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In den letzten Monaten wurde in den Medien stolz verkündet, dass die Zahl der Asylbewerber stark zurückgegangen sei. Gleichzeitig wird nun aber auch mehr und mehr klar, mit welchen Methoden solche Zahlen erreicht werden und welche Vorstellungen über den Wert der Menschen unsere Behörden beherrschen. Hier zwei Fälle und ein Aufruf zum Handeln.

Fallbeispiel 1: Tod als Teil der Problemlösung

Das Bundesgericht hat Ende März bestimmt, dass auch abgewiesene Asylbewerber Anrecht auf Nothilfe haben, wenn sie sonst an Leib und Leben gefährdet sind, denn die Verfassung schütze das Recht auf Leben. Der Vorsteher des Justizdepartements Christoph Blocher meinte darauf, dann müsse man eben die Verfassung ändern: ?Wenn die Streichung der Nothilfe für die Lösung eines tatsächlichen Problems etwas bringt, dann sollten wir uns eine Änderung des Gesetzes und allenfalls der Verfassung vorbehalten.?

Auch wenn Christoph Blocher mittlerweilen zurückgekrebst ist, zeigt diese Anekdote, dass der Tod von Menschen als Teil der Lösung des Flüchtlingsproblems in Kauf genommen wird. Ich glaube, die Schweizer müssen jetzt die Notbremse ziehen und sich klar werden, wohin ihre Herzen gehen. Kann dies noch der Weg Gottes sein? Dies umso mehr, als ein Teil der abgewiesenen Asylbewerber im Verfahren gar keine Chance hatten, denn wenn sie bei der Flucht tatsächlich keine Papiere auf sich tragen durften, dann wird dies in der Schweiz automatisch als Verheimlichung der Identität ausgelegt und auf den Fall gar nicht erst eingetreten?

Fallbeispiel 2: Todesgefahr als Grund zur Abweisung

Didim Teka ist Leiter von ChristNet Kongo und wollte im März am Alternativen Weltwasserforum in Genf reden. Das Visum für die Schweiz wurde ihm in erster Instanz durch die Schweizer Behörden aber verweigert. Sie begründeten dies offen mit der sich zuspitzenden politischen Situation im Kongo, wodurch die Gefahr zu gross wäre, dass Didim Teka schliesslich in der Schweiz bleiben würde. Er wird kein Einzelfall sein?

Was drückt diese Haltung über die Schweizer Asylpolitik aus? Nichts anderes als dass wir Leute gerade deshalb zurückweisen, WEIL sie gefährdet sind und deshalb um Asyl nachfragen würden. Wer die periodischen Verfolgungen mit Tausenden von Toten im Kongo kennt (und das weiss niemand besser als die dort zuständige Schweizer Botschaft), der weiss, dass das Abweisen von gefährdeten Menschen den Tod bedeuten kann. Wir machen unsere Tore also gerade dann zu, wenn Menschen vor dem Tod flüchten. Haben wir denn immer noch nichts aus dem Zurückschicken der Juden im Zweiten Weltkrieg gelernt? Damals hatten die Schweizer Angst vor den Deutschen, deren Gunst man nicht verspielen wollte. Heute haben wir nicht einmal mehr diesen Grund fürs Zurückschicken in den Tod.

Stopp der Asylverhinderung!

Welche Heuchelei: Gewisse Politiker werden nicht müde zu rufen, sie wollen die „unechten“ Flüchtlinge loswerden, damit die „echten“ Flüchtlinge bei uns genügend Platz sei. Die oben erfahrene Praxis der Behörden zeigt, dass es gar nicht um Unterscheidung zwischen den „Echten“ und „Unechten“ geht, sondern nur darum, dass möglichst niemand zu uns kommt! Dafür nehmen wir bewusst den Tod dieser Menschen in Kauf. Auch das Argument der entsprechenden Politiker, wenn jemand echter Flüchtling sei, erhalte er auch ein Visum (papierlose Menschen seien deshalb keine Flüchtlinge) wird durch diese Beispiele Lügen gestraft. Wir selber verweigern ja gerade den echten Flüchtlingen das Visum. So bleibt ihnen oft keine andere Möglichkeit als die illegale Einreise, die für das Justizdepartement ein Grund für Nichteintreten auf das Asylgesuch ist…

Es ist Zeit, dass wir gegen diese Perversionen aufstehen. Es ist klar, dass es vor Gott ein Gräuel ist, Menschen in die Todesgefahr zurückzuschicken. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Menschenverachtung in der Schweiz noch mehr zunimmt. Wir müssen die Stimme erheben und diese skandalösen Vorgänge publik machen. Es darf nicht schon wieder so weit kommen wie mit den Juden. Wir müssen dieser zum Teil von Christen unterstützten Praxis die Biblischen Werte und die Liebe Jesu entgegensetzten. Jetzt ist die Zeit!

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?Sozialmissbrauch, Scheinasylanten, IV-Schummler?? In gewissen Kreisen werden Themen wie Asyl, Arbeitslosigkeit und IV hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt des möglichen Missbrauchs behandelt. Natürlich ist Missbrauch nicht gut und sollte bei der Formulierung der Sozialpolitik berücksichtigt werden. Aber viele Politiker brauchen die Missbrauchsangst als Begründung für die ständige Verschärfung der Bezugsbedingungen für diese sozialen Leistungen. Das führt dazu, dass immer mehr Bedürftige durch die Maschen unseres sozialen und humanitären Netzes fallen.

Auch in freikirchlichen Kreisen ist die Missbrauchsangst gross. Wie können wir mit dieser Angst und mit der Möglichkeit umgehen, dass Menschen unsere Grosszügigkeit ausnützen? Ein Blick auf die Evangelien hilft uns zu sehen, wie unser grösstes Vorbild, Jesus, damit umgegangen ist, wenn Menschen seine Grosszügigkeit und sein Vertrauen missbraucht haben.1

Jesus und die Missbrauchsangst

Jesus steht dem Vertrauensmissbrauch gelassen gegenüber. Das zeigt sich am Eindrücklichsten an der Tatsache, dass er Judas als einer der zwölf Jünger erwählt hat, obwohl er von Anfang an wusste, dass Judas ihn verraten würde.2  Jesu Gelassenheit bezieht sich nicht ?nur? auf sein eigenes Leben, sondern auch auf dasjenige der ganzen Jüngergemeinschaft. Durch Judas? Verrat wurde das Leben der Elf ja auch gefährdet. Die Gelassenheit Jesu erstreckt sich bis in den finanziellen Bereich: Judas veruntreute die ihm anvertraute Gemeinschaftskasse. Darüber war sich Jesus durchaus im Klaren.3

Es ist wichtig festzuhalten, dass Jesus nicht aus Naivität so gehandelt hat. Er hat nicht blind vertraut oder geliebt. Es heisst von ihm, dass er es nicht nötig hatte, ?dass jemand über den Menschen Zeugnis ablegte; denn er erkannte selbst, was im Menschen war?4 . Er vertraute wider besseres Wissen.

Der Weg aus der Missbrauchsangst

Dieses Verhalten war ihm nur dank seinem tiefen Vertrauen zum Vater möglich: Er liess sich von der Überfülle des Vaters beschenken und war nicht auf den Dank und die Achtung seiner Mitmenschen angewiesen. Dieses Verhalten widerspiegelt die Liebe, die Gott zu uns hat: Er liebt uns und lässt es sich etwas kosten, obwohl er weiss, dass viele Menschen diese Grosszügigkeit ablehnen.5

Die Grosszügigkeit Gottes hilft auch uns, nicht mehr Angst zu haben, zu kurz zu kommen. Doch dazu müssen wir Seine Grosszügigkeit annehmen. Sein grösster Wunsch ist es, alle die ihn bitten, die bei ihm suchen und bei ihm anklopfen aus seiner Überfülle heraus zu beschenken.6  Lassen wir uns beschenken? Wenn wir offen werden für seinen bedingungslosen Segen, werden wir auch bereit, selber nach dem Herz unseres himmlischen Vaters zu handeln und seine Grosszügigkeit für alle, die uns bitten, bei uns suchen und anklopfen, d.h. bei Sozialhilfeempfängern, Asylbewerbern und IV-Bezügern, sichtbar werden zu lassen.

Die Frucht der Grosszügigkeit

Wenn wir den falschen Glauben, dass wir Mangel leiden müssen, wenn wir zu grosszügig sind, hinter uns lassen, erfüllen wir damit das Gebot der Nächstenliebe. Und nicht nur das: Gott verheisst uns grossen Segen, denn bei ihm wird unsere Angstlogik ins Gegenteil verkehrt:

Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten; und wer in Segensfülle sät, wird auch in Segensfülle ernten. Jeder gebe, wie er es sich im Herzen vorgenommen hat, nicht aus Missmut heraus oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Gott aber vermag jede Gnade im Überfluss über euch zu bringen, damit ihr in allem allezeit alles Genüge habt und zu jedem guten Werk überreich seid, wie geschrieben steht: ?Er hat ausgestreut, er hat den Armen gegeben; seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit.? 2. Korinther 9,6ff.

Beten wir dafür, dass Seine Gerechtigkeit in unserem Land auch im Sozial- und Asylbereich wieder sichtbar wird ? und dass dabei wir Schweizer ChristInnen eine Schlüsselrolle spielen.

 


1.  Es geht hier ausschliesslich um den Vertrauensmissbrauch, wie er im Sozialwesen zum Tragen kommt. Andere Missbräuche, und insbesondere der Machtmissbrauch, wurden von Jesus ganz anders angegangen.

2. ?Jesus antwortetet ihnen: Habe nicht ich euch Zwölf erwählt? Und unter euch ist einer ein Teufel. Er meinte aber Judas, den Sohn des Simon Ischarioth; denn dieser sollte ihn verraten, einer von den Zwölfen.? Johannes 6,70f.

3. ?Judas Ischarioth aber, einer von seinen Jüngern, der ihn verraten sollte, sagte: Warum wurde diese Salbe nicht für dreihundert Denare verkauft und der Erlös den Armen gegeben? ER sagte dies aber nicht, weil ihm die Armen am Herzen lagen, sondern weil er ein Dieb war und die Kasse hatte und das Eingelegte beiseite brachte.? Johannes 12,4ff.

4. Johannes 2,25.

5. ?Gott beweist aber seine Liebe gegen uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.? Römer 5,8.

6. Matthäus 7,7ff.

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Er sagte aber zu dem Mann, der die erstorbene Hand hatte:

Steh auf und stelle dich in die Mitte!

Und er stand auf und stellte sich dahin.

Lukas 6,8

Jesus stellt die Realität der Bedürftigen ins Zentrum

?NEE? sagen die Deutschen und meinen damit ?NEIN?. Einfach ?NEIN?. Die so bezeichneten Massnahmen, die heute gegen die abgewiesenen Asylbewerber ergriffen werden, lassen sich damit kaum mehr von diesem fundamentalen, und umso schrecklicheren NEIN trennen; dem NEIN zur Realität. Am Anfang steht die Realität einer Welt mit ihren Leiden, ihrer Gewalt und ihrem Exil. Dann die Realität der betroffenen Männer und Frauen, die ihr Glück für die Zukunft suchen. Schliesslich die Realität ihres Mit-uns-Seins, die wir nicht einfach wegleugnen können.

Ein Mann steht im schieren Gegensatz zu dieser blinden Ablehnung. Er trug der vollen Realität der Menschen, die seinen Weg kreuzten, Rechnung: Christus. Von ihm wollen wir lernen, die Würde jedes Menschen zu verteidigen und wiederherzustellen, ohne Ansehen der Person. Von ihm wollen wir den Ruf vernehmen, uns um die volle Realität der Welt zu kümmern, ohne uns von ihrer Komplexität und Flüchtigkeit abschrecken zu lassen. Und wenn heute Menschen unter uns noch der kümmerlichsten Hilfeleistungen beraubt werden, wollen wir unsere Verantwortung wahrnehmen, damit diese Realität von den Behörden unseres Landes ernstgenommen wird.


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Die NEE in der Schweiz

Am 1. April 2004 traten die Bestimmungen in Kraft, mit denen die Asylbewerber, für deren Gesuch das Bundesamt für Flüchtlinge einen Nichteintretensentscheid (NEE) erlassen hat, von jeglicher Sozialhilfe ausgeschlossen werden.

Eine dramatische Situation

Ich habe an 3 überkantonalen Sitzungen mit sehr kompetenten und dynamischen Personen teilgenommen, die fest entschlossen sind, diesem ?Randständigen? unserer Zeit bis auf die Strasse und tief in den Winter zur Seite zu stehen.

Wir haben Informationen zu dieser dramatischen Situation, die jeden Kanton betrifft, ausgetauscht. Und, ehrlich, die darauffolgenden Nächte waren schwer für mich. Trotz meiner humanitären Erfahrungen mit Kriegssituationen, die mich sicher gestärkt haben, zittere ich angesichts der Unmenschlichkeit, die mir hier entgegenkommt.

In Solothurn habe ich Menschen gesehen, die nicht einmal in einer verlassenen Bauhütte Zuflucht und Erholung finden konnten. Und das, obschon der Kanton diese Baracke eigens renoviert hatte, um dort eine Anlaufstelle zu schaffen, und obschon es an Platz nicht mangelte.

Um beim Beispiel Solothurn zu bleiben: Die ?NEE? leben dort auf der Strasse und müssen selber für eine Schlafstelle sorgen. Oft versuchen sie, im Flüchtlingsheim Unterschlupf zu finden, werden aber für die Nacht weggescheucht. Sie finden sich auf der Strasse wieder, wo sie den harten Kontrollen der Polizei ausgesetzt sind. Und natürlich: keinerlei Anrecht auf Gesundheits- oder Körperpflege.

Die Nothilfe von 8 Franken pro Tag und Person für Nahrung, Körperpflege und Kleidung, sowie 13 Franken für Übernachtung entspricht in keiner Hinsicht den Mitteln, die nötig wären, um eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen, wie sie die Bundesverfassung garantiert.

Wie wenn dies nicht genug der Schrecken wäre, sind die Menschen afrikanischer Herkunft regelmässig verbalen und körperlichen Attacken rassistischer Gruppen ausgesetzt.

Natürlich wissen wir, dass es in jeder Volksgruppe Personen gibt, die sich nicht korrekt verhalten. Aber wenn wir den Drogenhandel alleine den Afrikanern in die Schuhe schieben, folgen wir dann der selben Logik und hängen die Pädophilie pauschal den Westlern an? Das ist doch zu bezweifeln.

Handeln für ein möglichst gutes Zusammenleben

Eines weiss ich: Ich will nicht warten ? und ich bin sicher: ihr auch nicht ?, bis Menschen unter unmenschlichen Lebensbedingungen zu leiden haben oder gar daran sterben, um aktiv zu werden und unseren Behörden zuzurufen, dass ich diese unwürdigen Bestimmungen nicht akzeptiere, die überdies bald auf alle abgewiesenen Asylbewerber ausgedehnt werden könnten.

Artikel 12 der schweizerischen Bundesverfassung fordert ja auch, dass jede Person in Not ein Recht auf Hilfe, Unterstützung und die erforderlichen Mittel für eine Existenz in menschlicher Würde hat.

Das ist unsere Kraft, unser Reichtum und unser Stolz. So fordern wir SchweizerInnen und andere MitgenossInnen unseres schönen Landes, dass dieses Land jeder Person Respekt schuldet, sowie das Recht, ein Dach über dem Kopf zu haben und sich anständig ernähren zu können.

Darum fangt schon heute an und lasst die Petitionen auf Solidarité sans frontières unterschreiben, damit der Respekt unter den Mitgliedern dieser Gesellschaft gewahrt bleibt und wir unser Zusammenleben bestmöglich gestalten können.


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Herausforderungen für die freikirchlichen Christen

 

Viele Freikirchen sind eher apolitisch. Politik und gesellschaftliches Engagement wird aus verschiedenen Gründen vernachlässigt:

 

 

  • Es herrscht die Idee vor, die Welt gehe sowieso bald zugrunde, warum also sich noch um Politik, Gesellschaft und Veränderungen kümmern? Schon immer glaubten die Christen, das Weltende sei nahe. Die zunehmende weltweite Verunsicherung durch die kulturellen Veränderungen verstärken natürlich die Ängste. Doch auch wenn das Weltende durch die Erfüllung verschiedener biblischer Prophetien näher gekommen ist, so haben wir keinen Grund, einfach anzunehmen, das Weltende stehe vor der Tür. Wir glauben, dass es uns nicht zusteht, den Zeitpunkt des Weltendes zu kennen oder ihn zu interpretieren (Mat. 24.36: «Von jenem Tag aber und jener Stunde weiss niemand, auch nicht die Engel in den Himmeln, auch nicht der Sohn, sondern der Vater allein.»). Es steht auch geschrieben, dass Christus sehr plötzlich wiederkommt. Solange das Weltende also nicht da ist, solange sind wir aufgefordert, Gottes Wort ernst zu nehmen und uns für unsere Nächsten einzusetzen, sei es in Politik oder Gesellschaft.
  • Gewisse Kirchen lehren auch, wir seien nicht von dieser Welt. Dies stimmt zwar, aber die Bibel lehrt uns auch, dass wir IN dieser Welt sind (Joh. 17,14-19). Und sie lehrt uns auch, dass wir unseren Nächsten Gutes tun sollen, ob sie nun Christen sind oder nicht (vgl. z.B. die Geschichte des barmherzigen Samariters).
  • Wir kümmern uns oft nur um das eigene Seelenheil und nicht um unseren biblischen Auftrag der Nächstenliebe. Natürlich ist die Beziehung zu Gott zentral in unserem Glaubensleben, aber die Bibel lehrt uns auch, dass ein Glaube, der keine Werke hervorbringt, tot ist (Jak. 2,17).
  • Das gesellschaftliche Engagement hat sich bisher oft auf Diakonie beschränkt. Diakonie ist gut, aber Diakonie alleine genügt nicht. Allzu oft ist Diakonie nur ein Pflästerchen, ohne aber die Ursachen zu beheben. Wir sollten ungerechte Strukturen ändern statt nur den Opfern dieser Strukturen zu helfen.
  • Das politische Engagement von Freikirchen hat sich bisher oft auf moralische Themen wie Abtreibung, Homosexalität etc. beschränkt. Die Bibel fordert uns aber auf, weiter zu gehen und das Wohl des Nächsten umfassend zu suchen. Gewisse kirchliche Kreise lehnen dies ab, indem sie Theorien des Wohlstandsevangeliums vorschieben. Demnach brauche man nur richtig zu glauben, und man werde materiell gesegnet. Möglicherweise sind hier noch calvinistische Prädestinationstheorien in den Köpfen, nach denen wir durch unseren Arbeitserfolg sehen, ob wir errettet sind oder nicht. Natürlich verspricht uns Gott Segen, aber die Idee, man brauche deshalb keine soziale Gerechtigkeit und keine Unterstützung der Schwachen, steht voll im Widerspruch zur biblischen Lehre. Schon im alten Testament klagen die Propheten über das Volk Israel, über die Bedrängung und das Elend der Armen und Schwachen wegen der Hartherzigkeit der Israeliten. In Matthäus 25 erklärt Jesus, wonach gerichtet werden wird: die Solidarität mit den Armen, Schwachen, Gefangenen usw. Nicht umsonst haben die Urchristen alles geteilt (Apg. 4,32).

 

Die Freikirchen stehen heute vor verschiedenen Herausforderungen

 

Über moralische Themen hinaus denken:

Das Engagement für moralische Themen ist gut, aber es genügt nicht. Ebenso haben wir den Auftrag, uns für Gerechtigkeit und für die Schwachen einzusetzen: « Schaffet Recht dem Geringen und der Waise, dem Elenden und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren » (Ps. 82,3.4) und « Öffne Deinen Mund für die Stummen, für den Rechtsanspruch aller Schwachen . » (Spr. 31,8.9)

 

Gerechte Strukturen statt nur Diakonie:

Aus dem oben Gesagten ist auch ersichtlich, dass es nicht genügt, in diakonischem Engagement Wunden zu pflegen, sondern dass auf politischer und gesetzlicher Ebene die Ursachen bekämpft werden müssen. Dies kann zum Beispiel heissen:

  • Mehr Teilen: Ist es normal, dass Leute mit vollem Arbeitseinsatz nicht von ihrem Lohn leben können?
  • Arbeit für Schwache und soziale Sicherheit: Ist es normal, dass Leute, die von keiner Firma engagiert werden, weil sie zu wenig Fähigkeiten haben oder psychisch/körperlich angeschlagen sind, in Armut leben müssen?
  • Chancengleichheit: Ist es normal, dass die Chancengleichheit in der Bildung durch Privatisierungen und Abbau von Stipendien für Kinder einkommensschwacher Eltern mehr und mehr zerstört wird und gewisse Kreise dann behaupten, jeder könne alles selber erreichen?
  • Macht: Ist es normal, dass Kreise, die viel Geld haben, über Abstimmungs- und Wahlwerbung, über Besitz von Medien und über Lobbying in Parlament und Kommissionen viel mehr Einfluss in der Politik und in der Gesetzgebung haben als die « Geringen und Elenden »?

 

Vorurteile hinterfragen:

  • ?Die Ausländer werden bevorzugt, und die Schweizer sind die ?Neger??: Ausländer haben im Durchschnitt ein viel tieferes Bildungsniveau, wodurch sie durch Arbeitslosigkeit und nachfolgende Fürsorgeabhängigkeit auch überdurchschnittlich getroffen werden. Das Vorurteil, die Ausländer nützen uns aus, ist schlicht nicht haltbar.
  • ?Die Ausländer sind krimineller als die Schweizer?: Insgesamt sind Ausländer zwar überdurchschnittlich an der Gesamtzahl der Straftaten beteiligt. Bei detaillierter Berechnung wird aber klar, dass dies nur deshalb der Fall ist, weil unter den Ausländern der Anteil von jungen Männern viel höher ist als unter den Schweizern. Kriminalität geht in allen Kulturen vor allem auf das Konto junger Männer, weshalb es so aussieht, als seien die Ausländer besonders kriminell. Wenn man aber die Alterskategorien und die Geschlechter einzeln vergleicht, sind die Ausländer nicht krimineller als die Schweizer!
  • ?Die Leistungsempfänger werden durch den Sozialstaat entmündigt?: Auch hier müssen wir genauer hinschauen, denn es ist nicht damit getan, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Die Meisten der Arbeitslosen und Fürsorgeabhängigen finden tatsächlich keine Arbeit, und es ist gar nicht anders möglich, als sie zu unterstützen und ihnen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Statt hier abzubauen, bräuchte es gar zusätzliche Bildungsunterstützung, um diese Menschen wieder zu integrieren.

Wir müssen also bereit werden, genauer hinzusehen und uns für die Menschen wirklich zu interessieren, bevor wir Urteile fällen. Es ist allzu leicht und angenehm, zu sagen, die Nächsten seien an ihrem Schicksal selber schuld, denn dies entlastet uns von unserer Verantwortung und vom Teilen?

 

Echte Unterstützung statt moralische Imperative:

Es genügt nicht, uns zum Beispiel gegen Abtreibung und Kriminalität, für Ehe und Familie, für Eigenverantwortung usw. auszusprechen. Wir müssen auch unseren Teil der Verantwortung übernehmen und diese Postulate überhaupt ermöglichen bzw. die betroffenen Leute dahingehend unterstützen:

  • Abtreibung: Wie setzen wir uns ein, dass Leute in finanziellen oder personellen Notlagen nicht abtreiben müssen? Gibt es flächendeckend finanzielle Beihilfen, psychologische Unterstützung und Kinderkrippen? Oder werden solche nötigen Schritte wieder von der Angst abgewürgt, dass gewisse Frauen dies missbrauchen könnten, um vaterlos Kinder aufzuziehen?
  • Kriminalität: Wie setzen wir uns ein, damit die Ursachen von Kriminalität (grosse soziale Differenzen, Dauerberieselung mit Werbung und gleichzeitiger Chancen- und Aussichtslosigkeit für gewisse Schichten) angegangen werden und nicht nur einfach die « Bösen » ins Gefängnis kommen (und dann wieder alles gut sein soll)?
  • Ehe und Familie: Neben aller Freude sind Kinder kostspielig und stürzen Familien in finanzielle Notlagen, vor allem dann, wenn nicht beide Partner arbeiten können. Wie setzen wir uns ein, damit die Löhne genügen, damit Familie überhaupt möglich wird? Es genügt nicht, die Steuern für Familien zu senken, vor allem dann, wenn es so gemacht wird, dass die einkommensschwachen Familien praktisch nichts davon haben, wie es das Parlament nun vorsieht (siehe Artikel dazu auf ChristNetOnline). Wie setzen wir uns ein, wenn die Arbeits- und Ladenöffnungszeiten völlig dereguliert werden und Familien dadurch auseinander gerissen werden?
  • Eigenverantwortung: Was tun wir dazu, um echte Chancengleichheit herzustellen und die Arbeitslosen und Fürsorgeabhängigen zu stärken?

 

Für die Schweiz, aber nicht auf Kosten der anderen Länder und Menschen:

Es ist ja schön, dass wir uns vornehmen, für unser Land zu beten und zu sorgen. Verfallen wir aber nicht der Annahme, dass alles, was für unser Land gut ist, auch vor Gott gut ist. Allzu oft haben wir die Tendenz, Gründe zu finden, dass allgemein gut ist, was für unser Land gut ist. Dies gilt es zu hinterfragen. So müssen wir uns ehrlich Gedanken machen z.B. über das Bankengeheimnis, Waffenexporte und die Tendenz, über Ungerechtigkeiten zu schweigen, damit Wirtschaftsbeziehungen nicht gefährdet werden.

 

Eigeninteressen:

Wir haben die natürliche Tendenz, Theorien, die für uns angenehm sind, eher zu glauben als unangenehme. Wir müssen uns deshalb bewusst werden, welche Eigeninteressen hinter unseren Ansichten stecken könnten. Sind wir bereit, auch gegen unsere eigenen Interessen zu stimmen? Und gegen die Vorteile und Interessen unserer Gemeinde, unseres Kantons oder unseres Landes gegenüber dem Nachbarn (z.B. im « Kampf um reiche Steuerzahler »)?

Achten wir beim Wählen und Abstimmen auch darauf, welche Interessen (meist finanzieller Art) hinter welchen Positionen stehen.

 

Alles dem Mammon?

Scott Mac Leods Prophetie « Missionare der Barmherzigkeit » (siehe Artikel auf ChristNetOnline) trifft unseres Erachtens ins Schwarze. Wir opfern persönlich und politisch den Interessen des Mammon zu viel, ohne es zu merken: unsere Werte, unsere Familien, unsere Sonntage, unsere Liebe und Solidarität. Geben wir der Macht des Mammons noch mehr Raum? Wir sind aufgefordert, uns entscheiden, wem wir dienen wollen, dem Mammon oder Gott. Wir haben die Chance, als Volk und Kirche von Söldnern des Mammons zu Söldnern der Barmherzigkeit zu werden.

 

Wir stehen vor grossen Herausforderungen. Aber Gott hilft uns dabei.


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Eigentlich zahlt niemand gerne Steuern. Aus diesem Grund sind Steuersenkungen natürlich oft auf den ersten Blick wünschenswert. Welche Theorien verwenden (gewisse) Ökonomen, um sinkende Steuern auch ökonomisch zu rechtfertigen? Welche ökonomische Folgen hatten Steuersenkungen in der Vergangenheit? Welche Schlussfolgerungen können daraus gezogen werden? Ich beziehe mich dabei auf den Artikel „The Tax-Cut Con“ von Paul Krugman, einer der weltweit führenden Ökonomen (http://www.pkarchive.org/economy/TaxCutCon.html).

 

Steuersenkungen in der USA

Wir können unsere Lehren aus der Situation in der USA ziehen. Dort herrscht seit ca. 25 Jahren geradezu ein „Kreuzzug gegen Steuern“. Krugman redet von „Fanatikern“, welche sich gegen Steuern einsetzen und immer mehr an Einfluss gewinnen. Er liefert dazu ein Beispiel: ein Krieg zu führen ist teuer und deswegen praktisch ausnahmslos mit Steuererhöhungen verbunden. Im Krieg gegen der Irak 2003 passiert aber das Gegenteil: fast gleichzeitig wurde das Steuersenkungspaket von Präsident Bush verabschiedet. Dazu haben die Republikaner das Postulat „tiefere Steuern“ als eine ihre Hauptprioritäten festgelegt, obwohl das Budgetdefizit innerhalb ein paar Jahren massiv angestiegen ist und obwohl die Amerikaner international gesehen schon jetzt relativ wenig Steuern bezahlen. Wie ist es dazu gekommen? Grundsätzlich unterscheidet man zwischen zwei Hauptgruppierungen, welche sich in den letzten 25 Jahren in der US-Politikszene behauptet haben:

 

(1) Supply Siders

Diese Gruppe geht davon aus, dass Steuern gesenkt werden können ohne die Staatsausgaben drastisch kürzen zu müssen. Was sich wie ein Märchen anhört, lässt sich theoretisch ziemlich einfach darstellen. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die von praktisch allen Ökonomen unterstützten Aussage, dass höhere Steuern Arbeits- und Sparanreize reduzieren. Der Anreiz, einen Franken mehr zu verdienen ist tiefer wenn 80% davon an den Staat abgetragen werden muss als wenn 20% bezahlt werden muss. Somit können Steuersenkungen die Wirtschaft ankurbeln.

 

So weit, so gut. Aber heisst das auch, dass die Staatsausgaben kaum tangiert werden von den Steuersenkungen? Laut dieser Gruppierung eben schon. Sie nehmen die Ausführungen von Arthur Laffer als Leitbild: er geht davon aus, dass eine Steuersenkung die Wirtschaft so stark ankurbeln kann, dass die Steuerbasis stärker steigt als der Steuersatz sinkt, was schliesslich die Steuerneinnahmen paradoxerweise ansteigen lassen!

 

Dies lässt sich grafisch folgendermassen zeigen (die sogenannte „Laffer Curve“): Liegt der existierende Steuersatz rechts von x%, so führen tiefere Steuersätzen zu höheren Steuereinnahmen (und somit auch höheren Staatsausgaben, wenn das Budget ausgeglichen ist). Liegt der Steuersatz jedoch links von x%, so führen tiefere Steuern zu tieferen Steuereinnahmen, weil die Steuerbasis nicht genug stark ansteigt, um den tieferen Steuersatz zu kompensieren. Somit ist klar: hohe Steuersätze müssen runter wenn sie rechts von x% liegen. Es liegt auf der Hand, dass in einem System der Steuerprogression die Reichen die hohen Steuersätze bezahlen und somit am meisten von dieser Theorie profitieren würden?.

 

(2) „Die Bestie verhungern lassen!“

Die zweite Gruppierung, welche sich für Steuersenkungen erfolgreich eingesetzt haben, heisst jedoch die tieferen Steuereinnahmen geradezu willkommen. Dies ist die Gruppierung, welche aus den Staat eine möglichst kleine und machtlose Gebilde machen möchte. Diese Gruppierung unterscheidet sich sehr stark von der ersten Gruppierung. Währenddem die Supply Siders von einer Win-Win Situation ausgehen (tiefere Steuern = höhere Ausgaben) verwirft diese zweite Gruppe die Theorie von Arthur Laffer: tiefere Steuern heissen tiefere Steuereinnahmen und somit auch Staatsausgaben, aber dies ist geradezu notwendig und willkommen, um die „Bestie“ Staat verhungern und ausrotten zu lassen. „Less is better than more“ lautet ihr Motto gegenüber den Staat.

 

Unabhängig vom politischen Couleur kann schliesslich aber immer argumentiert werden, dass der Zweck den Mittel rechtfertigt – sprich, dass mit der Zeit alle von einer Steuersenkung profitieren, weil es zu einem Wirtschaftswachstum kommt, den allen zugute kommt. Mit den Erfahrungen der letzten 25 Jahren in der USA können wir dies überprüfen.

 

Erfahrungen aus den letzten 25 Jahren

 

1981: Präsident Reagan senkt die Steuern

Reagan war sehr angetan von den Ideen von Arthur Laffer, der übrigens während beiden Reagan Amtszeiten ein Mitglied der Economic Policy Advisory Board war. (Margaret Thatcher hat übrigens die UK Steuern ebenfalls unter Einfluss der Laffer Curve gesenkt). Zwischen 1979 und 1983 fiel der durchschnittliche Bundessteuersatz auf die reichsten 1% der US-Familien beispielsweise von 37% auf 27.7%. Wie sah dann das Wirtschaftswachstum aus? Zwischen 1979 und 1982 gab es eine Rezession, währenddem die Wirtschaft zwischen 1982 und 1989 durchschnittlich um jährlich 4.2% wuchs. Dies sieht auf den ersten Blick tatsächlich gut aus, aber Skeptiker weisen darauf hin, dies sei einfach ein typischer Konjunkturzyklus gewesen – eine Periode vom hohen Wachstum folgt ja oft auf eine Rezession. Die Steuersenkung habe somit nichts dazu beigetragen, die Wirtschaft stärker anwachsen zu lassen, als sie ohnehin durch einen Konjunkturzyklus angewachsen wäre (wohl aber schneller aus der Rezession heraus).

 

Wie sieht es mit der Theorie von Arthur Laffer aus? Stiegen die Steuereinnahmen auch an? Tatsächlich sanken die Steuereinnahmen, was aber nicht heisst, dass die Theorie nicht stimmen muss. Da die US Steuern im internationalen Vergleich eher tief sind, befand sich die Steuerbelastung der US-Volkswirtschaft als Ganzes sehr wahrscheinlich links (und nicht rechts) von x% auf der Laffer Curve, sodass eine Steuersenkung auch tiefere Steuereinnahmen bedeutet.

 

Wie oben beschrieben, gibt es aber auch die Gruppierung, welche sich auf sinkenden Steuereinnahmen geradezu freuen, weil damit die Staatsausgaben schrumpfen. Tatsächlich war aber trotz tieferen Steuern der Anteil der Staatsausgaben als Prozent des Bruttoinlandprodukts Ende der 80er leicht höher noch als Ende der 70er Jahre: Von einem Ausrotten und Verhungern des Staates kann also keine Rede sein!

 

ab 1989: Steuererhöhungen von Präsident Bush Senior und Präsident Clinton

Als Folge der tieferen Steuereinnahmen und leicht höheren Ausgaben resultierte Ende der 80er Jahren verheerende Budgetdefizite, welche auch George Bush Sr trotz seinen „Read My Lips“ Beteuerungen nicht ignorieren konnte; die Steuern mussten wieder rauf. Zwischen 1989 und 1995 stieg der durchschnittlicher Bundessteuersatz auf die reichsten 1% der Familien beispielsweise von 28.9% auf 36.1%. Das Wirtschaftswachstum stieg an, die Arbeitslosigkeit fiel auf dem tiefsten Niveau seit Jahrzehnten ohne inflationär zu wirken, das Produktivitätswachstum beschleunigte sich und aus einem Budgetdefizit wurde ein Budgetüberschuss. Obwohl die wenigsten Ökonomen davon ausgehen, dass die Wirtschaftspolitik von Clinton hauptsächlich für diese beeindruckende Bilanz verantwortlich war (schon eher der Internetboom), so lässt sich doch sagen, dass höhere Steuern nicht das gebracht haben, was vielen Steuergegnern befürchtet haben, nämlich einen ökonomischen Desaster.

 

ab 2001: Präsident Bush Jr. senkt die Steuern

Seit 2001 wurden die US-Steuern wieder konsequent gesenkt. Es ist zu früh, etwas über die mittelfristige Wachstumseffekte der USA zu sagen, obwohl die kurzfristigen Effekte doch sehr positiv sind (was bei dieser Mischung aus expansiven Fiskal- und Geldpolitik nicht weiter verwunderlich ist). Sicher ist aber, dass diese Steuersenkungen den Reichen zugute kommen. Natürlich wurden die Senkungen so nicht „verkauft“, aber Schätzungen ergeben, dass 42% der Nutzen, sprich der Steuerersparnisse, aus der Steuersenkungsrunde 2001 (Schwerpunkt Reduktion der obersten Steuersätze und Abschaffung der Grundbesitzsteuer) den reichsten 1% der US Bevölkerung zugute kommen. Die Steuersenkungen 2003 (Schwergewicht auf die Reduktion des Steuersatzes auf Dividendeneinkommen) sehen auf den ersten Blick leicht moderater aus: Die reichsten 1% der US Bevölkerung erhalten „lediglich“ 29.1% der Steuerersparnisse. Wenn das nicht schon schlimm genug wäre, zeigt sich bei noch näherem Hinschauen, dass die reichsten 0.13% der Bevölkerung ganze 17.3% der Vorteile bekommen, was mehr ist als die unteren 70% der US-Familien!

 

Bei diesen Zahlen fragt man sich, wie diese Steuersenkungen überhaupt akzeptiert worden sind. Natürlich liegt es am Verkauf und Vermarkten: Diese Steuersenkungsrunde 2003 wurde unter dem Motto „92 Millionen Amerikaner werden eine durchschnittlichen Steuersenkung von $1’083 erhalten“ verkauft, was sich wunderbar anhört, bis man sich die Zahlen ein bisschen genauer anschaut. Obwohl die Durchschnittssenkung für 92 Millionen Amerikaner sehr wohl um die $1’100 liegt, wurden die 50 Millionen Steuerzahlern, die keine Steuersenkungen erhalten, nicht in die Berechnung miteinbezogen. Und man muss keine Genie sein, um zu erahnen, dass die Mehrheit der 92 Millionen deutlich weniger als $1’083 erhalten werden, da das Durchschnitt durch die sehr grossen Steuersenkungen für die sehr wenig Superreichen verzerrt wird. Wie so oft liegt deutlich mehr dahinter, als zuerst vermutet wird?.

 

Schlussfolgerungen

Wir haben gesehen, dass Steuersenkungen in den USA in den letzten 25 Jahre keine ökonomische Wunder (zumindest mittelfristig) vollbrachten und dass der Nutzen nicht gleichverteilt war. Zudem waren die Steuersenkungen in den USA nicht mit steigenden Steuereinnahmen verbunden, sprich es gab kein „free lunch“ (eigentlich schade, denn wer hätte schon was gegen tiefere Steuern und höhere Staatsausgaben?)

 

Es muss darauf hingewiesen werden, dass Steuersenkungen per se als wirtschaftspolitische Massnahme nicht schlecht sind. In gewissen Ländern und in gewissen Ausprägungen können Steuersenkungen sehr viel Gutes und Wertvolles leisten. Und dass ein Land dank tieferen Steuern sich schneller aus einer Rezession hieven kann, ist offensichtlich.

 

Das Problem ist eher dort zu finden, wo die Steuerersparnisse v.a. den Reichen zugute kommt und wo die Steuern ohnehin tief sind. In der Realität führen Steuersenkungen in Ländern mit relativ tiefen Steuern, wie auch die Schweiz, zwar kurzfristig zu einem Wirtschaftswachstum aber langfristig entweder zu tieferen Staatsausgaben oder wiederum höheren Steuern, damit das Budgetdefizit wieder in Lot gebracht werden kann. Je nach politischen Machtverhältnissen in einem Land werden entweder die Staatsausgaben daraufhin drastisch gekürzt oder die Steuern wieder erhöht.

 

Hinter Steuersenkungsinitiativen in der Schweiz können also ganz unterschiedliche Motive stehen, z.B. diejenigen, die mit aller Ehrlichkeit daran glauben, dass wir unseren Steuereinnahmen erhöhen können wenn wir unsere Steuern senken (was zweifelhaft erscheint, da wir im internationalen Vergleich schon relativ tiefe Steuern haben, sprich sehr wahrscheinlich links von x% auf der Laffer Curve liegen) oder auch diejenigen, die eher Ambitionen haben, die Mutter Staat zumindest teilweise verhungern zu lassen.

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GENF, 27.2.2004 : ChristNet ist ein Forum von evangelischen ChristInnen, das sich mit sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, kulturellen und Entwicklungsfragen kritisch auseinandersetzt. Wir wollen eine Politik der Nächstenliebe entwickeln, die von den Bedürfnissen der Schwächsten ausgeht, und durch Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit die Debatte zu gesellschaftlichen Themen in den Schweizer Freikirchen anregen.

 

Viele Christen fühlen sich dem Nahost-Konflikt gegenüber ohnmächtig. Sie glauben an die biblischen Prophetien, wonach Israel in diesem Land wiedererstehen muss, stossen damit aber bei nichtchristlichen Freunden auf Unverständnis und Ablehnung. Zudem geraten sie in einen inneren Zwiespalt, wenn sie an das Leiden der beiden Völker denken, das sich aus der aktuellen Situation ergibt. ChristNet ist überzeugt davon, dass die göttliche Antwort auf diesen Konflikt Versöhnung heisst, die sich dadurch äussert, dass beide Völker sich dem Leiden der ?Anderen? stellen.

 

Wenn Gottes Propheten von Gericht und Krieg sprechen, so ist das meist ein Aufruf zu Busse und Umkehr (z.B. bei Jona1 ). Jesaja spricht aber auch vom kommenden Frieden zwischen Irak, Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten, den palästinensischen Gebieten und Israel.2  ChristNet ruft darum zum Gebet auf, nicht nur für Israel und die Juden, sondern auch für die Araber (Moslems und Christen), denn das Schicksal dieser zwei Völker ist durch die Geschichte unwiederbringlich miteinander verkettet.

 

In freikirchlichen Kreisen konnte in den letzten Jahren eine Sensibilisierung zum Thema Israel festgestellt werden. In vielen Gemeinden werden die jüdischen Wurzeln des Christentums und die Liebe zum Volk Israel neu betont. Damit wird die evangelikale Theologie gewiss bereichert und vertieft.

 

Leider geht diese Entwicklung oft mit einer bedingungslosen Unterstützung des ?jüdischen Staates? Israel und seiner Politik einher. Geistliche Erkenntnisse (Prophetien) werden schematisch in politische Schlussfolgerungen umgemünzt, ohne dabei die Lage der Menschen vor Ort zu berücksichtigen. Gleichzeitig lassen sich andere Christen, die für die katastrophale Lage in den Palästinensergebieten sensibel sind, zu anti-israelischen Aussagen hinreissen, die schnell einen anti-jüdischen Ton erhalten können.

 

Durch solche Parteinahmen wird der Nahost-Konflikt in unsere Gemeinden hineingetragen. ChristNet ist davon überzeugt, dass es nicht darum gehen kann, für oder gegen ein Volk Partei zu ergreifen.3  Es geht vielmehr darum, Gottes Willen zu suchen, der sich in Jesus offenbart hat: aus Liebe zu allen Menschen Frieden zu stiften und damit zu Busse und Gerechtigkeit beizutragen.4

 

Um solche Parteinahmen zu vermeiden, ist es wichtig, sich der Situation und dem Leiden der beiden Völker zu stellen. Die Juden leben mit der traumatischen Erfahrung einer Jahrtausende alten Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung, des Holocaust und heute der Verunsicherung durch den Terror. Die Araber wiederum erleben die Gründung des Staates Israel als Nakba (arab.: Katastrophe) da er für sie Entwurzelung, Militärterror und Verlust der Existenzgrundlage bedeutet.

 

Besonders exponiert sind dabei die arabischen Christen, die als Minderheit oft zwischen Hammer und Amboss geraten, indem sie von den eigenen Leuten als Kollaborateure, von den Juden als Feinde angesehen und von den westlichen Geschwistern nur wenig beachtet werden. Ähnliches gilt für die messianischen Juden, die von ihren Volksgenossen misstrauisch als ?verkappte Christen? betrachtet werden.

 

Die Haltung der Parteilosigkeit findet ihren konkreten Ausdruck in zahlreichen Versöhnungsarbeiten, von denen eine an der ChristNetKonferenz vorgestellt werden soll. So wollen wir Verständnis für die Lage beider Völker schaffen.

 

In einer ganzheitlichen Sicht ist Versöhnung nicht nur eine Frage des persönlichen Engagements, sondern äussert sich auch in politischen Bestrebungen. Eine friedensfördernde und versöhnliche Politik kann unter Umständen den Rahmen schaffen, in dem ein Näherkommen der zwei Völker möglich wird. Gott will im Nahen Osten Frieden schaffen. Es gibt keinen Grund, dass wir uns nicht auf allen Ebenen um diesen Frieden bemühen. Darum kommt an der ChristNetKonferenz auch ein Spezialist für Friedensbestrebungen in Nahost zu Wort.

 

ChristNet ist sich bewusst, dass dies kein einfacher Ansatz ist, heisst es doch, von vertrauten Denkschemen wegzukommen, um sich dem Leiden der Menschen zu stellen, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Glaubens. Es bedeutet, ein Stück des Leidens mitzutragen, das Gott im Angesicht dieses Konflikts empfinden muss, und Hoffnung zu schöpfen, dass durch Ihn Frieden im Nahen Osten tatsächlich möglich ist. Das kann unser bescheidener Beitrag zum Frieden im Nahen Osten sein.



1. Jonas Predigt ist eine reine Gerichtsankündigung ohne offensichtliche Möglichkeit der Busse: ?Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört!? (3,4). Aber Gott lässt sich dennoch durch die Busse der Bevölkerung bewegen: ?Und Gott sah ihre Taten, daß sie von ihrem bösen Weg umkehrten. Und Gott ließ sich das Unheil gereuen, das er ihnen zu tun angesagt hatte, und er tat es nicht.? (3,10)

2.  Jesaja 19,23-25: ?An jenem Tag wird es eine Straße von Ägypten nach Assur geben. Assur wird nach Ägypten und die Ägypter nach Assur kommen, und die Ägypter werden mit Assur [dem HERRN] dienen. An jenem Tag wird Israel der Dritte sein mit Ägypten und mit Assur, ein Segen inmitten der Erde. Denn der HERR der Heerscharen segnet es und spricht: Gesegnet sei Ägypten, mein Volk, und Assur, meiner Hände Werk, und Israel, mein Erbteil!?

3. vgl. Josua 5,13-14: ?Und es geschah, als Josua bei Jericho war, da erhob er seine Augen und sah: und siehe, ein Mann stand ihm gegenüber, und sein Schwert war gezückt in seiner Hand. Josua ging auf ihn zu und sagte zu ihm: Gehörst du zu uns oder zu unseren Feinden? Da erwiderte er: Nein, sondern ich bin der Oberste des Heeres des HERRN; [gerade] jetzt bin ich gekommen.?

4. vgl. Jakobus 3,17-18: ?Die Weisheit von oben aber ist aufs erste rein, sodann friedsam, gütig, folgsam, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ungeheuchelt. Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird in Frieden denen gesät, die Frieden stiften.?

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Am 16. März hat der Nationalrat eine weitere Scheibe des Sonntags abgeschnitten.

Wenn der Ständerat im Juni auch zustimmt, so sind Sonntags-Einkaufszentren an den Bahnhöfen bald Realität. Beten wir für die Ständeräte, dass sie sich dieser Gesetzesänderung widersetzen!

 

Der Sonntag, ein Geschenk Gottes

Der Sonntag ist ein Geschenk Gottes an uns Menschen, zunächst in Form des Sabbat, im christlichen Gebrauch als Sonntag. Bereits in den zehn Geboten wird uns nahegelegt, den Sabbat zu heiligen: ?Denke an den Sabbattag, um ihn heilig zu halten. Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun, aber der siebte Tag ist Sabbat für den Herrn, deinen Gott. Du sollst an ihm keinerlei Arbeit tun, du und dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd und dein Vieh und der Fremde bei dir, der innerhalb deiner Tore wohnt.?(2. Mose 20, 8-10).

 

Wie die anderen Gebote ist das Gebot des Sabbats nicht einfach eine mühsame Regel, sondern es ist für uns lebenserhaltend. Dies zeigt sich gerade heute: Arbeitsstress, Aktivismus und Konsumdruck nehmen vor allem in den Industriestaaten immer mehr zu. Wenn wir uns nicht aktiv Zeit nehmen, unsere Beziehung zu Gott und zu unseren Bekannten und Verwandten zu pflegen, so zerbrechen diese Beziehungen und damit auch die Gesellschaft. Die Vereinsamung und ihre Folgen hat vor allem in den Grosstädten in den letzten Jahrzehnten immer mehr zugenommen.

 

Der Sonntag nimmt deshalb eine zentrale Stellung ein: dies ist der einzige Tag, wo die Mehrheit der Bevölkerung gleichzeitig freie Zeit zur Verfügung hat und wo Kirchgang, Besuche und Familienleben möglich sind. Ohne diesen gemeinsam planbaren Tag sind Familien und Vereine, und damit der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr. Dies umso mehr, als sich die Berufsarbeit (vor allem in der Industrie und den Dienstleistungen) unter der Woche immer öfter auch bis in den Abend hinein erstreckt. Die StimmbürgerInnen haben deshalb 1996 eine Revision des Arbeitsgesetzes mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt, da die Vorlage sechs Sonntage im Jahr bewilligungsfrei für Sonntagsarbeit freigeben wollte. Die SchweizerInnen halten also am grundsätzlichen Arbeitsverbot am Sonntag fest.

 

Der Sonntag, politisch ausgehöhlt

Das Ringen um den Sonntag hat sich in den letzten zwei Jahren intensiviert. Das Seco (Staatssekretariat für Wirtschaft) und viele Kantone weigern sich seit zwei Jahren, Bundesgerichtsentscheide zur Schliessung von Geschäften am Sonntag umzusetzen.

 

Gleichzeitig schauen die Behörden zu, dass Tankstellenshops den Sonntag zum Einkaufstag machen. Und nun hat die Wirtschafts- und Abgabenkommission im Eilverfahren einen Antrag auf Änderung des Arbeitsgesetzes ans Parlament gerichtet, damit Läden an Bahnhöfen nicht nur für den Reisebedarf, sondern auch generell am Sonntag geöffnet werden können. Die Bahnhöfe sollen zu Sonntags-Einkaufszentren werden! Am 16. März wird der Nationalrat darüber beraten. Und die Konkurrenz wird darauf hin ?gleich lange Spiesse? beanspruchen.

 

Doch offene Läden sind der sichtbarste Ausdruck, dass der Sonntag ein Tag wie jeder Andere geworden ist. Es wird normal, am Sonntag auch zu arbeiten. Viele andere Arbeitsbereiche (Frisch-Produktion Lager-Arbeiten, Transport und schliesslich Call Centers) werden zudem in direkter Folge der Sonntags-Öffnung nachziehen.

 

Der Sonntag, unsere Verantwortung

Es ist sicher richtig, dass wir notwendige Dienste wie Polizei, Krankenpflege und öffentliche Verkehrsmittel auch am Sonntag aufrechterhalten. Und Dienstleistungen, die der Beziehungspflege und der Erholung dienen, sind bis zu einem gewissen Grad auch zu rechtfertigen. Doch wo ist die Grenze? Müssen wir immer alles sofort einkaufen können? Können wir nicht bis am Montag warten, wenn mal ein Computer streikt? Als Kunden bestimmen wir, wie viel Andere am Sonntag arbeiten müssen.

 

Viele argumentieren, dass mit der Öffnung an Bahnhöfen Arbeitsplätze geschaffen werden können. Aber wenn wir genauer hinsehen, handelt es sich nur um die Verschiebung von Einkäufen aus der Woche, also einzig um eine Verlagerung. Und sind wir wirklich gezwungen, den Sonntag zu opfern, damit wir ein Auskommen für alle schaffen können?


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Referat von Roland Hardmeier an der ChristNetKonferenz vom 1. Februar 2003, Bern.

EINLEITUNG

Früher dachte ich, dass das Evangelium von Jesus Christus mit der Tagesordnung der Welt nicht viel zu tun hat. Ich wuchs in einem konservativen christlichen Umfeld auf. Der Jesus, den ich kennenlernte, war ein individueller Erlöser aber niemals ein politischer Mensch! Der Gedanke der Weltveränderung schien mir ein Verrat des Evangeliums zu sein. Glaube hatte für mich nichts mit Weltzugewandheit zu tun. Glaube war für mich eine Flucht aus der Gegenwart. Wäre ich damals zu einer Konferenz mit dem Thema ?Jesus in der Politik?? eingeladen worden, hätte ich gesagt: ?Das ist irrelevant, es interessiert mich nicht!? Heute denke ich anders. Ich bin der Überzeugung, dass das Leben und die Lehre von Jesus Christus eine hohe Relevanz für die sozialethischen Herausforderungen unserer Zeit haben.

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte nach dem 11. September 2001: ?Wir wissen, dass die Anschläge von New York und Washington nichts, aber auch gar nichts mit Religion zu tun haben?. Der katholische Theologe Hans Küng dagegen sagt: ?Man braucht… nicht religiös zu sein, um Religion… ernst zu nehmen. Eine Zeitanalyse, welche die religiöse Dimension ausklammert… ist defizitär!? 1

Man kann ja bekanntlich auf beiden Seiten des Pferdes herunterfallen. Eine Zeitanalyse, welche die religiöse Dimension ausklammert – wie Schröder das tut – ist defizitär. Umgekehrt gilt: Glaube, der die politische Dimension ausklammert ist ebenso defizitär. Glaube hat eine politische Dimension, und Politik hat eine religiöse Dimension.

Der amerikanische evangelikale Christ und Friedensaktivist Jim Wallis hat gesagt, dass die alten politischen Kategorien, die wir kennen, so gut wie unbrauchbar geworden sind. Was er von der Politik in seinem Land sagt, trifft auch auf die politische Szene in unserem Land zu. Wallis sagt:

?Der links-progressive Ansatz ist gescheitert, weil er unfähig ist, jene ethischen Werte zu formulieren…, die jede… Bewegung speisen müssten, wenn sie tiefgreifende soziale Veränderung will. Der Linken fehlt die notwendige Zusammenschau von persönlicher Verantwortung und gesellschaftlicher Veränderung.?

?Der Konservatismus hingegen leugnet nach wie vor das Faktum struktureller Ungerechtigkeit und sozialer Unterdrückung. Wenn man… die Rückkehr zu Familienwerten predigt und gleichzeitig die Augen verschliesst vor den verheerenden Auswirkungen von Armut, Rassismus und Sexismus… schiebt man… die Schuld auf die Opfer.? 2

Nachdem Wallis mit den Linken und den Rechten ins Gericht gegangen ist, folgert er:

?Beide ideologischen Ansätze sind ausserstande, mit dem Ausmass und der Vielschichtigkeit der sozialen Krise umzugehen, mit der wir konfrontiert sind.?3

Was wir brauchen ist ein Brückenschlag zwischen links und rechts – ein Brückenschlag, der die Stärken beider Seiten vereinigt und die Schwächen überwindet. Wir brauchen geistliche Werte in der Politik – geistliche Werte, welche uns die moralische Kraft geben, das Gemeinwohl zum Fokus der Politik zu machen. Ich glaube, dass das Evangelium von Jesus Christus diesen Brückenschlag ermöglicht, sofern es richtig verstanden und radikal gelebt wird.

I. DIE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE SITUATION ZUR ZEIT JESU

Als Jesus öffentlich aufzutreten begann, befand sich das jüdische Volk in einem Zustand der Zerrissenheit:

Politisch war das Land in drei Lager gespalten. Die erste Kraft im Land war Rom. Die Römer waren den meisten Juden verhasst. Die zweite Kraft war die Königsfamilie des Herodes. Rom liess den herodianischen Herrschern weitgehend freie Hand. Diese nutzten ihren Spielraum aus und taten sich durch Ausbeutung und Willkür hervor. Die dritte Kraft konzentrierte sich in den hohepriesterlichen Familien. Das Nervenzentrum ihrer Macht war der Tempel.

Wirtschaftlich tat sich eine Kluft zwischen Arm und Reich auf. Die hohepriesterlichen Familien und deren Günstlinge gehörten zur reichen Oberschicht. Der überwiegende Teil der Bevölkerung gehörte bildete die arme Mittelschicht. Aus ihr kam Jesus und wahrscheinlich der grösste Teil seiner Nachfolger. Zur untersten Schicht gehörten Bettler, Aussätzige und Herumtreiber. Ihnen mangelte es am Lebensnotwendigen.

Diese Unglückssituation provozierte die unterschiedlichsten Reaktionen:

·        REVOLUTION. Die Zeloten wählten den Weg der Revolution. Die Römer und alle, die mit ihnen kollaborierten waren den Zeloten zutiefst verhasst. Sie waren die ?Befreiungstheologen? ihrer Zeit.

·        TEILVERWEIGERUNG. Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren Teilverweigerer. Sie wählten den Weg des Kompromisses. Ihr Versuch, umfassende Veränderung durch strikte Religionsausübung herbeizuführen artete in fromme Haarspalterei aus.

·        TOTALVERWEIGERUNG. Die Essener traten als Totalverweigerer den Weg in die Wüste an. Sie lebten in einem geistlichen Ghetto. Sie weigerten sich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

·        ANPASSUNG. Die Sadduzäer reagierten mit Anpassung an das System. Sie rekrutierten sich aus der Priesteraristokratie und entpuppten sich als Opportunisten. Sie waren auf Machterhaltung aus und vertraten ein gemässigt progressives Weltbild.

·        ALTERNATIVE. Es gab Juden, die den aufreibenden Mittelweg zwischen Verweigerung und Anpassung gingen, ohne ihren Glauben zu komprimitieren. Der kleinere Teil von ihnen diente Gott und der Gesellschaft im Zentrum der Macht. Der grössere Teil führte ein unauffälliges Leben.

Diese Skizze zeigt, dass es zwischen der gesellschaftspolitischen Situation damals und unserer heutigen durchaus Parallelen gibt. Wie heute gab es damals eine Kluft zwischen den Armen und den Reichen, den Mächtigen und den Schwachen und den Gewaltbereiten und Friedfertigen. Die Parallelen zwischen damals und heute erlauben es uns, Linien von der Vergangenheit in die Gegenwart zu ziehen.

II. DAS RADIKALE UND WELTVERÄNDERNDE HANDELN JESU

Es gibt Leute die der Meinung sind, dass Jesus kein politischer Mensch war. Doch diese Behauptung hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Wir müssen die besondere Situation verstehen, in der Jesus sich befand. Er lebte in einer römischen Provinz, die Teil einer totalitären Diktatur war. Jesus hatte das römische Bürgerrecht nicht und damit keine politischen Rechte. Die politischen Möglichkeiten, die sich Jesus boten, waren äusserst beschränkt.

Die Botschaft Jesu war nicht vorrangig politischer Natur. Der Kern seiner Lehre war das Kommen des Reiches Gottes. Jesus rief die Menschen in seine Nachfolge und forderte sie auf, Gottes Reich über alles andere zu stellen. Die Botschaft Jesu war so radikal, dass sie unweigerlich politisch wurde. Jesus war radikal, weltverändernd und damit unweigerlich ein politischer Mensch. Ich gebe Ronald Sider recht, der gesagt hat:

?Wenn man sagt, dass Jesu messianische Sendung an die jüdische Nation keine ?politische? gewesen wäre, heisst das, das ganze Evangelium vom Reich Gottes zu vergeistigen und damit misszuverstehen.? 4

Wie hat Jesus auf die Unglückssituation des jüdischen Volkes reagiert? Ich möchte die Antwort auf diese Frage in Stichworten und einem je entsprechenden Bibeltext geben.

1. Gewaltfreiheit (Matthäus 16,21-23[^i] )

In dieser Begebenheit widerspiegelt sich die Tatsache, dass der zelotische Weg ein reale Versuchung für Jesus darstellte.5 Jesus wirkte zweifellos anziehend auf die Zeloten. Aus den Evangelien wissen wir, dass zumindest einer seiner engeren Jünger ein Zelot war. Von seiner Versuchung am Anfang seines öffentlichen Auftretens bis zu seinem inneren Ringen vor seiner Verhaftung kämpfte Jesus mit der zelotischen Option, aber er gab ihr nie nach. Er erkannte sie als satanisch. Jesus vernahm in den gutgemeinten Worten von Petrus die Stimme des Versuchers und wies ihn deshalb schroff zurecht: ?Weg mit dir, Satan!?

Jesus hätte zweifellos gegen die Römer mobil machen können. Die Zeloten waren bereit, die Menschen wären ihm gefolgt. Die Versuchung, Macht ohne Dienst und ohne Leiden zu erlangen war für Jesus real. Aber Jesus ging den Weg ans Kreuz. Er wusste, dass dies der Weg des Vaters ist. Er wusste auch, dass der bewaffnete Kampf gegen Rom in der Katastrophe geendet hätte. Tatsächlich tat er dies im Jahre 70 n.Chr., nachdem die Zeloten den Aufstand gegen Rom provoziert hatten und die römischen Legionen Jerusalem zerstörten. Der Kampf hätte keine grundlegende Änderung der Situation gebracht. Das eigentliche Hindernis für die Herbeiführung einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens lag – und liegt immer noch – im Menschen selber. Die Mission Christi war es, durch seine Tat am Kreuz die Menschen mit Gott zu versöhnen und so Veränderung von innen her zu bewirken. Wie will jemand ein Friedenstifter sein, wenn er mit Gott und dem Nächsten keinen Frieden hat?

2. Solidarität (Lukas 4,16-19[^ii] )

In diesem sogenannten ?Nazareth-Manifest? definiert Jesus seine Aufgabe: Er wusste sich zu den Armen gesandt. Mit den Armen sind im Neuen Testament zwei Personengruppen gemeint: Zum einen diejenigen, die wegen der Benachteiligung durch das herrschende System oder wegen Katastrophen verarmt waren. Zum andern die, welche in ihrer Ohnmachtssituation ihre Hoffnung bei Gott suchten und deshalb die ?geistlich Armen? genannt werden.6  Im Lukasevangelium sind die Armen ein Sammelbegriff für alle in irgendeiner Weise Benachteiligten.7

Jesus erklärt sich im Nazareth-Manifest also solidarisch mit den Armen und Unterdrückten. Er sah seine Aufgabe darin, sie zu befreien und ihnen Heil zu schenken. Nie verlor Jesus den einzelnen Menschen aus den Augen. Er schenkte seine besondere Aufmerksamkeit denen, die am Rande der Gesellschaft waren – seien es diskriminierte Frauen, sich selbst überlassene Kranke oder sonstige Randständige. Jesus ging zu diesen Menschen. Er scheute sich nicht, sie zu berühren. Er gab ihnen Würde. Er liebte sie.

Für die Randständigen hatte man damals einen passenden Begriff parat: Man nannte sie ?Sünder?. Die Sünder – das war die Prostituierten, die Zolleinnehmer, die Kranken etc. Wenn Jesus einen ?Sünder? sah, sah er in ihm ein verirrtes Kind Gottes. Jesus zog den Zorn des jüdischen Establishments auf sich, als er reuigen Sündern die Gnade Gottes zusprach, während er den ?Frommen? das Gericht ankündigte. Warum tat er das? Weil die Frommen durch ihren Stolz kränker geworden waren als die Sünder durch ihre Sünde!

Mit seinem solidarischen Handeln setzte Jesus Zeichen. Er kümmerte sich ganzheitlich um den Menschen. Leib und Seele waren ihm gleichermassen wichtig. Das lehrt uns, dass wir niemals einen Keil zwischen ein ?persönliches? und ein ?soziales? Evangelium treiben dürfen. Es gibt nur ein Evangelium, das von Jesus Christus.8

Durch sein ausserordentliches Leben hat Jesus vordemonstriert, was die Bibel mit dem Begriff der Nächstenliebe konkret meint: Nächstenliebe heisst solidarisch mit den Armen und Unterdrückten zu sein. Würde Jesus heute leben, würde er den Begriff der Nächstenliebe ausweiten. Jesus würde sich für die einsetzen, die im Namen des freien Marktes ausgebeutet werden. Von der Globalisierung profitieren hauptsächlich der reiche Norden und eine kleine Elite in der Zwei-Drittel-Welt. Der grösste Teil der Weltbevölkerung hat vom Globalisierungssegen noch nichts gespürt – im Gegenteil. Wir leben heute global. Wir essen Bananen aus Honduras, trinken Kaffee aus Brasilien und tragen Kleider aus China. Die Menschen, die diese Konsumgüter produzieren sind – obwohl sie tausende von Kilometern von uns entfernt sind – unsere Nächsten. Wir sind durch den Welthandel mit ihnen verbunden. Die Nächstenliebe gebietet es uns, uns auch für sie einzusetzen. Wer Christus folgen will muss heute globale Nächstenliebe leben.

3. Prophetie (Matthäus 21,12-13[^iii] )

In der Tempelreinigung zeigt sich noch einmal, dass die Gewalt durchaus eine Option war. Der mennonitische Theologe John H. Yoder schrieb in seinem bahnbrechenden Buch Die Politik Jesu folgendes dazu:

?Jesus hat nun den weiteren Verlauf der Ereignisse in seiner Hand. Es bräuchte nur einen Schritt mehr, diese Macht zu festigen, sich auf dem Gipfel der Massenbegeisterung tragen zu lassen… Der Staatsstreich ist zu zwei Dritteln gewonnen; es bliebe nur noch, das römische Fort nebenan zu stürmen. Doch es gehört zum Wesen der neuen Ordnung, dass sie, obwohl sie die alte verdammt und ablöst, dies nicht mit deren Waffen tut.? 9

In der Tempelreinigung, diesem Akt zivilen Ungehorsams, zeigt sich, dass Jesus die Linie der alttestamentlichen Propheten fortsetzte, die sich gegen Unrechtszustände zur Wehr gesetzt hatten. Die Tempelreinigung war nicht nur ein religiöser, sondern auch ein wirtschaftlicher und ein politischer Akt:

Er war religiös, weil es Jesus darum ging, dass Gottes Dinge heilig bleiben sollen. Es erschütterte ihn, dass der Tempel als Haus des Gebets zweckentfremdet wurde. Die Tempelreinigung war zudem ein wirtschaftlicher Akt. Der Tempel war nicht nur das religiöse, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum des Landes.10

Schliesslich war die Tempelreinigung auch ein politischer Akt. Durch seinen Angriff auf den ungezügelten Materialismus, der sich im Tempel breit gemacht hatte, traf Jesus den empfindlichsten Nerv der herrschenden Priesteraristokratie. Er griff sie frontal an und prangerte damit den Unrechtszustand an, für den sie verantwortlich waren.

In der ökumenischen11 und neuerdings auch in der evangelikalen12 Missionstheologie hat man aus den Handlungen der alttestamentlichen Propheten und der Tempelreinigung Jesu das ?prophetische Amt der Kirche? abgeleitet. Der Begriff besagt, dass die Kirche nicht nur das Evangelium zu verkünden hat, sondern auch die Pflicht hat, Unrechtszustände anzuprangern. Das prophetische Amt ist keine neue Erfindung. Martin Luther sah es als die Aufgabe eines Predigers, das Unrecht der Mächtigen zu kritisieren.13

Jesus hat also solidarisch und prophetisch gehandelt. Solidarität und Prophetie sind im Grunde genommen zwei Seiten der gleichen Sache. Die Solidarität mit den Ausgebeuteten nimmt bei Jesus unter anderem die Form der propethischen Anklage an, denn die Mächtigen sind mitschuldig am Elend der Armen. Jesus beschränkte sich also nicht auf diakonisches Handeln. Er setzte sich gegen die strukturellen Ursachen des Elends zur Wehr. Was ist das anders als eine politische Handlung?

4. Machtkritik (Matthäus 20,25[^iv] )

Dieser Satz fasst Jesu polit-ökonomische Analyse zusammen.14  Rom und seine Verbündeten missbrauchen ihre Macht, die Pax Romana ist nichts als Unterdrückung und Ausbeutung. Damit erweist sich Jesus als Prophet. Das alttestamentliche Prophetentum erlebte seinen Höhepunkt in der Zeit nach Salomo. Die Propheten erkannten klarer als andere die Kehrseite des salomonischen Wohlfahrtstaates. Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand unter Salomo veränderte die jüdische Gesellschaft. Als nach Salomos Tod das Reich geteilt wurde, kam zu einem sozialethischen Dammbruch. Die Kapitaleigner übernahmen das wirtschaftliche Diktat. Als Folge davon tat sich die Schere zwischen Arm und Reich auf. Dagegen traten die Propheten an. Getrieben vom Geist Gottes entwickelten sie eine machtkritische Sicht der Dinge und stellten sich im Namen Gottes auf die Seite der Armen und Unterdrückten.

Dieselbe machtkritische Sicht der Dinge finden wir bei Jesus. Jürgen Moltmann hat treffend gesagt: ?Jesus war Torheit für die Weisen und ein Ärgernis für die Frommen und ein Störenfried für die Mächtigen.?15  Jesus war machtkritisch, aber er war nicht gegen die staatliche Ordnung als solche. Das zeigt sich in seinem berühmten Wort: ?Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört? (Markus 12,17). Jesus gesteht in diesem Wort dem römischen Kaiser das Recht zu, Steuern zu erheben. Selbst wenn der römische Staat totalitäre Züge aufwies – es braucht die ordnende Staatsgewalt. Der Staat darf sich aber nicht absolut setzen. Mit der Aufforderung: ?Gebt Gott, was Gott gehört? verweigert Jesus dem Kaiser den Kult.

Sowohl die Propheten als auch Jesus entwickelten aus Liebe zu Gott und ihrer Nation eine machtkritische Sicht. Daraus können wir für heute lernen: Wir müssen den Status quo kritisch hinterfragen. Wir brauchen eine kritische Distanz zu unserem eigenen Kontext. Dann sind wir am besten in der Lage, unserer Nation zu dienen.

5. Dienst (Matthäus 20,26-28[^v] )

In diesem Wort stellt Jesus die Alternative zur Macht vor. Die Alternative zur Macht ist der Dienst. Wir hatten gesehen, dass Jesus beschränkte politische Möglichkeiten hatte, um etwas zu verändern. Die einzige ?politische Weg? war die Schaffung einer Alternativgemeinschaft. Deshalb rief Jesus nicht nur einzelne Menschen in seine Nachfolge, er kündigte nicht nur die Gottesherrschaft an, sondern er begann auch das Volk zu sammen, das zu dieser Herrschaft gehört.16  Jesus wollte, dass die Werte, die er lebte und lehrte, in der Gemeinschaft seiner Nachfolger konkrete Gestalt gewinnen. Wenn einzelne sich von Gott verändern lassen und diese Veränderung gemeinschaftlich ausleben – dann hat die Welt sich zu verändern begonnen.

Nun wird klarer, wie Jesus auf die Unglückssituation seines Volkes reagierte: Es ging ihm um eine neue geistliche und gesellschaftliche Verfassung. Jesus wählte dazu weder den Weg der Revolution, noch der Verweigerung. Er passte sich weder dem herrschenden System an, noch entwarf er ein politisches Programm. Jesu Strategie bestand – um es mit Ulrich Duchrow zu sagen – im Aufbau einer Alternativgemeinschaft als Kontrast zum herrschenden System. Jesus begann die Verhältnisse zu verändern, in dem er Menschen zu einer erneuerten Gottesbeziehung rief und indem er sie anwies, ihm zu folgen und wie er radikal zu handeln. Das ist weltverändernd. Streng genommen ist das kein politisches Programm. Aber es hat mit voller Absicht politische Auswirkungen.

Niemand anders als Jesus selbst dient als Vorbild für diese weltverändernde Alternative. Jesus erklärte seinen Jüngern, dass er gekommen sei, um sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben (Vers 28). Die radikale Liebe Jesu ging bis zum äussersten. Jesus ging bis ans Kreuz. Er starb den schändlichsten Tod. Er, der Sohn Gottes, der ohne Sünde war, starb als jüdischer Aufrührer an einem römischen Verbrecherpfahl. Jesus stellte sich nicht mit Gewalt gegen die Ungerechtigkeit, sondern überwand sie durch Liebe, Dienst und Vergebung. Sein Leben bedeutete den Beginn einer neuen Art von Menschsein. Mit seinem Leben und Sterben wies Jesus den Weg, wie Hass mit Liebe, Macht mit Dienst und Unversöhnlichkeit mit Vergebung überwunden werden kann.

III. ABGELEITETE GRUNDSÄTZE FÜR KIRCHE, GESELLSCHAFT UND POLITIK HEUTE

Im abschliessenden Teil möchte ich vom Leben Jesu einige Grundsätze für Kirche, Gesellschaft und Politik ableiten. Ich möchte das tun, indem ich frage, welches im Licht der Taten Christi unsere Aufgabe in unserer Situation ist.

1. Die Gute Nachricht verkündigen

Die erste und wichtigste Aufgabe, die Christen haben, ist die Verkündigung der guten Nachricht von der Gnade Gottes in Jesus Christus.

Zu dieser Verkündigung gehört:

·        dass der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist und darum eine ihm angeborene Würde und das Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit hat;

·        dass der Mensch ein gefallenes Geschöpf ist, in der Schuld Gottes steht und die Versöhnung mit dem Schöpfer durch Jesus Christus braucht;

·        dass Christus für unsere Sünden gestorben und auferstanden ist und durch Umkehr und Glaube zu seiner Nachfolge aufgefordert wird;

·        dass Christen ihre Stimme in der Gesellschaft erheben. Wir dürfen nicht schweigen zu den Fragen der Abtreibung und Homosexualität, aber ebenso wenig zum ungezügelten Materialismus, zum dreisten Marktliberalismus und zum ungerechten Welthandel;

·        dass Gott diese Welt immer noch liebt und eines zukünftigen Tages den ganzen Kosmos erneuern wird.

Ein Evangelium, welches auch nur eine dieser grundlegenden Wahrheiten verschweigt ist ein verkürztes Evangelium.

2. Das Heil verkörpern

Die zweite Aufgabe, die der ersten unbedingt folgen muss, besteht darin, dass die Kirche das Heil, das sie verkündigt auch verkörpern muss.

Wenn das Leben der Kirche keine relevante Alternative zum Status quo ist, verdient sie es, nicht gehört zu werden. Die Kirche ist wichtig. Es braucht mehr als einzelne Menschen, die Christus nachfolgen. Das Evangelium erweist sich nur durch das Ausleben in Gemeinschaft als glaubwürdig und weltverändernd. Die Bestimmung der Kirche ist es, eine sichtbare Demonstration des Heiles Gottes zu sein. Am wichtigsten ist die Liebe untereinander. Die Kirche sollte eine Alternative sein. Das Leben ihrer Mitglieder sollte eine glaubwürdige Möglichkeit darstellen, ein Leben in Liebe, Solidarität und Gerechtigkeit zu leben. Das fängt im Alltag an. Jesus gebietet denen, die ihm nachfolgen, wie er radikal zu lieben. In einer Welt voller zerbrochener Beziehungen stellt die Liebe, die Christen untereinander haben ein unübersehbares Zeichen dar.

3. Christus zum Herr in allen Lebensbereichen machen

Die dritte Aufgabe besteht darin, der ganzen Welt das ganze Evangelium zu bringen mit dem Ziel, dass Christus Herr in allen Lebensbereichen wird.

Im Rückblick auf sein Lebenswerk schrieb Francis Schaeffer, was ihn während all den Jahren antrieb:

?Wenn Christus wirklich der Herr ist, dann muss er Herr in allen Lebensbereichen sein – in geistlichen Angelegenheiten… aber in genau demselben Masse auch im gesamten Spektrum des Lebens, einschliesslich der intellektuellen Fragen und den Gebieten der Kultur, der Gesetzgebung und der staatlichen Gewalt.?17

Was bedeutet es, dass Christus in allen Lebensbereichen Herr wird?

·        Im religiösen Bereich bedeutet es, dass der Ruf zur Umkehr nicht verstummen darf. Gott bietet allen Menschen eine ungetrübte Beziehung zu ihm an, doch bedingt diese den Glauben an Jesus Christus und die Anerkennung seiner Herrschaft. Das wird nicht von allen gern gehört. Trotzdem dürfen wir nicht schweigen. Es geht nicht nur um die Lehre, sondern um die Person des auferstandenen Christus. Was nützt uns die Bergpredigt ohne den Bergprediger?

·        Im gesellschaftlichen Bereich bedeutet es, dass der Kampf gegen ungerechte Strukturen fortgesetzt werden muss. Das Böse zeigt sich nicht nur in individuellen Vergehen, es kann sich auch in schlechten Institutionen und falschen Gesetzen einnisten; diese müssen bekämpft und verbessert werden. Die Demokratie bietet hier Einflussmöglichkeiten, die es früher so nicht gab.

·        Im wirtschaftlichen Bereich bedeutet es die Befreiung von wirtschaftlicher Ausbeutung. Das Ziel muss sein, eine gerechte Wirtschaftsordnung zu entwickeln, in der die Maxime der Gewinnanhäufung gebrochen und als unmenschlich gebrandmarkt wird.

·        Im kulturellen Bereich bedeutet es, die Kreativität, die der Schöpfer in den Menschen gelegt hat freudig zu nutzen, dies jedoch innerhalb der Grenzen seiner moralischen Weisungen zu tun.

·        Im ökologischen Bereich bedeutet es, sich aktiv für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen und damit auf Gott, den Schöpfer hinzuweisen.

Die radikale Liebe Christi ist auf die sozialethischen Herausforderungen unserer Zeit anwendbar. Durch sein Leben und seine Tat am Kreuz hat Jesus den Massstab für unser Denken und Handeln gesetzt. Im Leben und Sterben Christi zeigt sich die Liebe Gottes so vollkommen, dass hier der Ausgangspunkt für all unser Tun sein muss. Wenn wir uns an Jesus Christus orientieren ist der Brückenschlag möglich, den wir heute so nötig haben. Die Politik wird durch geistliche Werte belebt werden – Werte, die uns die moralische Kraft geben das Gemeinwohl zum Fokus der Politik zu machen. Wir werden viel Zeit brauchen und unsere besten Fähigkeiten aufbieten müssen, um die Implikationen des Evangeliums auf unsere Zeit anzuwenden. Der Weg ist lang, aber er lohnt sich.

LITERATUR

Beyerhaus, Peter. 1996. Er sandte sein Wort: Theologie der christlichen Mission. Band 1. Die Bibel in der Mission. Wuppertal und Bad Liebenzell: Brockhaus und Verlag der Liebenzeller Mission.

Costas, Orlando E. 1989. Liberating News. A Theology of Contextual Evangelization. Grand Rapids: Eerdmans.

Cullmann, Oscar. 1961. Der Staat im Neuen Testament. Tübingen: Mohr (2., veränd. Aufl. Angaben unvollständig)

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Schaeffer, Francis. 1988. Die grosse Anpassung. Der Zeitgeist und die Evangelikalen. Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung.

Sider, Ronald J. 1995. Denn sie tun nicht, was sie wissen. Die schwierige Kunst kein halber Christ zu sein. Moers: Brendow. Sider, Ronald J. 1997c. Rich Christians in an Age of Hunger. Moving from Affluence to Generosity. 4., überarb. Aufl. Dallas: Word.

Steuernagel, Valdir. 1990. ?Die brennenden Fragen der Welt?, in Evangelisation mit Leidenschaft. Berichte und Impulse vom II. Lausanner Kongress für Weltevangelisation in Manila, hrsg. von Horst Marquardt und Ulrich Parzany. Neukirchen-Vluyn: Aussat. S. 149-151.

Wallis, Jim. 1995. Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München: Claudius.

Yoder, John Howard. 1981. Die Politik Jesu – der Weg des Kreuzes. Maxdorf: Agape.



[^i]: ?Von der Zeit an fing Jesus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin gen Jerusalem gehen und viel leiden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Und Petrus nahm ihn zu sich, fuhr ihn an und sprach: HERR, schone dein selbst; das widerfahre dir nur nicht! Aber er wandte sich um und sprach zu Petrus: Hebe dich, Satan, von mir! du bist mir ärgerlich; denn du meinst nicht was göttlich, sondern was menschlich ist.?

[^ii]: ?Und er kam gen Nazareth, da er erzogen war, und ging in die Schule nach seiner Gewohnheit am Sabbattage und stand auf und wollte lesen. Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und da er das Buch auftat, fand er den Ort, da geschrieben steht: „Der Geist des HERRN ist bei mir, darum, daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollten, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des HERRN.“?

[^iii]: ?Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: „Mein Haus soll ein Bethaus heißen“; ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht.?

[^iv]: ?Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herrschen und die Obersten haben Gewalt.?

[^v]: ?So soll es nicht sein unter euch. Sondern, so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener; und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht, gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.?



1. Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, 167.

2. Wallis, Die Seele der Politik, 22.

3. Wallis, Die Seele der Politik, 22.

4. Sider, Denn sie tun nicht, was sie wissen, 166.

5. Vgl. Cullmann, Der Staat im Neuen Testament, 9-34.

6. Sider, Rich Christians in an Age of Hunger, 41; Kirk, What is Mission?, 48; Wenk, Community-Forming Power, 211-217.

7. Houston in Evangelisation mit Leidenschaft, 109-112.

8. Kuzmic in Evangelisation mit Leidenschaft, 74.

9. Yoder, Die Politik Jesu – der Weg des Kreuzes, 48.

10. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 16; 59.

11. Beyerhaus, Er sandte sein Wort, Bd. 1, 225-234.

12. Costas, Liberating News, 63; Steuernagel in Evangelisation mit Leidenschaft, 150-152.

13. Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft, 206.

14. Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft, 177.

15.  Moltmann, Der gekreuzigte Gott, 29.

16. Kittel, Der Name II, 186-187.

17. Schaeffer, Die grosse Anpassung, 189-191.

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In der Bibel ist oft von „Sünden“ die Rede. Nicht, um uns Probleme und Prüfungen zu bereiten, sondern um auf Fallstricke hinzuweisen. Gott möchte uns zu davor bewahren, zu sündigen, damit unsere wertvolle Beziehung zu Ihm nicht leidet und damit wir uns selber und unseren Mitmenschen keinen Schaden zufügen. Der Irakkrieg hat unseres Erachtens seine Wurzel in einer Kombination von Sünden.

Geldgier

1. Timotheus 6.10 sagt, „….eine Wurzel allen Übels ist die Geldliebe, (…)“. Der Griff nach dem Öl ist für die Bush-Administration eine wichtige Treibfeder: Bush selber kommt aus einer Ölfamilie, Vize Cheney war Chef der grössten Ölbohr-Ausrüsterfirma der Welt (Halliburton), und Bush selber verdankt seine Wahl unter anderem Exxon, die für die republikanischen Kandidaten im Wahlkampf 2000 riesige Summen locker gemacht hat. Im Mai 2001, nach der US-Energiekrise, erklärte Cheney „den verbesserten Zugang zu den Ölreserven im persischen Golf“ zu einer Priorität der nationalen Energiesicherheit. Die Öffnung der irakischen Energiereserven könnte laut dem ehemaligen Saudi-Arabischen Energieminister Jamani die Halbierung des heutigen Ölpreises bedeuten. Ein Segen für ein Land, das 2,5 Mal so viel Öl pro Kopf verbraucht wie die anderen Industrieländer, aber gleichwohl keine Lust hat, an diesem Überkonsum etwas zu ändern…

Auch Medienmagnaten wie Rupert Murdoch haben ein riesiges Interesse am Krieg, der die Einschaltquoten und damit die Gewinne explodieren lässt. Die amerikanische Öffentlichkeit wird deshalb von den Medien zum Krieg getrieben. Und schliesslich hat die Waffenindustrie (die USA haben einen Anteil von 40 % aller Rüstungsbudgets der Welt) ein Interesse am Krieg.

Selbstgerechtigkeit

Daneben treibt aber noch andere prominente Sünde zum Krieg: die Selbstgerechtigkeit. „Was aber siehst Du den Splitter, der in Deines Bruders Auge ist, den Balken aber, der in Deinem eigenen Auge ist, nimmst Du nicht wahr?“(Lukas 6.41) Je mehr wir das Gefühl haben, wir seien gut, desto mehr entfernen wir uns von Gott. Denn dann lassen wir unsere Handlungen nicht mehr durch Gott in Frage stellen und die Weisheit des Heiligen Geistes versiegt. Die Pharisäer haben dieses Schicksal erlitten und wurden von Jesus entsprechend beurteilt.

„Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden“ (Lukas 14.11). Die Selbsterhöhung und Selbstgerechtigkeit hat leider in einigen Kreisen des evangelikalen Christentums z.T. ein Mass angenommen, das immer mehr negative Auswirkungen auf die ganze Welt hat. Es geht hier nicht darum, uns Christen schlechter zu machen als Andere, aber es scheint uns wichtig, auf die Gefahr der Selbstgerechtigkeit hinzuweisen, bevor es zu spät ist. Ohne Umkehr in diesem Bereich riskieren wir, in den Augen der Nichtchristen unglaubwürdig zu werden oder gar die Welt in den Abgrund stürzen. Der Irakkrieg ist dabei ein Schritt näher zum Abgrund.

Nationalismus

George Bush, wiedergeborener Christ, hat den „monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse“ ausgerufen und wird dabei von grossen Teilen der evangelikalen Kirchen der USA unterstützt. Wer dabei die Guten sind (und das wird im absoluten Sinne verstanden), das ist von vornherein klar: der Westen, insbesondere die USA, „God’s country“, wie manche zu sagen pflegen. Der „Sendungswahn“ der amerikanischen Regierung hat dabei beängstigende Ausmasse angenommen. Hier hat sich in verhängnisvoller Weise Nationalismus mit Religion vermischt und eine nationale Selbstverherrlichung entstehen lassen. Deshalb glaubt sie auch auf niemanden mehr Rücksicht nehmen zu müssen. Demokratische Unterordnung unter multilaterale Kompromisse im internationalen Rahmen wird mehr und mehr ein Fremdwort. Dies wurde in den letzten zehn Jahren klar, als die USA kaum mehr internationale Übereinkommen unterzeichneten, die ihre Interessen tangierten. Im Falle des Iraks war die UNO nur so lange das Verhandlungsgremium, bis klar wurde, dass die UNO den Willen der USA nicht mittragen würden. Die Kriegsgegner wie Deutschland und Frankreich bekamen denn auch die Aggression der USA mit Drohungen, Vertragsauflösungen und Verhöhnungen zu spüren. Diejenigen, die nicht tun, was die USA will, werden bestraft. Ist dies die Freiheit, von der sie reden?

Die treibenden Kräfte des Irak-Feldzuges (Rumsfeld, Wolfowitz, Cheney, aber auch Georges Bush’s Bruder Jeb und der ehemalige Vize Quayle) sind übrigens allesamt Mitunterzeichner der Charta des amerikanischen Thrink Tank „The Project for a New American Century“. Ziel dieses Projektes ist dieamerikanische Weltvorherrschaft („American world leadership“) und dass Amerika globale Verantwortung für Frieden und Sicherheit ausübt durch

  • starke militärische Kräfte (deutliche Erhöhung der Armee-Ausgaben)
  • Stärkung der Verbindung zu demokratischen Allierten und Herausforderung von feindlichenRegime im Sinne unserer Interessen und Werte
  • Förderung von politischer und ökonomischer Freiheit im Ausland
  • Akzeptanz von Amerikas einzigartiger Verantwortung im Erhalten und Ausbauen einer internationalen Ordnung, die freundschaftlich gesinnt ist, gegenüber unserer Sicherheit, unserem Wohlstand und unseren Prinzipien. Alles öffentlich nachzulesen unter www.newamericancentury.org

Im „Kreuzzug gegen das Böse“ wird denn auch schön nach dem Schema des Gleichnisses des „Balkens im eigenen Auge“ und der Selbstgerechtigkeit vorgegangen. Schon in der Interpretation des Attentats vom 11. September wurde kaum die Frage gestellt, mit welchen Anteil der Westen mit seinem Verhalten in den arabischen Ländern zum Terrorismus beigetragen hat. (LINK?). Warum hat es genau in den letzten 20 Jahren einen solchen Aufschwung des Fundamentalismus in den arabischen Ländern gegeben? Die Frage nach der eigenen Schuld wurde nie gestellt. Im Gegenteil, wir bleiben die absolut Guten. Im monumentalen Kampf gegen das Böse wird das Böse „irgendwo da draussen“ geortet statt in uns selber. Die meisten Diktaturen, die die USA im nahen Osten bekämpfen, sind zu Beginn von den USA selber gezüchtet oder unterstützt worden sind, um eigene Interessen durchzusetzen. Selbstgerechtigkeit und Unfähigkeit zur Erkenntnis der eigenen Schuld am Aufkommen von Terror verhindert also eine echte Lösung. In der Folge wird der Irak-Krieg die Spirale der Gewalt weiter antreiben: die Schmach der (zu erwartenden) Niederlage der „arabischen“ Seite und der Stachel der amerikanischen Okkupation sowie der Hass der Bevölkerungen auf die arabischen Herrscher, die mit den USA mitgezogen haben, wird dem islamischen Fundamentalismus massiven Aufschwung bescheren und mittelfristig Umstürze provozieren. Hoffen wir, dass es nicht die Atommacht Pakistan betrifft. Mit dem Irakkrieg wird der Terror nicht vermindert werden, wie Bush glauben machen will, sondern sich verstärken. Damit wird dann die Antiterror-Offensive des Westens seine Rechtfertigung finden…

Endzeitangst

Im Winter 02/03 glauben laut einer amerikanischen Umfrage 72 % der amerikanischen wiedergeborenen Christen, dass „wir derzeit die Anfänge jenes Krieges sehen, der zumAntichristen und zu Armageddon führt.“ Vielleicht wird das Verhalten des Westens selber diese Aussagen zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden lassen…. In den letzten zehn Jahren hat im Westen die Auslegung der biblischen Endzeitprophetien einen wahren Boom erleben lassen. Erinnern wir uns auch an die Endzeitromane von Tim La Haye, von denen bereits 50 Millionen Exemplare verkauft worden sind. Dieses Endzeit-Fieber hat die Angst unter den Christen geschürt und lässt bei einer vermeintlichen Bedrohung überreagieren, auch was die Angst um Israel betrifft. Selbsterfüllende Prophezeiung… In seinem alttestamentlichen Sendungswahn hat Bush folglich das Gefühl, die USA müsse Israel vor dem Irak (geographisch am Ort des alten Babylon) retten. Es ist möglich, dass Bush tatsächlich aus Angst um Israel zum Krieg bläst. Seine Berater haben ihm, aus anderen Gründen, wie wir gesehen haben, erfolgreich den Angst-Floh ins Ohr gesetzt… Durch einen westlichen Angriff wird aber vor allem der arabische Hass auf Israel geschürt. Statt Israel zu schützen wird es nur noch mehr in Gefahr gebracht. Einziger Ausweg wird dann die amerikanische Okkupation der gesamten arabischen Welt sein. Die Spirale dreht sich weiter…

In den amerikanischen Reden zum Krieg wird immer wieder betont, es sei eine Pflicht vor Gott, die guten westlichen Werte Freiheit und Demokratie zu verbreiten. Dabei haben dieselben Kreise nicht gemerkt, dass diese Werte z.T. längst durch den Mammon korrumpiert sind:

  • „Freiheit“: Mit der immer grösseren sozialen Ungleichheit und dem immer stärkeren Ausschluss der Mittellosen von Lebens-Grundbedingungen wie Gesundheit und Bildung wird die Freiheit für die Unterschichten immer mehr zur Farce. Nur die Starken haben die Mittel (Geld und Bildung), diese Freiheit auszunutzen. Und diese verschaffen sich mit Liberalisierungen und Privatisierungen auf Kosten der Schwachen auch immer mehr Freiheiten. Parallel wird die Ideologie „Wer will, der kann“ gefördert…
  • „Demokratie“: In den USA sind heute nur noch Reiche oder von der Wirtschaft unterstützte Personen wählbar, die anderen haben in der teuren Wahlwerbeschlacht keine Chance mehr. Im Wahljahr 2000 wurden laut Cash ca. 500 Millionen Dollar für den Wahlkampf aufgewendet, im Wahljahr 2002 bereits eine Milliarde Dollar, zwei Drittel davon als Wahlspenden der Wirtschaft an die Republikaner… Die Meinungsbildung ist ebenfalls durch die Abhängigkeit der Medien von der Wirtschaft massiv verzerrt.

Wie wird es unter diesen Umständen weitergehen? Wir wagen zu behaupten, dass nach dem voraussichtlich raschen amerikanischen Sieg sich die Hybris (in geopolitischen, aber auch in wirtschftlichen Bereichen) noch verstärken wird und sich die Arroganz der Macht weiter entfaltet. Der Irakkrieg wird nicht der letzte Angriffskrieg sein, vor allem, weil wie erwähnt wohl der Terrorismus durch diesen Krieg geschürt wird. Die amerikanische Bevölkerung wird weiter dem „starken Mann“ folgen. Wie werden die anderen Länder reagieren? In einer ersten Zeit werden sich viele, von der Macht beeindruckt, bei den USA anbiedern. Deren Macht wird dann noch mehr zunehmen. Viel wird aber davon abhängen, wer die Medien kontrollieren wird. Je mehr sich die Arroganz der Macht entfaltet, desto mehr werden aber auch Widerstände entstehen. Hoffen wir, dass diese Widerstände nicht in der Gewalt enden, sondern friedlich ausgetragen werden!

Warnung vor Sünde ist also nicht Moralismus, sondern die Sorge um die Folgen der Sünde und um die Liebe, die als erste Schaden nimmt. Lasst uns für George W. Bush und seine Regierung beten. Und möge uns Gott davor bewahren, Kreuzzüge im Namen Gottes auszufechten. Denn wir sind dazu berufen, Gottes Liebe in dieser Welt konkret sichtbar werden zu lassen.


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