Von relativem Pazifismus und gerechtfertigten Verteidigungskriegen
«Ich wünschte, er würde einfach sterben», sagte mein Kollege erbittert – gemeint war der Aggressor eines grauenhaften Krieges. Diese Aussage mag zunächst schockierend wirken, denn man «darf» doch niemandem den Tod wünschen. Zudem würde der Tod eines Einzelnen kaum das Ende eines Konflikts bedeuten. Doch die Aussage bringt eine innere Spannung zum Ausdruck, mit der wir derzeit wohl alle ringen.
Auf der einen Seite steht das christliche Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt 5-7), das uns davon abhalten sollte, andern Schlechtes zu wünschen oder ihnen Gewalt anzutun. Auf der anderen Seite steht das Wissen um das Unrecht, das geschieht – und unser ebenso christlicher Auftrag, gegen Unrecht aufzustehen und die Schwachen zu schützen (vgl. Spr 31,8-9). In manchen Fällen scheint das Nichthandeln schwerwiegendere Folgen zu haben als das Handeln.
Christliche Friedensbotschaft unabhängig von den Umständen
Laut dem Global Peace Index gibt es derzeit 56 bewaffnete Konflikte, an denen 92 Staaten ausserhalb ihrer Landesgrenzen beteiligt sind – der höchste Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.1 Für den evangelischen Friedensbeauftragten und Pazifisten Friedrich Kramer ist klar: Kriege lassen sich durch nichts rechtfertigen, und jede militärische Unterstützung einer Kriegspartei hält diese Konflikte nur aufrecht. Er sagt: «Die christliche Friedensbotschaft hängt nicht davon ab, ob es blutrünstige Kaiser oder machtbesessene Oligarchen gibt. Die Idee der Gewaltlosigkeit Jesu überdauert all diese, auch das römische Imperium. Im Krieg sterben nicht die Mächtigen, sondern der einfache Mann. Kriege sind mörderisch und durch nichts zu rechtfertigen. All das spricht für den Pazifismus.»2
Eine radikal pazifistische Sichtweise ist geprägt vom fundamentalen Antimilitarismus.3 Sie betont die kompromisslose Gewaltlosigkeit als christliches Ideal, besonders basierend auf der Bergpredigt Jesu. Sie geht davon aus, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, das Leben heilig und Töten grundsätzlich falsch ist. Allerdings ist «der Pazifismus» kein einheitliches Konzept – unter diesem Begriff versammeln sich unterschiedliche Ansätze.
Rechtfertigt unser Auftrag, gegen Unrecht aufzustehen, auch (gewaltsame) Verteidigung?
Doch so einfach ist es nicht. Wofür sind wir als Christinnen und Christen verantwortlich? Nach Ambrosius von Mailand sind wir nicht nur für unser Handeln, sondern auch für unser Nicht-Handeln verantwortlich.4 D.h. wenn ich etwas Schlechtes verhindern könnte und das nicht tue, dann bin ich genauso verantwortlich, wie wenn ich es tue: «Denn wer nicht von seinem Mitmenschen Unrecht abwehrt, wenn er kann, ist ebenso schuldbar wie jener, der es begeht.»5 Ambrosius bezieht sich hier auf die rechtliche Ausnahmeregelung der Notwehrhilfe. Interessant ist, dass sowohl er als auch Augustinus von Hippo die Notwehr auf individueller Ebene zurückweisen, da diese bedeuten würde, das eigene Leben über das Leben des Angreifers zu stellen. Hingegen sei es etwas anderes, wenn ich in eine Situation komme und Notwehrhilfe leisten kann, denn dann stelle ich das Leben der bedrohten Person über das Leben des Angreifers, und werte somit in diesem Moment das Gebot der Nächstenliebe höher als das Gebot der Feindesliebe. Aus diesem Gedanken heraus befürworten Ambrosius und Augustinus schliesslich die Notwehr, also die (gewaltvolle) Verteidigung, auf kollektiver Ebene, abgeleitet nicht aus der Notwehr auf individueller Ebene, sondern der Notwehrhilfe.6
Wie viel wissen wir über die Folgen unseres Handelns – oder Nichthandelns?
Laut dem Philosophen Olaf Müller vertreten verantwortungsethische Pazifistinnen und Pazifisten die Haltung, dass es in den meisten Fällen deutlich schlimmer ist, auf Gewaltmittel zu setzen als auf friedliche Lösungen. Doch, so Müller, überschätzen sie sich oft: Wer kann schon zuverlässig vorhersagen, welche Massnahmen zu welchen Konsequenzen führen? Wie viele Tote es geben wird – je nach Entscheidung?
Verantwortungsethiker, die militärische Mittel befürworten, verfügen über genauso wenig Vorhersagekraft wie Pazifistinnen. An diesem Punkt tritt unser Menschenbild in den Vordergrund: Menschen mit einem eher optimistischen Menschenbild neigen eher zu pazifistischen Lösungen. Wer dagegen glaubt, dass der Mensch grundsätzlich nicht gut ist, wird dazu tendieren, Gewalt (oder deren Androhung) für notwendig zu halten, um Vernunft und Frieden zu erzwingen.
Der Streit ums Menschenbild lässt sich wissenschaftlich nicht entscheiden. Ein positives Menschenbild ist schön – doch hilft es uns durch die Härten der Realität? Ist es naiv, auf das Gute zu vertrauen, wenn rundherum aufgerüstet wird und Dialogbereitschaft fehlt?7
Relativer politischer vs. absoluter persönlicher Pazifismus?
Hier treffen zwei Prinzipien aufeinander: das Gebot absoluter Gewaltfreiheit und das Gebot absoluter Liebe. Es ist ehrenwert, wenn Christinnen und Christen auf jede Form von Gegengewalt verzichten und dabei sogar Gefahren für ihr eigenes Leben in Kauf nehmen. Aber können sie diese Entscheidung auch für andere – oder für eine ganze Gesellschaft – treffen?
Sollte man nicht im Einzelfall prüfen, ob etwa defensive Waffen (und nur defensive!) dazu beitragen können, Leid in einem Kriegsgebiet zu begrenzen und zu einem raschen, dauerhaften Ende der Kampfhandlungen beizutragen?8 Jedoch erst, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft, es keine nicht-militärische Handlungsoptionen mehr gibt und parallel noch immer diplomatische Verhandlungen geführt werden?
Für mich bleibt das ein schwieriger Gedanke. Ausserdem würde ich gerne, obwohl das vielleicht naiv ist, mein optimistisches Menschenbild aufrechterhalten. Doch hilft diese Einstellung in der aktuellen Lage?
Christliche Hoffnung in den Spannungen dieser Welt
Kant sagte einst, der Friede sei nie gegeben – man müsse ihn aktiv schaffen.9
Die Spannungen, die uns heute beschäftigen, werden uns vermutlich weiterhin begleiten. Und doch haben wir Hoffnung und eine Verheissung: «Er wird richten unter vielen Völkern und zurechtweisen mächtige Nationen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Kein Volk wird mehr das Schwert gegen ein anderes erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.» (Micha 4,3)
1. Vision of Humanity. (2024). Highest number of countries engaged in conflict since World War II.
https://www.visionofhumanity.org/highest-number-of-countries-engaged-in-conflict-since-world-war-ii/. Abgerufen am 18.05.2025.
2. pro Medienmagazin. (2022). Friedrich Kramer: „Waffen schaffen keine Gerechtigkeit“.
https://www.pro-medienmagazin.de/friedrich-kramer-waffen-schaffen-keine-gerechtigkeit/. Abgerufen am 18.05.2025.
3. Evangelische Aspekte. (o. J.). Pazifismus – verschiedene Konzepte.
https://www.evangelische-aspekte.de/pazifismus-konzepte/. Abgerufen am 18.05.2025.
4. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 34:20].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.
5. Ambrosius von Mailand. De Officiis Ministrorum. Erstes Buch: Vom Sittlichguten, Kapitel XXXVY (179).
6. Bewegung Plus Bern. (2025). Spannungsfeld: Krieg und Frieden – Gottesdienst vom 18.05.2025 mit Patrik Hofstetter. [YouTube-Video, ab Minute 36:05]. https://www.youtube.com/watch?v=ktuLfnLv4CM Abgerufen am 18.05.2025.
7. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 8:45].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.
8. https://www.evangelische-aspekte.de/pazifismus-konzepte/
9. SRF Kultur. (2022). Europa rüstet auf – kommt so der Frieden? | Sternstunde Philosophie. [YouTube-Video, ab Minute 27:00].
https://www.youtube.com/watch?v=b34_dOWp9ts Abgerufen am 18.05.2025.
Dieser Artikel erschien zuerst im Gerechtigkeitslab bei StopArmut. ChristNet ist Mitglied des Trägerkreises der StopArmut-Konferenz, die am 1. November 2025 stattfindet.
Titelbild von lummi.ai
Es ist interessant, konkrete Beispiele von Kriegen zu nehmen und sich zunächst auf den genauen Zeitpunkt ihres Ausbruchs zu konzentrieren, bevor man sie im Vorfeld betrachtet, wo immer alternative Lösungen gefunden werden können:
Hätte man den Krieg von 1939 nach den Aggressionen Hitlers vermeiden können? (wenn man bis Anfang 1914 zurückgeht – ja, danach sicherlich)
den Krieg in der Ukraine seit 2022 (wenn man bis 1991 zurückgeht – wahrscheinlich)
Israel 1948 (mit der Akzeptanz der Teilung von 1947 – vielleicht) und die aktuelle Situation (vielleicht durch die echte Akzeptanz der Osloer Verträge und nicht als Strategie).
Wenn sonst ein Mensch einen anderen angreift und einer leider ums Leben kommt, was kann man dann am ehesten von dieser Situation erwarten? Dass der Angreifer oder der Angegriffene stirbt? Wenn der Angreifer überlebt, besteht dann nicht die Möglichkeit, dass er andere Menschen tötet?
Andererseits ist es nicht akzeptabel, dass die Polizei eine mit einem Messer bewaffnete Person mit vier Schüssen tötet, selbst wenn diese in einer Angriffsposition ist, wie es im Mai dieses Jahres in Genf geschehen ist. Ich bin nicht an der Stelle des angegriffenen Polizisten, aber hätte man nicht in die Beine schießen oder sich körperlich wehren können?Zu diesem Thema, was die guten oder schlechten Gefühle des Menschen auf natürlicher Ebene (im Gegensatz zur übernatürlichen Ebene) angeht: Die Reaktionen auf der Facebook-Seite der Tribune de Genève zu diesem Vorfall sind ganz klar mehrheitlich eine Unterstützung der Polizei, auch für diese Maßnahme, und in welchen Worten sie das sagen (!)…:
179 Likes für diese Aussage: „Es ist Zeit, die Polizei und alle Kräfte der öffentlichen Ordnung, wie die Landesverteidigung, zu unterstützen und STOP zu sagen zu den linken Blumenverkäufern und Träumern vom großen Abend. Stop den Utopien und nein zum Chaos und zur Unordnung.“
3 Likes+ eine negative Stimme für diese: „Dieses Drama muss aufgeklärt werden, um in Zukunft vermieden zu werden.“
Die Bergpredigt und wie Jesus das Gesetz erfüllt, lehrt und demonstriert, ist die absolute Referenz, aber es gibt nicht nur die Bergpredigt. Jesus äußert sich hart über seine religiösen Gegner, vertreibt die Händler aus dem Tempel und kündigt strenge Gerichte an (wie für Jerusalem für König Herodes in der Apostelgeschichte). Das Alte Testament versetzt das Land Israel in eine militärisch defensive Position gegenüber seinen potenziellen Angreifern.
Aber tatsächlich muss alles unternommen werden (auch wenn man dabei vor Erschöpfung stirbt, dann verstehe ich das Opfer), um Kriege zu vermeiden, die, wie der Text sagt, in erster Linie gewöhnliche Menschen und nicht ihre Urheber als Opfer sehen.
Wir sehen dies bei Scheidungen oder Familienstreitigkeiten: Sobald es zu Konflikten kommt, kommt es zu verbalen und tätlichen Entgleisungen. Wie sieht es dann erst mit Schusswaffen in einem Krieg aus? In dieser Hinsicht schließe ich mich der Radikalität dieses Textes in seinen Absichten an.