Der gesamten Bevölkerung von Las Mueludas (ausser den Villenbesitztern am Strand) wurde geheissen, das Dorf zu räumen, denn sie seien unrechtmässige Besetzer des Landes. Dies, obwohl nach Salvadorianischem Gesetz das Land an die Siedler übergeht, wenn nach dreissig Jahren Besiedelung niemand Anderes Besitzrechte geltend gemacht hat. Die meisten Bewohner der Mueludas sind bereits über 30 Jahre da, ohne dass es je irgendwen gestört hätte.

 

Nachdem sich die Ansässigen aber geweigert hatten, zu gehen, wurden sie von der Armee terrorisiert: Tiefflüge über dem Dorf, Schüsse in Richtung der Häuser und Besuche von drohenden Offizieren waren an der Tagesordnung. Die Bewohner wandten sich schliesslich an die unabhängige Menschenrechtskommission (Comision de los Derechos Humanos de El Salvador, CDHES), die den Fall publik machte. Miguel Montenegro, der Leiter der Menschenrechtskommission, erklärt: ? Wir haben den Fall bei der interamerikanischen Menschenrechtskommission und bei der UNO rapportiert. Gleichzeitig haben wir hier die Medien und alle in El Salvador ansässigen Botschaften informiert sowie Anwälte eingeschaltet. Plötzlich hörten die Einschüchterungen auf.? Die Armee hat die Dorfbewohner wegen ?Landbesetzung? verklagt, und bald wird das Gericht entscheiden. Aber Salvadorianische Gerichte sind, gestützt auf die Machtverhältnisse, nicht immer auf der Seite des Rechts. Die Bewohner von Jaguey wollen denn auch weiterkämpfen, sollten sie verlieren. ? Sie werden uns nicht lebendig von unserem Land wegkriegen. Wohin sollten wir denn auch gehen?? meint Don Mariano mit bestimmtem Ton. ? Die Menschenrechtskommission ist für uns eine entscheidende Stütze. Und die internationale Bekanntheit des Falles gibt uns Hoffnung.?

Ein zweiter Fall spielt sich in der entgegengesetzten Ecke des Landes ab, und zwar in San Fransisco am Lago de Guija. Auf einer Halbinsel des malerischen Sees an der Grenze zu Guatemala haben sich seit 60 Jahren Fischer niedergelassen. Auf dem Hügel finden sich zudem zahlreiche Gräber und Gegenstände aus der Maya-Zeit: Tonköpfe, Werkzeuge sowie Schmuck. Für einen Honduranischen Investor Grund genug, um hier ein Hotel zu planen. Hierzu kaufte er dem salvadorianischen Staat zunächst die Grundrechte für das Terrain ab, obwohl die heutigen Bewohner schon vor einigen Jahren die Besitzrechte bezahlt hatten (der Staat hat die Urkunden allerdings nie ausgestellt). Als die Bewohner ihr Land nicht verlassen wollten, schickte der Investor bewaffnete Banden vorbei, um die Fischer zu vertreiben. ?Sie sagten uns, sie würden unsere Kinder töten, wenn wir nicht bald verschwinden. Don Leon, der im Rollstuhl sitzt, haben sie auch mit dem Tod bedroht.?, erzählt Raul, ein vifer alter Kämpfer. Eine der insgesamt 17 Familien ist bereits geflüchtet, doch die Anderen wollen ausharren. Auch hier wurde die Menschenrechtskommission eingeschaltet. Diese stellt Anwälte zur Verfügung, weil der Staat die Bewohner nun wegen ?Landbesetzung? vor Gericht gezogen hat.

 

Dank dieser Basisarbeit der lokalen Menschenrechtskommission werden die Menschen in El Salvador mehr und mehr respektiert. Sie vernetzt sich dabei aber auch mit Menschenrechtsorganisationen anderer lateinamerikanischer Ländern, denn diese kennen ähnliche Probleme. In den beiden oben beschriebenen Fällen ist aber auch internationaler Druck auf die salvadorianische Regierung vonnöten, um den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen.

 

Sozialer Zerriss

Nach dem Bürgerkrieg hat sich das Land wirtschaftlich erstaunlich rasch erholt. Die ultraliberale Wirtschaft wuchs rasch, und Shopping-Malls schossen aus dem Boden. Doch vom Wachstum profitierten nur die Oberschicht und eine nur langsam wachsende Mittelschicht. Die Armen bleiben arm, sie leben auf dem Land oder in riesigen Slums in den Städten. Noch heute sind 50% der Kinder unterernährt, haben die Meisten keinen Zugang zur medizinischen Grundversorgung und sind grosse Teile der Bevölkerung ungebildet.

Aber ist El Salvador nicht demokratisch, und könnte die Mehrheit dies nicht ändern? Theoretisch schon, aber in der Praxis sieht es anders aus:

·        Die noch immer regierende ARENA-Partei hat die Wahlkreise so eingeteilt, dass die Opposition auch mit einer Mehrheit der Stimmen noch immer nur 40% der Sitze hat.

·        In der Wahlkampfphase überzieht die ARENA mit dem Geld der reichen Familien das Land mit einer Gehirnwäsche ohnegleichen. Das ganze Land wird mit ihren rot-weiss-blauen Farben überzogen. Das wirkt.

·        Und notfalls gibt?s auch Hilfe von Aussen: bei den letzten Präsidentenwahlen in El Salvador drohte die USA offen, die salvadorianischen Emigranten aus den USA (die den zu Hause gebliebenen Verwandten viel Geld senden) auszuweisen, sollte der sozialistische Gegenkandidat gewählt werden.

Die Aussichtslosigkeit weitere Teile der Bevölkerung zieht eine riesige Kriminalität nach sich. Genährt wird diese, wie in anderen von Kriegen geschüttelten Ländern, durch die weite Verbreitung von Waffen und durch die im Krieg gemachte Erfahrung, dass eigene und das Leben der Anderen wertlos sei. Die Oberschicht reagiert leider wie gehabt: Einbunkern hinter Stacheldraht und Panzertüren, und dazu bewaffnete Sicherheitsagenten an jeder Strassenecke in ihren Wohnvierteln. Die Einsicht, dass an den sozialen Verhältnissen etwas geändert werden könnte, ist noch nicht durchgedrungen…

 

Ausblick

Trotz all dieser Widerwärtigkeiten haben wir die Menschen in diesem Land als sehr gastfreundlich erlebt. Sie versuchten uns zu zeigen, dass El Salvador auch Anderes bietet als Gewalt und Misere. Wir bleiben jedenfalls sehr mit ihnen verbunden. Und wir unterstützen weiterhin Gruppen wie die Menschenrechtskommission, die sich aktiv für eine Veränderung des Landes einsetzen.