Schlagwortarchiv für: Politik

Lesezeit / Temps de lecture ~ 7 min

In den Evangelien der Bibel sind die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen die höchsten Gebote. Wenn wir von christlichen Werten sprechen, dann sind diese also zentral. In heutigen Ohren mag Nächstenliebe etwas verstaubt tönen, sie ist aber hochaktuell. Was bedeutet das für die heutige Gesellschaft und für unsere Demokratie?

In Lukas 10.29–37 fragte ein Gesetzeslehrer nach, wer denn sein Nächster sei. Darauf antwortete ihm Jesus mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters. Die als korrekt religiös angesehenen Priester und Leviten gingen am Überfallenen vorbei, aber ein geächteter Samariter erbarmte sich ihm. Nur er lebte die Nächstenliebe aus.

Hierarchie der Nächstenliebe?

Wer sind heute unsere Nächsten? Für mich sind es all diejenigen, denen wir begegnen, mit denen wir zu tun haben. Aber auch all diejenigen, bezüglich denen wir eine Handlungsmöglichkeit haben. Denn in Matthäus 25 wird auch danach gerichtet, was wir nicht getan haben. Heute haben wir auch Handlungsmöglichkeiten gegenüber den «Ärmsten» der Welt.

Dies bedeutet auch, dass die Idee falsch ist, dass wir zuerst für uns resp. für die Schweiz schauen müssen. Jeder Mensch auf der Welt ist gleich viel wert. Zuerst für uns zu schauen oder gar eine Hierarchie der Nächstenliebe aufzustellen, ist Egoismus: Denn zuerst für «die Eigenen» zu schauen, bringt letztlich uns selber Vorteile. Zuerst für die eigene Nation zu schauen, ist Nationalismus. Wie wenn wir mehr Wert wären als andere! Gerade heute, mit zunehmender Not in der Welt, können die wohlhabenden Nationen nicht sagen, sie müssten zuerst für sich selbst schauen. Die Folge davon sind z.B. Hunger und Tod.

«Jeder Mensch auf der Welt ist gleich viel wert.»

Handlungsmöglichkeiten haben wir auch gegenüber der Generation unserer Kinder und Kindeskinder. Da auch sie intakte Lebensgrundlagen brauchen, sind wir aufgefordert, die Schöpfung zu bewahren.

Eine Werterevolution

Das Wohl des Nächsten gleichzeitig zu suchen wie das eigene Wohl, das war eine revolutionäre Botschaft. Es bedeutet auch heute noch die Abkehr von Egozentrik und Egoismus. Und es ist ein Stachel im Fleisch des Mainstreams und der Wirtschaft, die – frei nach dem Begründer der Nationalökonomie, Adam Smith – behauptet, dass es für alle am besten sei, wenn jeder zuerst die eigenen Interessen verfolge.

Oft projizieren wir aber unsere eigenen Wünsche auf die Nächsten, obwohl diese vielleicht andere Prioritäten haben. Nächstenliebe heisst hier, genauer hinzuschauen, die Menschen und ihre Freuden und Nöte wirklich kennenzulernen. Oder wir denken in Gruppen und vorgefassten Meinungen. Dies können Vorurteile sein, geprägt von Misstrauen. Auch hier gilt es, genauer und vorurteilsfrei hinzuschauen, und, wo möglich, echte Beziehungen aufzubauen. Nächstenliebe heisst hier, auf den Nächsten wirklich einzugehen.

Dies heisst auch, die Frage nach dem Warum zu stellen: Woher kommen die Meinungen, Verhaltensweisen und Nöte der Nächsten? Letztere können auf ungleichen Voraussetzungen basieren oder strukturelle Ursachen haben, was ein genaueres Hinsehen unangenehm machen kann. Denn dies kann unsere eigene Stellung und unseren Wohlstand in Frage stellen. Sind wir bereit dazu? Das ist die Konsequenz des Verses: «Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst». Also nicht zuerst ich, und wenn’s reicht, dann auch noch den Nächsten. Deshalb fordert Gott uns auf, das Recht der Armen zu schützen und für sie zu sorgen Es gibt also kein Entweder-oder!

Wir sind aber Meister darin, Rechtfertigungsideologien aufzubauen, um nicht helfen oder teilen zu müssen: «Er ist faul», «Er ist selber schuld», «Es ist besser für ihn, wenn ich nicht helfe». All dies mag in gewissen Fällen zutreffend sein, aber wir wenden es seeeehr oft an. Denn Vorurteile sind angenehm, weil sie uns entlasten.

Wer braucht unsere Liebe besonders?

Wer braucht die Nächstenliebe besonders? Das Alte und das Neue Testament fordern mit Nachdruck immer wieder zum Schutz der Witwen, Waisen, Armen, Elenden, Geringen, Ausländer, etc. auf. Sie sind in Gottes Augen besonders schutzbedürftig. Im Alten Testament wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Menschen durch Umstände in Schulden und damit in Schuldknechtschaft kommen. So sind sie den «Starken» ausgeliefert. Die Propheten klagten das Volk Israel an, dass die Starken versuchen, das Recht der Schwachen zu beugen, statt ihnen zum Recht zu verhelfen.

Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Armen, zu deren Gunsten zahlreiche Aufrufe erfolgten (z.B. „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“ 15. Mose 15.4). Natürlich sagt Jesus im Neuen Testament, dass es immer Arme geben werde. Dies ist aber deskriptiv und nicht, was Gott sich wünscht. Deshalb wurde im alten Israel der Zehnte auch für die Armen gebraucht und diese hatten das Recht auf die Nachlese und alle sieben Jahre auf die Frucht eines Feldes. Auch strukturelle Anordnungen – wenn auch nur selten umgesetzt – sollten für Gerechtigkeit und Umverteilung sorgen, damit Familien ihre Schuldknechtschaft abschütteln und wieder für sich selber sorgen konnten. Hier geht es auch darum, Nachteile auszumerzen und gleiche Lebenschancen zu geben.

Die Stimme erheben

Nächstenliebe heisst auch, sich für Benachteiligte einzusetzen: „Öffne deinen Mund für den Stummen, für den Rechtsanspruch aller Schwachen! Öffne deinen Mund, richte gerecht und schaffe Recht dem Elenden und Armen!“ (Sprüche 31.8–9)

Wer sind heute diejenigen, die unsere Stimme am meisten brauchen? Wer sind die Machtlosen, die Verletzlichsten, die Elenden, diejenigen, denen es am schlechtesten geht? Die Menschen in Armut? Die Kinder, die überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind, die in der Schule immer mehr Druck verspüren und herumgeschoben werden? Die Migranten, die als Gefahr angesehen werden? Menschen mit Behinderung? Weniger Gebildete, die kaum mehr mithalten können? Oder ganz einfach weniger Leistungsfähige? Es ist unsere Aufgabe, diesen Benachteiligten zu ihrem Recht und zu fairen Lebenschancen zu verhelfen. Das kann z.B. geschehen durch Umverteilung, durch Stärkung, durch gleichen Zugang zum Recht etc. Sie sind zwar nicht ganz stimmlos, aber sie werden in unserem System, wo die Grösse des Megafons und die Machtposition entscheidend für den Einfluss sind, einfach nicht mehr gehört. Denn wo sich ein Milliardär ein Medium kaufen kann, hat er viel mehr Einfluss als Zehntausende von Menschen.

Was könnte das konkret heissen?

Zum Beispiel im materiellen Bereich: Für Löhne und Kinderzulagen sorgen, die für eine Familie zum Leben reichen. In der Sozialhilfe nicht einfach blindlings den Betroffenen Geld zuschanzen, sondern genauer hinschauen und evaluieren, was die Person braucht, um wieder auf die eigenen Füsse zu kommen: Umschulung? Psychologische Unterstützung? Ein besseres Netz? In Winterthur und Lausanne wurden deshalb mehr Sozialhilfemitarbeitende eingestellt, damit diese Zeit haben, mit den Betroffenen Lösungen zu finden. Der Erfolg für die Betroffenen und die sinkenden Kosten geben dieser Sichtweise recht. Hier wird an der auch in der Bibel erwarteten Eigenverantwortung festgehalten, aber die Voraussetzungen geschaffen, damit diese überhaupt wahrgenommen werden kann.

Wir sollten auch einen besonderen Fokus auf die Kinder legen: «Jeder kann selber» gilt bei ihnen erst recht nicht. Schlechte Situationen behindern ihre gesunde Entwicklung. Hier muss in Früherkennung und Frühintervention investiert werden, für ihre Zukunft und letztendlich auch zur Verminderung der zukünftigen gesellschaftlichen Probleme und damit Kosten. Wir müssen für gute Voraussetzungen sorgen und sie besonders dort unterstützen, wo Eltern nicht (mehr) ihrer Verantwortung nachkommen können – zum Beispiel, wenn sie eine Suchterkrankung entwickeln.

«Der Staat soll nicht»

In den Kirchen hören wir manchmal, dass die Benachteiligten sich einfach an Gott wenden sollten und der Staat nicht Aufgaben von Gott übernehmen solle.

Und doch: die Politik ist ein Teil der Lösung. Denn Nächstenliebe bedeutet nicht nur Pflästerli und Almosen, sondern auch strukturelle Ursachen von Not und Elend anzusprechen und zu verändern, wie es auch im Alten Testament gefordert wurde. Wir selbst bestimmen die Politik mit, wir stellen die Regeln und gerechte Strukturen auf, die Auswirkungen auf das Wohlergehen der Nächsten haben. Wir sind also für die Umstände unserer Nächsten mitverantwortlich.

Ja, Barmherzigkeit darf nicht einfach an die Politik delegiert werden, aber Barmherzigkeit einzig durch die Christen und Kirchen genügt offensichtlich nicht. Wir werden auch danach gerichtet, was wir nichtgetan haben (Matthäus 25), und wenn wir wissen, dass durch eine Gesamtorganisation – also auch über Politik – den Nächsten viel mehr Gutes getan werden kann, dann sollten wir das tun. Es stimmt, dass viele Menschen die Barmherzigkeit leider an den Staat delegieren, aber gleichzeitig gibt es bei vielen Christen die Tendenz, sich nur um das eigene Seelenheil zu kümmern und das Wohl der Nächsten einfach an Gott zu delegieren.

Jeder Mensch ist von Gott geschaffen und hat den gleichen Wert

Nächstenliebe heisst auch anzuerkennen, dass jeder Mensch von Gott geschaffen und gleich geliebt ist. Dies erfordert, jedem Menschen den gleichen Wert und damit gleiche Aufmerksamkeit, gleichen Respekt und gleiche Lebenschancen zuzugestehen.

Im persönlichen Umgang bietet uns Matthäus 7,12 eine gute Richtschnur: «Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.» Im gesellschaftlichen Umgang heisst dies auch, andere Gruppen und Nationen so zu behandeln, wie wir es von ihnen erwarten, behandelt zu werden. Dies wird aber sehr oft von der Angst vor den «Anderen» und den «Fremden» überlagert. Deshalb sollten wir Acht geben, nicht gegen sie zu hetzen, indem wir ihnen böse Dinge unterstellen, von denen wir eigentlich keine Ahnung haben. Dies ist immer der Ursprung von Verfolgung. Deshalb redet Jesus auch von Feindesliebe. Genau davon scheinen wir uns aber heute mehr denn je zu entfernen: Wir bewegen uns in unseren Internet-Bubbles und werden immer stärker in unseren «Wahrheiten» und in unserem Gruppendenken bestärkt. Damit werden «die Anderen» für uns immer unverständlicher und zur Gefahr für uns.

Auf dem Weg zum Recht der Stärkeren?

Die Rechtfertigung des eigenen Vorrechts betrifft alle Gruppen der Gesellschaft. Die Stärksten haben aber die grösste Chance, sich dabei auch durchzusetzen. Gerade in den USA sehen wir heute unter Präsident Trump eine Entfesselung der «Starken». Viele Geld- oder Energie-Mächtige sind nicht mehr bereit, sich zu Gunsten der Nächsten beschränken zu lassen. Im Zuge der zunehmenden Machtungleichheiten scheinen ihnen die Opportunitätskosten zu hoch: Die (gesetzlichen) Einschränkungen hindern sie daran, ihre Ressourcen voll zur Entfaltung zu bringen. Libertäre Ideologien und die Aushebelung der Verhinderer wie der Staat und die Demokratie haben deshalb Aufwind. Zunehmend wird eineMeritokratie ohne Chancengleichheit propagiert und dies mit der Behauptung einer «moralischen Überlegenheit» begründet: Diejenigen, die früh aufstehen» stehen den «Profiteuren» gegenüber.

Verfechter dieser Tendenzen wie Elon Musk oder Donald Trump haben auch schon offen gesagt, sie hätten keine Empathie mit «Losern». Nächstenliebe, genaues Hinsehen und daraus Verständnis entwickeln sind keine Optionen. Der einzige Gradmesser für sie ist die Stärke. Dies dringt in allen Aussagen zu anderen Menschen durch. Elon Musk ist auch ein Verfechter der Züchtung vonSupermenschen, die eine zukünftige Herrscherkaste bilden soll.

So ist es nichts als logisch, dass in den USA alle Programme zum Ausgleich von Benachteiligungen geschwächt oder sogar abgeschafft werden. In ihrer Ideologie der Stärke ist dies den aktuellen Herrschern so wichtig, dass sie auch ausländischen Unternehmen, die in den USA arbeiten wollen, die Abschaffung solcher Programme vorschreiben und den Universitäten verbieten, zu Benachteiligungen zu forschen oder zu lehren. Die Logik des «survival of the fittest» ist mit ein Grund, warum sämtliche Hilfe an ärmere Länder, humanitäre Hilfe, Unterstützung von internationalen Organisationen und Impfprogramme von Musk und Trump abgeschafft wurden, was selbst den konservativen Aussenminister Rubio erzürnte, der bei diesen Entscheiden übergangen wurde. Durch die fehlenden Hilfen sind Hunderttausende von toten Kindern und Erwachsenen zu erwarten. Das Sterben hat bereits begonnen.

Die Stärksten sollen herrschen, eine Idee, die bereits in den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts verbreitet war. Bereits heute werden schwächere Menschen in der Gesellschaft in gewissen Kreisen entwertet und gar als Last angesehen. Bis zur Euthanasie ist es nicht mehr weit. Inzwischen werden in den USA Wahlrechte eingeschränkt, die Verbreitung von unliebsamen Ideen und Fakten durch Universitäten verboten, viele Politikerinnen und Politiker von Elon Musk gekauft und abhängig gemacht und die Medien gegängelt (wie die früher kritische Washington Post heute durch Jeff Bezos).

Sind wir Christen noch die Vertreter der Nächstenliebe?

In christlichen Kreisen werden benachteiligte oder schwächere Menschen oft einfach an Gott weiterverwiesen. Gott helfe ihnen schon, sie sollten einfach beten. Wie wenn sie das Elend verdient hätten, wenn sie nicht genug beten! Im Gegensatz dazu ruft uns die Bibel dazu auf, selber für Gerechtigkeit, Hilfe zu sorgen und unseren Reichtum zu teilen.

Vor Gott gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern der gleiche Wert jedes Menschen und das gleiche Recht, gehört zu werden, mitzubestimmen und teilzuhaben. Das Recht des Stärkeren ist also das Gegenteil der Nächstenliebe. Wie können wir diese beschreiben, damit sie in der Öffentlichkeit verstanden wird? Zum Beispiel mit darin enthaltenen Aspekten: Empathie, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Respekt, Altruismus, etc. Sie ist für die Menschen und nicht gegen die Menschen. Sie ist gegen die Herrschaft des Stärkeren, der Interessen und des «Alles ist verkäuflich». Das ist die Bedeutung, Salz der Erde zu sein. Sind wir es noch?

Links zum Weiterlesen:

Hintergrundfoto der Collage von Marlis Trio Akbar auf Unsplash
Lesezeit / Temps de lecture ~ 2 min

Unsere Migrationspolitik ist unverhältnismässig restriktiv. Es wäre Zeit für eine Allianz des Anstands.

Der Wahlsieg Donald Trumps folgt einem Muster, das in immer mehr westlichen Demokratien Erfolge feiert: der gezielten Bewirtschaftung von Ängsten. Zum einen ist da die Angst vor dem Wohlstandsverlust, die viele Menschen umtreibt, und zum anderen das Übermass an gesellschaftlichen und weltweiten Krisen, die überfordern. Diese Ängste werden heute nicht verantwortungsbewusst begleitet, sondern verstärkt und instrumentalisiert.

In biblischen Zeiten gab es mit dem Sündenbock ein Ritual, um Ängste zu beruhigen. Ein Ziegenbock wurde in die Wüste geschickt, um symbolisch alles Böse, die Schuld und die Angst vor dem Zorn der Gottheit wegzutragen und so das Volk zu befreien. Stellvertretend übernehmen heute Flüchtlinge diese Rolle. Sie eignen sich ideal als Projektionsfläche für eigene Ängste und Wut. Der inzwischen verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman äusserte sich dazu wie folgt: «Asylbewerber nehmen heute die Rolle ein, die ehemals den Hexen, Kobolden und Gespenstern der Sagen zukam.»

Trump schürt Ängste gegenüber Migranten, bezeichnet sie als Ungeziefer oder Müll und macht sie für fast jedes Unheil verantwortlich. Auch die SVP als wählerstärkste Partei der Schweiz und mit ihr neuerdings die FDP folgen dieser miserablen Strategie: Mit Flüchtlingen als Sündenböcken gewinnen Parteien Wählerstimmen und erringen damit politische Macht. Der moralische Preis dafür ist jedoch hoch, denn ein solch polemischer Diskurs vergiftet eine Gesellschaft.

Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit.

Als Konsequenz dieser Sündenbock-Strategie haben wir eine mittlerweile sehr restriktive Migrationspolitik. Wer die Zahlen der Asylmigration sorgfältig analysiert – und sie nicht mit der Arbeitsmigration vermischt –, stellt fest, dass relativ wenige Flüchtlinge die Schweiz erreichen. Deshalb ist die Rede von einer angeblichen «Überflutung» reines Geschwätz, ganz nach dem Motto: «Lerne, zu klagen, ohne zu leiden.»

Eine weitere Konsequenz davon ist, dass in der Schweiz abgewiesene Asylsuchende über Monate und Jahre hinweg in Rückkehrzentren untergebracht werden, in denen ganze Familien in einzelnen Zimmern leben. Häufig handelt es sich um Personen, die aus autokratisch regierten Ländern kommen und nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Eine Studie des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind hat gezeigt, dass die in Rückkehrzentren befindlichen Kinder und Jugendlichen – rund 700 an der Zahl – in einem schlechten psychischen Zustand sind. Sie sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt. Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit. Rückkehrzentren dürfen keine Menschendeponien werden.

Es braucht in der politischen Schweiz eine Allianz des Anstands, die sich von machiavellistischem Streben verabschiedet und anerkennt, dass Geflüchtete zunächst einmal Menschen sind, die unsere Zuwendung verdienen. Es ist eine Binsenwahrheit, dass es in jeder Bevölkerungsgruppe anständige und unanständige Menschen gibt, und die Proportionen sind überall ähnlich. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass nicht alle Migranten hier in der Schweiz bleiben können. Es sei denn, es handelt sich um Oligarchen oder Milliardäre. Ihnen stehen bei uns alle Türen offen.

Dieser Artikel erschien im Dezember 2024 als Gastkommentar im «Tagesanzeiger», im «Bund» und im «Berner Landboten».

Foto von ‪Salah Darwish auf Unsplash

Lesezeit / Temps de lecture ~ 4 min

Drei Viertel der Evangelikalen Christinnen und Christen wählten bei den letzten zwei Präsidentschaftswahlen Donald Trump. Eine Auseinandersetzung damit, warum viele amerikanische Evangelikale den derzeitigen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner unterstützen, obwohl er sich gegen ihre moralischen Werte verhält.

Weiterlesen

Lesezeit / Temps de lecture ~ 3 min

Gott fordert uns auf, uns für die Nächsten und für Gerechtigkeit einzusetzen, was bei strukturellen Ursachen für Elend und Ungerechtigkeit auch ein politisches Engagement erfordert. Die Kirchen nehmen dabei eine wichtige Rolle als Sprachrohr und als ethische Autorität ein.

Die Kirchen sind in den letzten Jahren unter Druck gekommen, wenn sie in politischen Belangen die Stimme erhoben. Sie wagen es kaum noch, sich politisch zu äussern. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese ethische Autorität mundtot gemacht wird, und müssen sie stützen und ermutigen. Daniel Winkler, der sich als Pfarrer in Riggisberg für Flüchtlinge engagiert, unterstrich am 5. Juni 2024 in seiner Kolumne «Maulkörbe helfen nicht aus der Krise» in der Zeitung «Der Bund»: «Es gehört zum Kernauftrag der Kirchen, sich für die Schwächsten einzusetzen.»1

Kirchen haben seit jeher die Rolle, die Stimme zu erheben, wenn die zentralen Werte des Christentums in Gefahr sind. Nach Jesus ist das zentrale Gesetz, an dem alles hängt: Du sollst deinen Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn unsere Nächsten in Gefahr sind oder ihre Rechte gebeugt werden, dann sind wir aufgefordert, Unrecht anzuprangern. Die Kirche, als Organisation der Christen, hat deshalb auch die Pflicht, die Stimme zu erheben. Dies hat sie in der Vergangenheit immer wieder getan, so z. B. wenn das Recht auf Asyl für verfolgte Menschen in Gefahr war, oder wenn Schuldknechtschaft der Länder im Süden Not und Elend zur Folge hatte.

Die Stimme stösst auf Widerstand und wird zurückgedrängt

Die Konzernverantwortungsinitiative hatte ebenfalls das Anliegen, die Rechte und das Wohl von benachteiligten Menschen im Süden zu schützen und ethische Standards einzufordern. Doch betroffenen wirtschaftlichen Kreisen und deren Vertretern – sowie Menschen, die mit der Initiative nicht einverstanden waren – ging dies zu weit, und sie organisierten ein Kesseltreiben gegen die Kirchen mit der Forderung, dass sie sich nicht mehr einmischen sollen. Kirchlichen Hilfswerken wurde daraufhin Entwicklungshilfegeld verweigert, wenn sie nicht nur Hilfsprojekte organisierten, sondern sich auch für Veränderung der strukturellen Ursachen des Elends einsetzen, also politische Forderungen stellten.2 Der Sensibilisierungkampagne StopArmut zum Beispiel wurde daraufhin die Unterstützung durch das DEZA gestrichen. Auch die diesbezügliche Aufklärung in den Schulen wurde fortan verboten. Wer unsere gesellschaftliche Mitverantwortung für Ausbeutung anspricht, wird also zensuriert. Kirchen und Hilfswerke sowie christliche Medien zögern heute, sich noch politisch zu äussern. Sie haben Angst vor der Verminderung der Spendeneinnahmen und praktizieren damit eine Selbstzensur. 2022, in der Folge der Konzernverantwortungsinitiative, wehrte sich die landeskirchliche Gruppierung «Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung»3 mit einem bedenkenswerten Manifest «Gegen das Schweigen der Kirchen»4 gegen diese Entwicklung.

Die ethische Autorität stützen – und im Dialog bleiben

Wir dürfen nicht zulassen, dass die letzte ethische Autorität, die grenzenlose Machtausübung behindert, mundtot gemacht wird. Das ist genau die Voraussage des ersten Beschreibers des Postmodernismus, Jean-François Lyotard, der sagte, wenn keine Wahrheit und keine gemeinsame Ethik mehr akzeptiert werden und alles beliebig wird, dann wird Macht nicht mehr eingeschränkt und bleibt einziges Kriterium für die Entscheidungsfindung.
Die biblischen Forderungen und ethischen Standards sind klar. Wir dürfen nicht erst dann die Stimme erheben, wenn sich alle Christen einig sind. Es ist klar, dass wir auch auf Widerstand unter Christen stossen, wenn es für das Gewissen unangenehm wird oder wenn unser Wohlstand in Frage gestellt wird. Wenn wir aufdecken und Umkehr fordern, wo Mammon vor Gott herrscht, dann müssen wir immer mit heftigen Reaktionen rechnen, zum Teil auch aus christlichen Kreisen. Unsere Aufgabe ist es, im Dialog zu bleiben, Gegenargumenten zuzuhören, Befindlichkeiten zu validieren und wo möglich gemeinsame Visionen zu entwickeln. Wir dürfen uns aber nicht davon abhalten lassen, Leben zu schützen, uns für die Schwächsten einzusetzen und Gerechtigkeit herzustellen – auch in der Politik. Es darf nicht so weit kommen wie in vielen Ländern, wo Christen und Kirchen aus einem Minderheitsreflex heraus, sichvor der «bösen Welt» abschotten und nur noch einen Kampf für ihre eigene Gruppe führen. Dabei werfen sie sich Führern an den Hals, die Hass säen und die Rechte der Nächsten mit Füssen treten.

Stützen wir also die Kirchen und christlichen Medien, die sich für christliche Werte und Nächstenliebe auch politisch äussern.


1. Kirche unter Druck: Maulkörbe helfen nicht aus der Krise | Der Bund

2. https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-verschaerft-regeln-fuer-entwicklungshilfe-staatsgelder-duerfen-nicht-in-polit-kampagnen-fliessen-ld.1604901

3. Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung – Kirche?

4. Stimme_der_Kirchen_Manifest_Pierre Buehler_dt_fr


Foto von Hansjörg Keller auf Unsplash

Lesezeit / Temps de lecture ~ 4 min

Rechts oder links bestimmt unser politisches Denken und Agieren. Ist dies noch zeitgemäss, um den heutigen Anforderungen an die Politik zu genügen? Oder bräuchte es auch da ein Umdenken, um Lösungen für komplexe Probleme zu finden?

Die parlamentarische Rechts-Links-Sitzordnung bestimmt den politischen Diskurs der Neuzeit. Wie kam es dazu? Während der französischen Revolution wurden die räumliche Platzierung «Rechts» und «Links» politisch aufgeladen zu einem politischen Ordnungssystem, das in den revolutionären Umwälzungen ab 1791 Übersicht versprach. Die neue Nationalversammlung setzte die konservativen Aristokraten/Monarchisten auf die rechte, die fortschriftlich-revolutionären Patrioten auf die linke Seite.
Seitdem gilt diese Sitzordnung als Nomenklatur für alle Parteien im demokratischen Parlamentarismus. Sie bestimmt die politische Debatte bis heute, obwohl – und das ist der Anlass zu den folgenden Überlegungen – die Grenzlinien zwischen «links» und «rechts» programmatisch längst nicht mehr eindeutig sind.

Anachronistische Kategorien

Es mehren sich die Stimmen, welche die Kategorien «rechts und/oder links» für anachronistisch halten. Sie hinterfragen diese Zuweisungen von Parteien und Initiativen 1. .
Ich teile diesen Argwohn und reagiere besonders sensibel, wenn diese Etikettierung auch im christlichen Umfeld permanent unkritisch verwendet wird. Wenn also Einzelne oder Gruppen als «linksevangelikal» oder «rechts» tituliert werden, nur weil sie sozial und ökologisch agieren oder sich für traditionelle Werte einsetzen.

Gäbe es nicht auch ein Politisieren jenseits von links und rechts?

Diese Frage stellte Jim Wallis 1995 in seinem Buch «Die Seele der Politik» 2.
Die alten Schubladen der herrschenden politischen Ideologien von progressiv und konservativ, links und rechts seien gleichermassen unfähig, die gegenwärtige Krise klar zu benennen. Vertreten nicht Konservative und Progressive gemeinsam im Kern die grossen moralischen, sozialen und humanen Werte jüdisch-christlicher Tradition? War nicht das Auseinanderdividieren dieser Werte die Quelle für die daraus entstandenen, bis heute andauernden Polarisierungen und Grabenkämpfe?

Dass sich im 19. Jahrhundert die sozialpolitisch-progressiven Kräfte mit dem atheistischen Materialismus/Humanismus verbündeten, ist ja leider auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Christen und Kirchen den absurden Scheingegensatz von «sozialer Politik» und «Evangelium» jahrzehntelang kultiviert haben. Das zu verhindern ist den wenigen Persönlichkeiten der «Inneren Mission» (Joh. Hinrich Wichern +1881) und der religiös-sozialen Bewegung (Christoph Blumhardt +1919, Hermann Kutter +1931, Leonhard Ragaz +1945) damals leider nicht gelungen.

Das Rechts-Links-Schema franst aus

So prägt das Rechts-Links-Schema unser politisches und gesellschaftliches Bewusstsein als unverrückbares Ordnungsraster. Trotzdem scheint es nicht mehr zu passen.
Das hat das Taktieren der Parteien mit Unterlisten und Listenverbindungen für die letzte Nationalratswahl im Oktober 2023 gezeigt. Wer da mit wem wieso und warum koalierte – da konnte man nur staunen! Mutmassungen, Kopfschütteln und kritische Häme meldeten sich, denn das entsprach ganz und gar nicht unserem Bedürfnis nach verlässlichen Koordinaten.

Eine neue, ungewohnte Gemengelage entsteht global

Diese letztjährige Verwirrung in der Parteienlandschaft ist kein helvetischer Sonderfall, sondern ein europäisch-transatlantisches Phänomen. Es spiegelt einen Epochenwandel wider, der mit dem Fall der Mauer 1989 begonnen hat. Die bisherigen ideologischen Kategorien konservativ-traditionell-national und progressiv-multikulturell-global bröckeln ebenso wie das frühere Gegenüber von Kapitalismus und Kommunismus. China zeigt zum Beispiel, wie erfolgreich ein kapitalistischer Kommunismus sein kann, wenn er nicht von Korruption zersetzt würde.

Eine ideologisierte Politik wie bisher verhindert schon länger gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Multikrisen und zur Deeskalation internationaler Konflikte.
Gegenwärtig erleben wir, dass narzisstische Autokraten, selbstgefällige Oligarchen und egomanische Machtmenschen diese Ideologien nur noch propagandistisch nutzen, um Feindbilder zu kreieren und um dadurch ihre Nation – nein, sich selbst – gross zu machen. Und die Welt beginnt bedenklich zu taumeln.

In welche Richtung wird es gehen?

Die aktuellen Problemfelder «lassen sich nicht mehr so einfach auf der alten politischen Koordinatenachse zwischen rechts und links» verorten 3. Denn wir sind nicht mehr nur ökonomisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch, kulturell, sozialethisch, normativ, existentiell und neuerdings digital/medial in einer noch nie da gewesenen Intensität herausgefordert. Diese in sich autodynamische interagierende Vielfalt sprengt jede monokausale Erklärung. Ideologisch einseitiges, konservatives oder progressives Politisieren muss jetzt dringend offenlegen, welche Interessen da in Wirklichkeit noch wirkmächtig mitspielen.
Besonders bedenklich ist es in kürzester Zeit geworden, wie sich aktuell eine Intoleranz ausgerechnet bei denen radikalisiert, die für sich Toleranz einfordern. Politikerinnen und Parlamentarier, Wissenschaftler und Journalistinnen beklagen, wie seit der Pandemie eine teilweise gehässige Polarisierung und aggressiver werdende Verdächtigungskultur zunimmt, völlig jenseits der alten Rechts-Links-Gräben 4.

Politischer Gegner bleibt Mitmensch

Der christliche Glaube steht in unserer direkten Demokratie permanent in politischer Entscheidung. Umso mehr ist er jetzt gefordert, alte Polarisierungen und ideologische Gegensätze aufzubrechen und durch eine Gesamtschau zu überwinden, die wir beispielhaft bei den Propheten des Alten Testaments und natürlich bei Jesus finden: Es geht nicht um Macht, Profit und «gross sein wollen», sondern um den Dienst umfassender Mitmenschlichkeit.
Der Christliche Glaube analysiert die nationale Politik sowie die internationale und globale Wirklichkeit kritisch und merkt dann schnell, wie unzeitgemäss und perspektivlos das herkömmliche «Rechts-Links-Schema» wirkt. Es entspricht einfach nicht den biblischen Kriterien für eine Politik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung.

Was könnte eine Politik bewegen, die sich in letzter Verbindlichkeit – oder wenigstens minimal prinzipiell – an Jesu Botschaft, Gesinnung und Verhalten orientiert? Natürlich ist es enorm schwierig, Nächstenliebe von Klasse zu Klasse, Partei zu Partei, Rasse zu Rasse, Religion zu Religion und Nation zu Nation politisch umzusetzen. Aber jeder noch so gering erscheinende Versuch liesse uns eine politische Kultur «jenseits von rechts und links» entdecken, einen «dritten Weg», eine «neue Mitte», ein neues Verhalten, eine neue Freiheit von ideologischer Befangenheit.

Und es gab und gibt sie schon, die Politiker und Politikerinnen, die jenseits ihrer Parteizugehörigkeit als Brückenbauer agieren und die ihre Sachkompetenz und politische Überzeugung mit offener Dialogbereitschaft verbinden. Ihr argumentatives Ringen im Gespräch ermöglicht, einander zu verstehen und zu respektieren. Jede anständige, seriöse politische Kommunikation ohne Gehässigkeiten schafft eine Atmosphäre, in der mein politischer Gegner kein Feind ist, sondern Mitmensch bleibt! Gesprächsverweigerungen sind für eine Demokratie gefährlich, sie verhindern lösungsorientierte Sachpolitik und fördern subtile Machtpolitik.

In Schubladen denken – bitte nicht mehr!

Ich weiss: Die Sprachformel «Rechts/Links» lässt sich noch nicht aus der Welt zu schaffen.
Sie wird mir morgen und übermorgen in den Nachrichten und Medien begegnen wie eh und je. Wer aber dieses Schubladen-Denken aus seiner Denkkultur und dann auch aus seinem politischen Alltagsgeschäft verbannt, hebt sein politisches Denken und Agieren auf ein anderes – höheres – Niveau. Und das wird nachhaltige Folgen generieren.
Jeder zaghafte Versuch ist zu begrüssen und wäre unbedingt zu unterstützen!


1 Jüngst Martin Notter: «Die Einteilung in Konservative und Progressive folgt einer Parteilogik. Mit einem Zukunftsrat besteht die Chance, dass diese Logik überwunden wird (TAMagazin 34/2023)
2 Jim Wallis, Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München 1995. S.50-69
3 Robert Habeck, Von hier an anders. Köln 2021. S.68. Habeck ringt ab S.240 um eine Politik der Gemeinschaft in auszuhaltender Differenz jenseits herkömmlichen Lagerdenkens
4 Edgar Schuler, Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert. TA 9.8.2023

Dieser Artikel erschien erstmals am 01. Oktober 2023 auf Insist Consulting. Er wurde für ChristNet leicht überarbeitet.

Foto von Pablo García Saldaña auf Unsplash