Wie Feindesliebe und Verteidigung der Unterdrückten miteinander verbinden?

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Das SDG 16 (Sustainable Development Goal 16) will die Entstehung friedlicherer Gesellschaften fördern. Es ist erwiesen, dass Entwicklung nur in friedlichem Rahmen nachhaltig sein kann. Aber wie kann man konkret nach Frieden auf kollektiver und persönlicher Ebene streben? Interview mit Salome Haldemann, mennonitische Pfarrerin.

Wir dachten, Krieg in Europa gehöre der Vergangenheit an. Doch die Nachrichten am 24. Februar belehrten uns eines Besseren … Warum ist der Krieg, obwohl wir seine gravierenden Folgen kennen, immer noch europäische Aktualität?

Es stimmt, dass uns das Fragen aufwirft! Die Europäer glaubten bereits 1914, dass der 1. Weltkrieg der Krieg sein würde, der allen Kriegen ein Ende setzt, der „der der“. Doch trotz seiner Sinnlosigkeit und seines Leids tobt er immer noch. Es gibt zwei Denkschulen über den Ursprung des Krieges. Die eine sieht den Krieg als in der menschlichen Natur verankert: Menschen werden aggressiv, wenn sie sich verteidigen oder wenn sie etwas erreichen wollen. Er ist daher unvermeidlich. Der zweite Ansatz geht davon aus, dass ungerechte Systeme zu Krieg führen. Weder die Natur noch die Strukturen lassen sich leicht ändern, was erklärt, warum es immer noch Krieg gibt. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es ein ganzes Spektrum von gewalttätigen Konflikten gibt, das von der interindividuellen Ebene (häusliche Gewalt, „Schlägerei“ zwischen zwei Personen), über bewaffnete Konflikte zwischen Gruppen (Bandenkrieg, Aufstände) bis hin zum Krieg zwischen Nationen reicht. Der einzige Unterschied zwischen diesen Konflikten ist die Anzahl der der involvierten Personen. Vom eigentlichen Krieg spricht man erst ab 50’000 Beteiligten. In all diesen Konflikten wird Gewalt eingesetzt, um den anderen dazu zu zwingen, das zu tun, was wir von ihm wollen. Und leider ist es ein sehr menschlicher Wunsch, kontrollieren zu wollen, was andere tun.

Wie sollen wir reagieren, wenn wir selbst Opfer eines bewaffneten oder politischen Konflikts werden, der die eigenen Rechte bzw. den persönlichen Lebensstandard beeinträchtigt?

Wir müssen aufpassen, dass wir Konflikte nicht nur danach bewerten, wie sie sich auf unsere Rechte oder unser Lebensumfeld auswirken. Wenn wir Teil einer privilegierten Gruppe sind, kann sich eine Bewegung für mehr Gerechtigkeit wie eine Beschneidung unseres Lebensstandards anfühlen. Dennoch hat diese Bewegung ihre Berechtigung. In diesem Fall ist der Auslöser des Konflikts eher die Ungerechtigkeit und Unterdrückung einer Gruppe. In solchen Fällen sind wir meiner Meinung nach dazu aufgerufen, dem Bösen Grenzen zu setzen, indem wir nach kreativen Wegen suchen, die Feindesliebe mit dem Schutz von Menschen zu verbinden. Bewegungen des gewaltfreien zivilen Widerstands gehen in diese Richtung.

Wie können die Kirchen daran arbeiten, die Gesellschaft friedlicher zu machen?

Auf struktureller und kultureller Ebene können die Kirchen mehr Frieden in die Gesellschaft bringen, indem sie sich für Gerechtigkeit einsetzen und an der Seite der unterdrückten Menschen und Bevölkerungsgruppen stehen. Paradoxerweise müssen Kirchen daher manchmal bereit sein, das Feuer eines Konflikts zu schüren – ohne Gewalt anzuwenden -, um Ungerechtigkeiten ans Licht zu bringen und einen Wandel auszulösen. Dies kann in Form von Demonstrationen, Einflussnahme auf die Politik oder eines Engagements im Stadtleben oder in anderen Organisationen geschehen. Auf der zwischenmenschlichen Ebene sind Kirchen ein echtes Konfliktlabor. Es ist nicht zu verhindern, dass sie zwischen all den unterschiedlichen Menschen stehen, die davon überzeugt sind, im Recht zu sein. Sie sind der ideale Ort, um zu lernen, wie man mit anderen zusammenlebt, und um im Gebet und mit Gottes Hilfe an unseren Einstellungen zu arbeiten.

Was ist der erste Schritt auf der Suche nach Frieden mit einer Person, die sich wie ein Feind verhält?

Konflikte lösen oft sehr starke Emotionen aus, die uns nicht immer dazu bringen, die besten Entscheidungen zu treffen. Der erste Schritt ist daher, sich eine Verschnaufpause zu gönnen und dann die Situation zu analysieren. Was geht hier vor? Warum löst diese Situation eine Reaktion bei mir aus? Welche wunden Punkte berührt dieser Konflikt bei mir? Kann ich den/die andere/n fragen, wie er oder sie die Situation erlebt? Und noch schwieriger: Bin ich bereit, dem anderen zuzuhören, zu hören, inwiefern mein Verhalten für ihn schwierig ist? Es hat etwas Heiliges, diesen Raum für den Austausch zu schaffen. In einem zweiten Schritt kann man versuchen, einen Blick über den Tellerrand zu werfen: Welche Beziehung möchte ich in einem Jahr oder in fünf Jahren zu dieser Person haben? Was kann ich heute tun, um ihr näher zu kommen?

Welche Haltung sollte man einnehmen, wenn man Zeuge eines Streits zwischen Einzelpersonen oder zwei Gruppen wird?

Manchmal hilft es zwei Menschen am meisten, wenn sie ihre Streitigkeiten untereinander lösen können. Man möchte sich einmischen, entscheiden oder Partei ergreifen, aber keine dieser Haltungen hilft wirklich. Wir können den Streitenden zuhören, sie aneinander verweisen und sie ermutigen, ihre Konflikte zu lösen. Ebenso kann es im Falle eines Konflikts zwischen zwei Gruppen weise sein, sich keiner der beiden Gruppen gegen die andere anzuschliessen. Die beste Haltung ist es, Verbindungen zwischen den beiden Gruppen herzustellen, indem wir sie sowohl an die Gemeinsamkeiten der beiden Parteien als auch an die Unterschiede innerhalb der jeweiligen Parteien erinnern. Wenn nötig, können wir inakzeptablem Verhalten auf beiden Seiten Grenzen setzen. Natürlich ist die Wirkung dieser Vermittlungstätigkeit begrenzt, wenn ein grosses Machtgefälle, eine ausgeprägte Ungerechtigkeit oder eine Situation des Missbrauchs vorhanden sind. In solchen Fällen sind wir dazu aufgerufen, die unterdrückten Personen zu unterstützen.

Gott ruft dazu auf, seine Feinde zu lieben und Böses nicht zu vergelten. Betreffen diese Gebote vor allem unsere persönlichen Beziehungen oder sind sie auch eine Antwort im Falle von grösseren Konflikten?

Wie wir gesehen haben, gibt es gewalttätige Konflikte in unterschiedlicher Intensität. Aber die Dynamiken sind durchaus vergleichbar. Die Entscheidung, die biblischen Prinzipien auf bestimmte Konfliktebenen zu beschränken, würde eine komplizierte Kasuistik mit sich bringen. Ab wie vielen am Konflikt beteiligten Personen können wir aufhören, die andere Wange hinzuhalten? Fünf? 20? 110? Ich bin überzeugt, dass diese Prinzipien stattdessen auf die gesamte Konfliktskala anwendbar sind.

Das Gespräch wurde von Sandrine Roulet geführt und in der Zeitschrift «S’engager pour un monde plus juste» erstmals veröffentlicht. Übersetzung von Barbara Streit-Stettler.
Foto von Mika Baumeister auf Unsplash

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