Gott fordert uns auf, uns für die Nächsten und für Gerechtigkeit einzusetzen, was bei strukturellen Ursachen für Elend und Ungerechtigkeit auch ein politisches Engagement erfordert. Die Kirchen nehmen dabei eine wichtige Rolle als Sprachrohr und als ethische Autorität ein.
Die Kirchen sind in den letzten Jahren unter Druck gekommen, wenn sie in politischen Belangen die Stimme erhoben. Sie wagen es kaum noch, sich politisch zu äussern. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese ethische Autorität mundtot gemacht wird, und müssen sie stützen und ermutigen. Daniel Winkler, der sich als Pfarrer in Riggisberg für Flüchtlinge engagiert, unterstrich am 5. Juni 2024 in seiner Kolumne «Maulkörbe helfen nicht aus der Krise» in der Zeitung «Der Bund»: «Es gehört zum Kernauftrag der Kirchen, sich für die Schwächsten einzusetzen.»1
Kirchen haben seit jeher die Rolle, die Stimme zu erheben, wenn die zentralen Werte des Christentums in Gefahr sind. Nach Jesus ist das zentrale Gesetz, an dem alles hängt: Du sollst deinen Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn unsere Nächsten in Gefahr sind oder ihre Rechte gebeugt werden, dann sind wir aufgefordert, Unrecht anzuprangern. Die Kirche, als Organisation der Christen, hat deshalb auch die Pflicht, die Stimme zu erheben. Dies hat sie in der Vergangenheit immer wieder getan, so z. B. wenn das Recht auf Asyl für verfolgte Menschen in Gefahr war, oder wenn Schuldknechtschaft der Länder im Süden Not und Elend zur Folge hatte.
Die Stimme stösst auf Widerstand und wird zurückgedrängt
Die Konzernverantwortungsinitiative hatte ebenfalls das Anliegen, die Rechte und das Wohl von benachteiligten Menschen im Süden zu schützen und ethische Standards einzufordern. Doch betroffenen wirtschaftlichen Kreisen und deren Vertretern – sowie Menschen, die mit der Initiative nicht einverstanden waren – ging dies zu weit, und sie organisierten ein Kesseltreiben gegen die Kirchen mit der Forderung, dass sie sich nicht mehr einmischen sollen. Kirchlichen Hilfswerken wurde daraufhin Entwicklungshilfegeld verweigert, wenn sie nicht nur Hilfsprojekte organisierten, sondern sich auch für Veränderung der strukturellen Ursachen des Elends einsetzen, also politische Forderungen stellten.2 Der Sensibilisierungkampagne StopArmut zum Beispiel wurde daraufhin die Unterstützung durch das DEZA gestrichen. Auch die diesbezügliche Aufklärung in den Schulen wurde fortan verboten. Wer unsere gesellschaftliche Mitverantwortung für Ausbeutung anspricht, wird also zensuriert. Kirchen und Hilfswerke sowie christliche Medien zögern heute, sich noch politisch zu äussern. Sie haben Angst vor der Verminderung der Spendeneinnahmen und praktizieren damit eine Selbstzensur. 2022, in der Folge der Konzernverantwortungsinitiative, wehrte sich die landeskirchliche Gruppierung «Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung»3 mit einem bedenkenswerten Manifest «Gegen das Schweigen der Kirchen»4 gegen diese Entwicklung.
Die ethische Autorität stützen – und im Dialog bleiben
Wir dürfen nicht zulassen, dass die letzte ethische Autorität, die grenzenlose Machtausübung behindert, mundtot gemacht wird. Das ist genau die Voraussage des ersten Beschreibers des Postmodernismus, Jean-François Lyotard, der sagte, wenn keine Wahrheit und keine gemeinsame Ethik mehr akzeptiert werden und alles beliebig wird, dann wird Macht nicht mehr eingeschränkt und bleibt einziges Kriterium für die Entscheidungsfindung.
Die biblischen Forderungen und ethischen Standards sind klar. Wir dürfen nicht erst dann die Stimme erheben, wenn sich alle Christen einig sind. Es ist klar, dass wir auch auf Widerstand unter Christen stossen, wenn es für das Gewissen unangenehm wird oder wenn unser Wohlstand in Frage gestellt wird. Wenn wir aufdecken und Umkehr fordern, wo Mammon vor Gott herrscht, dann müssen wir immer mit heftigen Reaktionen rechnen, zum Teil auch aus christlichen Kreisen. Unsere Aufgabe ist es, im Dialog zu bleiben, Gegenargumenten zuzuhören, Befindlichkeiten zu validieren und wo möglich gemeinsame Visionen zu entwickeln. Wir dürfen uns aber nicht davon abhalten lassen, Leben zu schützen, uns für die Schwächsten einzusetzen und Gerechtigkeit herzustellen – auch in der Politik. Es darf nicht so weit kommen wie in vielen Ländern, wo Christen und Kirchen aus einem Minderheitsreflex heraus, sichvor der «bösen Welt» abschotten und nur noch einen Kampf für ihre eigene Gruppe führen. Dabei werfen sie sich Führern an den Hals, die Hass säen und die Rechte der Nächsten mit Füssen treten.
Stützen wir also die Kirchen und christlichen Medien, die sich für christliche Werte und Nächstenliebe auch politisch äussern.
1. Kirche unter Druck: Maulkörbe helfen nicht aus der Krise | Der Bund
2. https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-verschaerft-regeln-fuer-entwicklungshilfe-staatsgelder-duerfen-nicht-in-polit-kampagnen-fliessen-ld.1604901
3. Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung – Kirche?
4. Stimme_der_Kirchen_Manifest_Pierre Buehler_dt_fr
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